Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sagenbildung und Sagenentwicklung Teil davon ist, der von den Oströmern nicht wieder erobert wurde. Dem Im einzelnen hat man sich die Art dieser Bewahrung hier wie überall Nun stelle man sich vor, es biete sich einem solchen Manne Gelegenheit, Zu dieser zunächst unbewußten Umdichtung tritt nun aber bald die bewußte: Sagenbildung und Sagenentwicklung Teil davon ist, der von den Oströmern nicht wieder erobert wurde. Dem Im einzelnen hat man sich die Art dieser Bewahrung hier wie überall Nun stelle man sich vor, es biete sich einem solchen Manne Gelegenheit, Zu dieser zunächst unbewußten Umdichtung tritt nun aber bald die bewußte: <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227046"/> <fw type="header" place="top"> Sagenbildung und Sagenentwicklung</fw><lb/> <p xml:id="ID_444" prev="#ID_443"> Teil davon ist, der von den Oströmern nicht wieder erobert wurde. Dem<lb/> Blute und besonders auch der Sprache nach brauchen seine Bewohner darum<lb/> keine Goten zu sein; es genügt, wenn sie eine Erinnerung an ihre politische<lb/> Zugehörigkeit zu den Goten bewahrt haben. Das aber haben die Vaiern<lb/> zweifellos gethan: noch eine späte Glosse erklärt den Namen Amelunge. den<lb/> in der Geschichte das Königshaus, in der Sage das ganze Volk der Ostgoten<lb/> führt, durch: Baiern. So sind es denn wohl die Baiern gewesen, die uns<lb/> den Schatz der gotischen Sagen bewahrt haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_445"> Im einzelnen hat man sich die Art dieser Bewahrung hier wie überall<lb/> in folgender Weise vorzustellen: der Ursprung unsrer Sagen reicht in eine Zeit<lb/> hinauf, wo die germanischen Stamme noch gänzlich oder wesentlich ohne Schrift<lb/> waren; es gab nur eine einzige Möglichkeit, geschichtliche Berichte der Mit-<lb/> und Nachwelt zu übermitteln: die gebundne Rede, die durch ihre äußere Form<lb/> dem Gedächtnis ein Hilfsmittel zum Festhalten bot. Das Wort des Tacitus<lb/> von den alten Liedern der Germanen, die bei ihnen die einzige Art von Ge¬<lb/> schichtsüberlieferung seien ^v.c>ä unum. axucl ille>8 liKZinorias et xmng,1iuin Zsrw8<lb/> est), galt zur Zeit der Ostgoten noch in vollem Umfange. Die gebundne Rede<lb/> muß in schriftlosen Zeiten die Aufgaben, die jetzt durch Schrift und Druck<lb/> gelöst werden, mit übernehmen. Derartige Zustände bringen es aber mit sich,<lb/> daß sich ein Stand berufsmäßiger Dichter entwickelt, der denn auch bei den<lb/> germanischen Stämmen genügend bezeugt ist und sich bis in die spätesten Zeiten<lb/> erhalten hat, je nach den Schwankungen der gesellschaftlichen Verhältnisse höher<lb/> oder tiefer geschätzt, aber erst seit der Entwicklung einer Litteratur endgiltig<lb/> gesunken.</p><lb/> <p xml:id="ID_446"> Nun stelle man sich vor, es biete sich einem solchen Manne Gelegenheit,<lb/> Zeitereignisse, die er, selbst falls er Augenzeuge ist, unmöglich bis ins kleinste<lb/> übersehen kann, in gebundne Rede zu bringen. Die Form allein zwingt ihn<lb/> dazu, seine Darstellung nach Möglichkeit abzurunden. Nun wird er aber in<lb/> den meisten Fällen wohl die großen Thatsachen kennen, doch nicht ihre innern<lb/> Ursachen. Aber gerade diese muß er versuchen zu finden, denn sonst wäre<lb/> wohl die Frage: warum? die erste, die seine Zuhörer an ihn richten würden.<lb/> So muß er denn begründen und thut es auch. Ob er dabei das richtige trifft<lb/> oder nicht, ist für ihn und sein Publikum nebensächlich, daß er aber das<lb/> richtige, je ferner er den Ereignissen steht, um so seltner trifft, das ist die<lb/> Hauptursache dafür, daß sich die Geschichte in Sage verwandelt.</p><lb/> <p xml:id="ID_447" next="#ID_448"> Zu dieser zunächst unbewußten Umdichtung tritt nun aber bald die bewußte:<lb/> die ursprünglich als Wiedergabe der Geschichte gedachte Überlieferung ist nach<lb/> einiger Zeit nur uoch ein besonders beliebter Unterhaltungsstoff, der die Ein¬<lb/> führung ursprünglich fremder Züge verträgt, ja dadurch gewinnt. Die An¬<lb/> knüpfung solcher Züge an beliebte Personen der Sage ist etwas sehr häufiges.<lb/> Das älteste Beispiel in der Amclungensage ist die Anknüpfung der auch ander-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0144]
Sagenbildung und Sagenentwicklung
Teil davon ist, der von den Oströmern nicht wieder erobert wurde. Dem
Blute und besonders auch der Sprache nach brauchen seine Bewohner darum
keine Goten zu sein; es genügt, wenn sie eine Erinnerung an ihre politische
Zugehörigkeit zu den Goten bewahrt haben. Das aber haben die Vaiern
zweifellos gethan: noch eine späte Glosse erklärt den Namen Amelunge. den
in der Geschichte das Königshaus, in der Sage das ganze Volk der Ostgoten
führt, durch: Baiern. So sind es denn wohl die Baiern gewesen, die uns
den Schatz der gotischen Sagen bewahrt haben.
Im einzelnen hat man sich die Art dieser Bewahrung hier wie überall
in folgender Weise vorzustellen: der Ursprung unsrer Sagen reicht in eine Zeit
hinauf, wo die germanischen Stamme noch gänzlich oder wesentlich ohne Schrift
waren; es gab nur eine einzige Möglichkeit, geschichtliche Berichte der Mit-
und Nachwelt zu übermitteln: die gebundne Rede, die durch ihre äußere Form
dem Gedächtnis ein Hilfsmittel zum Festhalten bot. Das Wort des Tacitus
von den alten Liedern der Germanen, die bei ihnen die einzige Art von Ge¬
schichtsüberlieferung seien ^v.c>ä unum. axucl ille>8 liKZinorias et xmng,1iuin Zsrw8
est), galt zur Zeit der Ostgoten noch in vollem Umfange. Die gebundne Rede
muß in schriftlosen Zeiten die Aufgaben, die jetzt durch Schrift und Druck
gelöst werden, mit übernehmen. Derartige Zustände bringen es aber mit sich,
daß sich ein Stand berufsmäßiger Dichter entwickelt, der denn auch bei den
germanischen Stämmen genügend bezeugt ist und sich bis in die spätesten Zeiten
erhalten hat, je nach den Schwankungen der gesellschaftlichen Verhältnisse höher
oder tiefer geschätzt, aber erst seit der Entwicklung einer Litteratur endgiltig
gesunken.
Nun stelle man sich vor, es biete sich einem solchen Manne Gelegenheit,
Zeitereignisse, die er, selbst falls er Augenzeuge ist, unmöglich bis ins kleinste
übersehen kann, in gebundne Rede zu bringen. Die Form allein zwingt ihn
dazu, seine Darstellung nach Möglichkeit abzurunden. Nun wird er aber in
den meisten Fällen wohl die großen Thatsachen kennen, doch nicht ihre innern
Ursachen. Aber gerade diese muß er versuchen zu finden, denn sonst wäre
wohl die Frage: warum? die erste, die seine Zuhörer an ihn richten würden.
So muß er denn begründen und thut es auch. Ob er dabei das richtige trifft
oder nicht, ist für ihn und sein Publikum nebensächlich, daß er aber das
richtige, je ferner er den Ereignissen steht, um so seltner trifft, das ist die
Hauptursache dafür, daß sich die Geschichte in Sage verwandelt.
Zu dieser zunächst unbewußten Umdichtung tritt nun aber bald die bewußte:
die ursprünglich als Wiedergabe der Geschichte gedachte Überlieferung ist nach
einiger Zeit nur uoch ein besonders beliebter Unterhaltungsstoff, der die Ein¬
führung ursprünglich fremder Züge verträgt, ja dadurch gewinnt. Die An¬
knüpfung solcher Züge an beliebte Personen der Sage ist etwas sehr häufiges.
Das älteste Beispiel in der Amclungensage ist die Anknüpfung der auch ander-
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