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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das Wesen des Staats

das Fortwirken jener einseitig sozialen Ansicht des Staats, wie sie besonders
im Bürgerinn: noch herrscht, das sich überhaupt gern als die Nation schlecht¬
weg und seine Standesinteresseu schlechthin als nationale ansieht, keineswegs
unbedenklich. Wenn ein Volk der Ehrfurcht vor dem Staate, dem nationalen
Staate, bedarf, so sind das wir Deutschen mit unserm schwachen Nationalgefühl.
Es ist deshalb dankbar zu begrüßen, daß als letztes Vermächtnis H. non Treitschkes
seine "Politik" nach seinen Vorlesungen herausgegeben worden ist/") Der Text
beruht auf genauen stenographischen Niederschriften namentlich aus den Winter¬
semestern 1891/92 und 1892/93. und man sieht es ihm in der That auf den
ersten Blick an, daß er den Vortrag des Redners so gut wie wörtlich wieder¬
giebt; so charakteristisch ist die Ausdrucksweise, und doch wieder wesentlich ver¬
schieden von der Art, wie er schrieb. Wer Treitschke aus seinen historischen
Werken und seinen politischen Aufsätzen kennt, wird sachlich kaum etwas Neues
finden. Aber diese Anschauungen nun im logischen Zusammenhange und doch
ohne die dürre Schablone eines Lehrbuchs kennen zu lernen und in jedem
Zuge das alte vertraute Bild des unvergeßlichen Lehrers wieder zu finden
gewährt einen ganz besondern Genuß. Es ist, als wenn man ihn reden horte,
ihn vor sich sähe, und das Ganze wirkt oft wie ein politisches Erbauungs¬
buch. Und doch ist keine Spur von dem Pathos darin wie in seinen andern
Werken. Aber mit männlicher Offenheit sucht er, unbeirrt durch Vorurteile
und Phrasen, die Wahrheit und spricht sie furchtlos aus, wie sie ihm erscheint.
Bescheiden giebt er zu, daß jede politische Theorie dem Leben des Staats
gegenüber mangelhaft bleiben muß, daß das Rätsel der Persönlichkeit, die
fortwährend und unberechenbar eingreift (denn "Männer machen die Geschichte,"
und "die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht"), den Politiker
hindert, irgend ein für alle Zeiten geltendes exaktes System aufzustellen,
und daß er nur einzelne sittliche Entwicklungsgesetze erkennen kann, daß es bei
der "radikalen Sündhaftigkeit" des Menschengeschlechts eine Thorheit ist, einen
absolute" sittlichen Maßstab an politische Handlungen anzulegen, und an einen
unbedingten Fortschritt der Menschheit zu glauben, und daß alle geschichtliche
Betrachtung zum müßigen Spiele wird ohne die Voraussetzung einer sittlichen
Weltordnung und eines lebendigen Gottes. So weit entfernt ist er von jedem
Doktrinarismus, deun er urteilt nicht als Jurist, sondern als Historiker.

Da es unmöglich ist, im Rahmen eines Artikels von dem ganzen reichen
Inhalte des Bandes eine Vorstellung zu geben, so beschränken wir uns hier
auf die Leitsätze des ersten für das ganze Werk grundlegenden Buches: "Das
Wesen des Staates." "Der Staat ist das als unabhängige Macht rechtlich
geeinte Volk." Ihn schlechthin als "Organismus" zu bezeichne", ist unstatthaft,



*) Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin von Heinrich von
Treitschke. Herausgegeben von Max Cornieelius, Erster Band. Leipzig, Hivzel, 1897.
Das Wesen des Staats

das Fortwirken jener einseitig sozialen Ansicht des Staats, wie sie besonders
im Bürgerinn: noch herrscht, das sich überhaupt gern als die Nation schlecht¬
weg und seine Standesinteresseu schlechthin als nationale ansieht, keineswegs
unbedenklich. Wenn ein Volk der Ehrfurcht vor dem Staate, dem nationalen
Staate, bedarf, so sind das wir Deutschen mit unserm schwachen Nationalgefühl.
Es ist deshalb dankbar zu begrüßen, daß als letztes Vermächtnis H. non Treitschkes
seine „Politik" nach seinen Vorlesungen herausgegeben worden ist/") Der Text
beruht auf genauen stenographischen Niederschriften namentlich aus den Winter¬
semestern 1891/92 und 1892/93. und man sieht es ihm in der That auf den
ersten Blick an, daß er den Vortrag des Redners so gut wie wörtlich wieder¬
giebt; so charakteristisch ist die Ausdrucksweise, und doch wieder wesentlich ver¬
schieden von der Art, wie er schrieb. Wer Treitschke aus seinen historischen
Werken und seinen politischen Aufsätzen kennt, wird sachlich kaum etwas Neues
finden. Aber diese Anschauungen nun im logischen Zusammenhange und doch
ohne die dürre Schablone eines Lehrbuchs kennen zu lernen und in jedem
Zuge das alte vertraute Bild des unvergeßlichen Lehrers wieder zu finden
gewährt einen ganz besondern Genuß. Es ist, als wenn man ihn reden horte,
ihn vor sich sähe, und das Ganze wirkt oft wie ein politisches Erbauungs¬
buch. Und doch ist keine Spur von dem Pathos darin wie in seinen andern
Werken. Aber mit männlicher Offenheit sucht er, unbeirrt durch Vorurteile
und Phrasen, die Wahrheit und spricht sie furchtlos aus, wie sie ihm erscheint.
Bescheiden giebt er zu, daß jede politische Theorie dem Leben des Staats
gegenüber mangelhaft bleiben muß, daß das Rätsel der Persönlichkeit, die
fortwährend und unberechenbar eingreift (denn „Männer machen die Geschichte,"
und „die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht"), den Politiker
hindert, irgend ein für alle Zeiten geltendes exaktes System aufzustellen,
und daß er nur einzelne sittliche Entwicklungsgesetze erkennen kann, daß es bei
der „radikalen Sündhaftigkeit" des Menschengeschlechts eine Thorheit ist, einen
absolute» sittlichen Maßstab an politische Handlungen anzulegen, und an einen
unbedingten Fortschritt der Menschheit zu glauben, und daß alle geschichtliche
Betrachtung zum müßigen Spiele wird ohne die Voraussetzung einer sittlichen
Weltordnung und eines lebendigen Gottes. So weit entfernt ist er von jedem
Doktrinarismus, deun er urteilt nicht als Jurist, sondern als Historiker.

Da es unmöglich ist, im Rahmen eines Artikels von dem ganzen reichen
Inhalte des Bandes eine Vorstellung zu geben, so beschränken wir uns hier
auf die Leitsätze des ersten für das ganze Werk grundlegenden Buches: „Das
Wesen des Staates." „Der Staat ist das als unabhängige Macht rechtlich
geeinte Volk." Ihn schlechthin als „Organismus" zu bezeichne«, ist unstatthaft,



*) Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin von Heinrich von
Treitschke. Herausgegeben von Max Cornieelius, Erster Band. Leipzig, Hivzel, 1897.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/11>, abgerufen am 07.01.2025.