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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Reichsländische Zeitfragen

die Doppelseite des Seelenlebens, die deutsche und die französische, die in be¬
ständigem Mißklang die Aufrichtigkeit und dadurch die Grundlage des Cha¬
rakters zerstören. Gewiß trifft davon ein Stück den Einzelnen unverschuldet,
und er darf diesen Teil der Schuld auf die Umgebung abwälzen, worin er
aufwächst, aber daraus folgt doch nur, daß die Zwitterumgebung je eher je
besser zu beseitigen ist, und es ist doch nicht ihr französisches Gesicht, das wir
zu schonen haben.

Ist das Ausgeführte richtig, und niemand kann es bestreiten, der unser
Land kennt, so ist die Kapitulation der Regierung dem Nativismus gegenüber
für eine gedeihliche Zukunft gerade unerträglich, und entschlossene Umkehr not¬
wendig. Wir haben einundzwanzig Kreisdirektoren. Wenn sie alle wie Herr
Preiß denken dürfen, so können wir ebenso gut Elsaß-Lothringen den Fran¬
zosen zurückgeben. Aber auch dann sind diese die Herren im Lande, wenn die
Kreisdirektoren mir partikularistisch gesinnt sind, denn bei uns ist der Parti¬
kularismus gegen das Frcinzosentum ohnmächtig und davon durchsetzt. Bei
den andern Beamtenklassen sind ja die Folgen nicht ganz so schreiend, aber
ebenfalls der schlimmsten Art. weil auf allen Gebieten der Staatsthütigkeit das
Berufsbeamtentum der Träger des regelmäßigen Lebens ist, der Teil, der das,
was oben beschlossen wird, ausführt und ihm erst dadurch Fleisch und Blut
giebt, der auch den leitenden Willen sehr stark beeinflußt. Man kann das
Berufsbeamtentnm subalternisiren, dem Rang und dem Wesen nach, z. B. da¬
durch, daß man die vielgepriesene Selbstverwaltung noch mehr ausdehnt, aber
"kaltstellen" kann man es nicht, denn, um bei demselben Fall zu bleiben, dann
macht der Generalsekretär die Arbeit des Chefs und giebt ihm deshalb in neun
von zehn Fällen auch die Lenkung; auch der Bürcaukratismus wird dadurch
nicht beseitigt, sondern nur um eine neue schlimmere und fast unangreifbare
Form bereichert. Ist der Teil des Staats, den die Berufsbeamten vorstellen,
ungesund, so ist das Ganze in Gefahr, und, es ist nicht anders, unser ein¬
heimischer Veamtennachwuchs ist im deutscheu Sinne krank, bis ins Mark.

Auch bei der Ämterbesetzung ist für unsre Landesregierung Umkehr nur
so möglich, daß sie zugleich zum Angriff übergeht. Unsre jungen Juristen,
die aus dem Lande stammen, haben jetzt ein Jahr ihres Referendaricits in
Preußen zu verbringen. Das ist die Handhabe, die zu ergreifen ist, aber so,
daß längere Zeit gefordert wird, und womöglich von allen Beamtcntlassen,
mit Einschluß der sogenannten höhern Subalternen, daß auch die Wahl des
Lehrorts nicht freigestellt, sondern geleitet wird, unter Bevorzugung Mittel-
nnd Ostdeutschlands und ländlicher Örtlichkeiten oder wenigstens kleinerer
Städte. In den großen Städten würden sich die jungen Leute aus unserm
Lande immer wieder zusammenfinden und absondern, gegen ihre altdeutschen
Genossen sowohl als gegen den Lebensgehalt, mit dem sie bekannt und ver¬
traut werden sollen, und der deutsche Westen ist ja nicht weniger patriotisch


Reichsländische Zeitfragen

die Doppelseite des Seelenlebens, die deutsche und die französische, die in be¬
ständigem Mißklang die Aufrichtigkeit und dadurch die Grundlage des Cha¬
rakters zerstören. Gewiß trifft davon ein Stück den Einzelnen unverschuldet,
und er darf diesen Teil der Schuld auf die Umgebung abwälzen, worin er
aufwächst, aber daraus folgt doch nur, daß die Zwitterumgebung je eher je
besser zu beseitigen ist, und es ist doch nicht ihr französisches Gesicht, das wir
zu schonen haben.

Ist das Ausgeführte richtig, und niemand kann es bestreiten, der unser
Land kennt, so ist die Kapitulation der Regierung dem Nativismus gegenüber
für eine gedeihliche Zukunft gerade unerträglich, und entschlossene Umkehr not¬
wendig. Wir haben einundzwanzig Kreisdirektoren. Wenn sie alle wie Herr
Preiß denken dürfen, so können wir ebenso gut Elsaß-Lothringen den Fran¬
zosen zurückgeben. Aber auch dann sind diese die Herren im Lande, wenn die
Kreisdirektoren mir partikularistisch gesinnt sind, denn bei uns ist der Parti¬
kularismus gegen das Frcinzosentum ohnmächtig und davon durchsetzt. Bei
den andern Beamtenklassen sind ja die Folgen nicht ganz so schreiend, aber
ebenfalls der schlimmsten Art. weil auf allen Gebieten der Staatsthütigkeit das
Berufsbeamtentum der Träger des regelmäßigen Lebens ist, der Teil, der das,
was oben beschlossen wird, ausführt und ihm erst dadurch Fleisch und Blut
giebt, der auch den leitenden Willen sehr stark beeinflußt. Man kann das
Berufsbeamtentnm subalternisiren, dem Rang und dem Wesen nach, z. B. da¬
durch, daß man die vielgepriesene Selbstverwaltung noch mehr ausdehnt, aber
„kaltstellen" kann man es nicht, denn, um bei demselben Fall zu bleiben, dann
macht der Generalsekretär die Arbeit des Chefs und giebt ihm deshalb in neun
von zehn Fällen auch die Lenkung; auch der Bürcaukratismus wird dadurch
nicht beseitigt, sondern nur um eine neue schlimmere und fast unangreifbare
Form bereichert. Ist der Teil des Staats, den die Berufsbeamten vorstellen,
ungesund, so ist das Ganze in Gefahr, und, es ist nicht anders, unser ein¬
heimischer Veamtennachwuchs ist im deutscheu Sinne krank, bis ins Mark.

Auch bei der Ämterbesetzung ist für unsre Landesregierung Umkehr nur
so möglich, daß sie zugleich zum Angriff übergeht. Unsre jungen Juristen,
die aus dem Lande stammen, haben jetzt ein Jahr ihres Referendaricits in
Preußen zu verbringen. Das ist die Handhabe, die zu ergreifen ist, aber so,
daß längere Zeit gefordert wird, und womöglich von allen Beamtcntlassen,
mit Einschluß der sogenannten höhern Subalternen, daß auch die Wahl des
Lehrorts nicht freigestellt, sondern geleitet wird, unter Bevorzugung Mittel-
nnd Ostdeutschlands und ländlicher Örtlichkeiten oder wenigstens kleinerer
Städte. In den großen Städten würden sich die jungen Leute aus unserm
Lande immer wieder zusammenfinden und absondern, gegen ihre altdeutschen
Genossen sowohl als gegen den Lebensgehalt, mit dem sie bekannt und ver¬
traut werden sollen, und der deutsche Westen ist ja nicht weniger patriotisch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/129>, abgerufen am 08.01.2025.