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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das ZVesen des Staats

weil das sein Wesen nicht erschöpft. Denn da er eine Gesamtpersönlichkeit ist,
so macht der Wille sein Wesen aus, und er ist, wie der Mensch, nur denkbar
als einer unter vielen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich seine
eigentümliche, ihn von andern Staaten unterscheidende Persönlichkeit entfalten.
Durch ein Weltreich "diesen Wettstreit aufheben zu wollen ist Unvernunft,"
umso mehr, je schärfer sich mit den Fortschritten der Kultur die Völkerpersön-
lichkciten ausbilden. Um seinen Willen durchzusetzen, muß der Staat Macht
sein; daher bestimmen ihn nicht die Ideen, sondern der Charakter. Als souve¬
räne Macht, die keine menschliche Gewalt über sich anerkennt, setzt er die
Schranken seiner Macht sich selbst, übt das Recht der Waffen und muß
die Kraft haben, sich als souveräne Macht gegen andre Staaten zu behaupten.
Diese Kraft, sich selbst zu genügen (Autarkie), ist aber nicht auf allen Kultur¬
stufen dieselbe. Im klassischen Altertum und im spätitalienischen Mittel¬
alter hatten sie Stadtstaaten, wie Athen und Sparta, Florenz und Venedig,
seit dem siebenjährigen Kriege in Europa haben sie nur die fünf oder sechs
Großmächte, im nächsten Jahrhundert werden sie nur die Weltmächte haben,
d. h. die Großstaaten, die auch in fremden Erdteilen herrschen. Im all¬
gemeinen ist der Großstaat, trotz mancher Schattenseiten (wie Schablvnisirnng),
dem Kleinstaate weit überlegen durch die Stärke des Wasfenschutzes, die allseitige
Rechtsentwicklung, die wirtschaftliche Sicherheit, den starken Nationalstolz, den
weitblickenden Weltsinn, die Entstehung großer Hauptstädte als mächtiger
Kultnrmittelpunkte. Daher sind alle großen Werke der Kunst und Dichtung
nur auf dem Boden großer Nationalitäten entstanden, und die deutsche klassische
Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht durch die Kleinstaaterei,
sondern trotz der Kleinstaaterei geschaffen worden.

Staat und Gesellschaft können sich nur theoretisch decken, denn die Gesellschaft
lebt rascher als der Staat; dieser kann mit seinen Bestimmungen wirtschaftlichen
und sozialen Erscheinungen nur folgen, nicht vorangehen. Er muß dabei über
den Parteien der Gesellschaft stehen, denn diese müssen sich beständig bekämpfen,
weil sie den miteinander ringenden Interessen entspringen, die fortwährend die
Gesellschaft zerreißen, sie würden also, sich selbst überlassen, die Gesellschaft selbst
auflösen; die Voraussetzung von der natürlichen Harmonie aller berechtigten
Interessen ist falsch. Am besten wird der Staat der natürlichen gesellschaftlichen
Gliederung dann entsprechen, wenn er monarchisch oder aristokratisch geordnet
ist, denn jede Gesellschaft ist eine natürliche Aristokratie, weil jede Kultur nicht
nur dienende Elemente fordert, sondern überhaupt nur dann erhalten werden
kaun, wenn die ungeheure Mehrheit der Menschen körperlich arbeitet und so
die groben Bedürfnisse sicher befriedigt, und diese natürliche Ordnung ist auch
gerecht, denn das Glück des Menschen beruht gar nicht auf der geistigen
(intellektuellen) Bildung, sondern auf den Gütern des Gemüts, und diese sind
auch dem Ärmsten zugänglich. Daher enthält schon der Name der Sozial-


Das ZVesen des Staats

weil das sein Wesen nicht erschöpft. Denn da er eine Gesamtpersönlichkeit ist,
so macht der Wille sein Wesen aus, und er ist, wie der Mensch, nur denkbar
als einer unter vielen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich seine
eigentümliche, ihn von andern Staaten unterscheidende Persönlichkeit entfalten.
Durch ein Weltreich „diesen Wettstreit aufheben zu wollen ist Unvernunft,"
umso mehr, je schärfer sich mit den Fortschritten der Kultur die Völkerpersön-
lichkciten ausbilden. Um seinen Willen durchzusetzen, muß der Staat Macht
sein; daher bestimmen ihn nicht die Ideen, sondern der Charakter. Als souve¬
räne Macht, die keine menschliche Gewalt über sich anerkennt, setzt er die
Schranken seiner Macht sich selbst, übt das Recht der Waffen und muß
die Kraft haben, sich als souveräne Macht gegen andre Staaten zu behaupten.
Diese Kraft, sich selbst zu genügen (Autarkie), ist aber nicht auf allen Kultur¬
stufen dieselbe. Im klassischen Altertum und im spätitalienischen Mittel¬
alter hatten sie Stadtstaaten, wie Athen und Sparta, Florenz und Venedig,
seit dem siebenjährigen Kriege in Europa haben sie nur die fünf oder sechs
Großmächte, im nächsten Jahrhundert werden sie nur die Weltmächte haben,
d. h. die Großstaaten, die auch in fremden Erdteilen herrschen. Im all¬
gemeinen ist der Großstaat, trotz mancher Schattenseiten (wie Schablvnisirnng),
dem Kleinstaate weit überlegen durch die Stärke des Wasfenschutzes, die allseitige
Rechtsentwicklung, die wirtschaftliche Sicherheit, den starken Nationalstolz, den
weitblickenden Weltsinn, die Entstehung großer Hauptstädte als mächtiger
Kultnrmittelpunkte. Daher sind alle großen Werke der Kunst und Dichtung
nur auf dem Boden großer Nationalitäten entstanden, und die deutsche klassische
Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht durch die Kleinstaaterei,
sondern trotz der Kleinstaaterei geschaffen worden.

Staat und Gesellschaft können sich nur theoretisch decken, denn die Gesellschaft
lebt rascher als der Staat; dieser kann mit seinen Bestimmungen wirtschaftlichen
und sozialen Erscheinungen nur folgen, nicht vorangehen. Er muß dabei über
den Parteien der Gesellschaft stehen, denn diese müssen sich beständig bekämpfen,
weil sie den miteinander ringenden Interessen entspringen, die fortwährend die
Gesellschaft zerreißen, sie würden also, sich selbst überlassen, die Gesellschaft selbst
auflösen; die Voraussetzung von der natürlichen Harmonie aller berechtigten
Interessen ist falsch. Am besten wird der Staat der natürlichen gesellschaftlichen
Gliederung dann entsprechen, wenn er monarchisch oder aristokratisch geordnet
ist, denn jede Gesellschaft ist eine natürliche Aristokratie, weil jede Kultur nicht
nur dienende Elemente fordert, sondern überhaupt nur dann erhalten werden
kaun, wenn die ungeheure Mehrheit der Menschen körperlich arbeitet und so
die groben Bedürfnisse sicher befriedigt, und diese natürliche Ordnung ist auch
gerecht, denn das Glück des Menschen beruht gar nicht auf der geistigen
(intellektuellen) Bildung, sondern auf den Gütern des Gemüts, und diese sind
auch dem Ärmsten zugänglich. Daher enthält schon der Name der Sozial-


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[0012] Das ZVesen des Staats weil das sein Wesen nicht erschöpft. Denn da er eine Gesamtpersönlichkeit ist, so macht der Wille sein Wesen aus, und er ist, wie der Mensch, nur denkbar als einer unter vielen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich seine eigentümliche, ihn von andern Staaten unterscheidende Persönlichkeit entfalten. Durch ein Weltreich „diesen Wettstreit aufheben zu wollen ist Unvernunft," umso mehr, je schärfer sich mit den Fortschritten der Kultur die Völkerpersön- lichkciten ausbilden. Um seinen Willen durchzusetzen, muß der Staat Macht sein; daher bestimmen ihn nicht die Ideen, sondern der Charakter. Als souve¬ räne Macht, die keine menschliche Gewalt über sich anerkennt, setzt er die Schranken seiner Macht sich selbst, übt das Recht der Waffen und muß die Kraft haben, sich als souveräne Macht gegen andre Staaten zu behaupten. Diese Kraft, sich selbst zu genügen (Autarkie), ist aber nicht auf allen Kultur¬ stufen dieselbe. Im klassischen Altertum und im spätitalienischen Mittel¬ alter hatten sie Stadtstaaten, wie Athen und Sparta, Florenz und Venedig, seit dem siebenjährigen Kriege in Europa haben sie nur die fünf oder sechs Großmächte, im nächsten Jahrhundert werden sie nur die Weltmächte haben, d. h. die Großstaaten, die auch in fremden Erdteilen herrschen. Im all¬ gemeinen ist der Großstaat, trotz mancher Schattenseiten (wie Schablvnisirnng), dem Kleinstaate weit überlegen durch die Stärke des Wasfenschutzes, die allseitige Rechtsentwicklung, die wirtschaftliche Sicherheit, den starken Nationalstolz, den weitblickenden Weltsinn, die Entstehung großer Hauptstädte als mächtiger Kultnrmittelpunkte. Daher sind alle großen Werke der Kunst und Dichtung nur auf dem Boden großer Nationalitäten entstanden, und die deutsche klassische Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht durch die Kleinstaaterei, sondern trotz der Kleinstaaterei geschaffen worden. Staat und Gesellschaft können sich nur theoretisch decken, denn die Gesellschaft lebt rascher als der Staat; dieser kann mit seinen Bestimmungen wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen nur folgen, nicht vorangehen. Er muß dabei über den Parteien der Gesellschaft stehen, denn diese müssen sich beständig bekämpfen, weil sie den miteinander ringenden Interessen entspringen, die fortwährend die Gesellschaft zerreißen, sie würden also, sich selbst überlassen, die Gesellschaft selbst auflösen; die Voraussetzung von der natürlichen Harmonie aller berechtigten Interessen ist falsch. Am besten wird der Staat der natürlichen gesellschaftlichen Gliederung dann entsprechen, wenn er monarchisch oder aristokratisch geordnet ist, denn jede Gesellschaft ist eine natürliche Aristokratie, weil jede Kultur nicht nur dienende Elemente fordert, sondern überhaupt nur dann erhalten werden kaun, wenn die ungeheure Mehrheit der Menschen körperlich arbeitet und so die groben Bedürfnisse sicher befriedigt, und diese natürliche Ordnung ist auch gerecht, denn das Glück des Menschen beruht gar nicht auf der geistigen (intellektuellen) Bildung, sondern auf den Gütern des Gemüts, und diese sind auch dem Ärmsten zugänglich. Daher enthält schon der Name der Sozial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/12>, abgerufen am 07.01.2025.