Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Madlene Stimmung versetzt, wie sie im irdischen Leben eben nur durch den ersten Feiertag Das Lied der Schwalbe klingt in eine feierliche Stille hinein. Nur dann Mit dem letzten der sechs hellen Glockenschläge erhebt sich im Müsershause Sie schob das Fenster nächst der Hausthüre auf. Mit einem Ruf der Über¬ Madlene hatte sich um eine Stunde verschlafen. Die Natur hatte ihr Recht Madlene Stimmung versetzt, wie sie im irdischen Leben eben nur durch den ersten Feiertag Das Lied der Schwalbe klingt in eine feierliche Stille hinein. Nur dann Mit dem letzten der sechs hellen Glockenschläge erhebt sich im Müsershause Sie schob das Fenster nächst der Hausthüre auf. Mit einem Ruf der Über¬ Madlene hatte sich um eine Stunde verschlafen. Die Natur hatte ihr Recht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227017"/> <fw type="header" place="top"> Madlene</fw><lb/> <p xml:id="ID_342" prev="#ID_341"> Stimmung versetzt, wie sie im irdischen Leben eben nur durch den ersten Feiertag<lb/> gewirkt werden kann. Feste können nur durch einen zweiten Feiertag zu „hohen"<lb/> Festen werden. Erst durch ihn wird der erste Feiertag zum heiligsten Tag der<lb/> Himmelsruhe in Gott. Von einer Ahnung dieser Erhabenheit zeugt die Streuge<lb/> der Heilighaltung, die das Volk dem ersten Feiertag allezeit zu wahren gewußt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_343"> Das Lied der Schwalbe klingt in eine feierliche Stille hinein. Nur dann<lb/> und wann läßt der Haushahn seine Stimme erschallen, um dem Nebenbuhler drei<lb/> Häuser weiter mit einem Zeichen von Vollbewußtsein seiner Herrseherwürde zu<lb/> antworten. Ein prächtiges Morgenrot beginnt sich zu entfalten. Ein befiederter<lb/> Sänger nach dem andern erwacht. Über dem Müsershaus schwebt eine schmetternde<lb/> Lerche. Auf dem Birnbaum hinter der Porlam schlägt der Fink. So ist es jeden<lb/> Morgen, seit der Lenz regiert. Und doch ist es heut anders. Es ist alles ernst¬<lb/> hafter und feierlicher. Wissen denn die Tiere auch, daß erster Feiertag ist? Sie<lb/> haben jeden Tag ersten Feiertag, soweit sie noch nicht der Natur abwendig gemacht<lb/> find. Aber der ewigen Naturweise sind wir am Werkeltag unzugänglich; am<lb/> ersten Pfingstmorgen ist unsre Seele stille genug für den Geist der Wahrheit.</p><lb/> <p xml:id="ID_344"> Mit dem letzten der sechs hellen Glockenschläge erhebt sich im Müsershause<lb/> die Hausfrau gestärkt vom Lager. Sie begiebt sich nach der Stube und ans Fenster,<lb/> um die Feierlichkeit dieses Morgens auf sich wirken zu lassen. Sie braucht niemand<lb/> zu wecken; es ist heute erster Feiertag. Bei diesem Gedanken ist es ihr, als schwebe sie<lb/> durch das Zimmer; so leicht und Wohl ist ihr zu Mut, daß sie singen möchte. Es<lb/> waren ihr auch schon einige Töne über die Lippen geschlüpft; aber da dachte sie<lb/> an deu Großen in der Fremde. Wo wird er heute zur Kirche gehen?</p><lb/> <p xml:id="ID_345"> Sie schob das Fenster nächst der Hausthüre auf. Mit einem Ruf der Über¬<lb/> raschung fuhr sie wieder zurück. Da standen vor der Hausthür zwei mächtige<lb/> Maien, die ihre Spitzen hoch über die Dachrinne erhoben. In der ersten Erregung<lb/> eilte sie hinaus, Madlene zu wecken. Doch auf der zweite» Bodentreppenstufe<lb/> kehrte sie wieder um. Schlaf du, Madleue! Ruh ans! Wer weiß, obs frommt? —<lb/> Sie holte zwei große Töpfe und stellte die Birkenstümme hinein; dann goß sie<lb/> Wasser ein — damit sie hübsch frisch bleibn. Ach, als ich meine ersten Mai'n<lb/> gesetzt bekommen hatte! Die Freud selmal! Nun gehts bei der Madlene so an.<lb/> Sie wischte sich eine Thräne aus dem Gesicht. Inzwischen war der Hausvater<lb/> auch erschienen. Und als er die Maien anstaunte, sagte sein Weib, das hinter ihm<lb/> stand: Weißes noch? Warm schöne Tag, jenes! Wie die Zeit vergeht! Sie ging<lb/> in die Küche zur Bereitung der Morgeusuppe. Der Kleine lächelte, als er die<lb/> Maien vor der Thüre sah; aber er sprach kein Wort darüber, weder zur Mutter<lb/> noch zum Vater, noch später zur Schwester. Er brummte aber damals schon vor<lb/> sich hin: Woh is denn mei sogen?</p><lb/> <p xml:id="ID_346"> Madlene hatte sich um eine Stunde verschlafen. Die Natur hatte ihr Recht<lb/> gefordert. Sie fuhr mit beide» Händen nach der Brust, als sie die Maien sah,<lb/> wurde feuerrot und hätte sich beinahe geschämt. Dann ging sie über den Hof<lb/> nach dem Holzschuppen, als fehle es an Holz in der Küche; aber drinnen im<lb/> Schuppen wandte sie sich um und blickte nach den Maien drüben an der Hausthüre,<lb/> wie groß sie wären und wie prächtig belaubt, und wie schön weiß die Stämme<lb/> blitzten. Dabei vergaß sie das Holz und kam leer in der Hausflur an, sodaß sie<lb/> noch einmal hinüber mußte. Zum zweitenmal blieb sie ein wenig länger: der<lb/> Anblick war zu schön, und die Gedanken, die sich daran knüpften, jagten einander<lb/> wie spielende Vöglein im blühenden Kirschenbaum. Aber nun brachte sie wirt¬<lb/> lich Holz.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Madlene
Stimmung versetzt, wie sie im irdischen Leben eben nur durch den ersten Feiertag
gewirkt werden kann. Feste können nur durch einen zweiten Feiertag zu „hohen"
Festen werden. Erst durch ihn wird der erste Feiertag zum heiligsten Tag der
Himmelsruhe in Gott. Von einer Ahnung dieser Erhabenheit zeugt die Streuge
der Heilighaltung, die das Volk dem ersten Feiertag allezeit zu wahren gewußt hat.
Das Lied der Schwalbe klingt in eine feierliche Stille hinein. Nur dann
und wann läßt der Haushahn seine Stimme erschallen, um dem Nebenbuhler drei
Häuser weiter mit einem Zeichen von Vollbewußtsein seiner Herrseherwürde zu
antworten. Ein prächtiges Morgenrot beginnt sich zu entfalten. Ein befiederter
Sänger nach dem andern erwacht. Über dem Müsershaus schwebt eine schmetternde
Lerche. Auf dem Birnbaum hinter der Porlam schlägt der Fink. So ist es jeden
Morgen, seit der Lenz regiert. Und doch ist es heut anders. Es ist alles ernst¬
hafter und feierlicher. Wissen denn die Tiere auch, daß erster Feiertag ist? Sie
haben jeden Tag ersten Feiertag, soweit sie noch nicht der Natur abwendig gemacht
find. Aber der ewigen Naturweise sind wir am Werkeltag unzugänglich; am
ersten Pfingstmorgen ist unsre Seele stille genug für den Geist der Wahrheit.
Mit dem letzten der sechs hellen Glockenschläge erhebt sich im Müsershause
die Hausfrau gestärkt vom Lager. Sie begiebt sich nach der Stube und ans Fenster,
um die Feierlichkeit dieses Morgens auf sich wirken zu lassen. Sie braucht niemand
zu wecken; es ist heute erster Feiertag. Bei diesem Gedanken ist es ihr, als schwebe sie
durch das Zimmer; so leicht und Wohl ist ihr zu Mut, daß sie singen möchte. Es
waren ihr auch schon einige Töne über die Lippen geschlüpft; aber da dachte sie
an deu Großen in der Fremde. Wo wird er heute zur Kirche gehen?
Sie schob das Fenster nächst der Hausthüre auf. Mit einem Ruf der Über¬
raschung fuhr sie wieder zurück. Da standen vor der Hausthür zwei mächtige
Maien, die ihre Spitzen hoch über die Dachrinne erhoben. In der ersten Erregung
eilte sie hinaus, Madlene zu wecken. Doch auf der zweite» Bodentreppenstufe
kehrte sie wieder um. Schlaf du, Madleue! Ruh ans! Wer weiß, obs frommt? —
Sie holte zwei große Töpfe und stellte die Birkenstümme hinein; dann goß sie
Wasser ein — damit sie hübsch frisch bleibn. Ach, als ich meine ersten Mai'n
gesetzt bekommen hatte! Die Freud selmal! Nun gehts bei der Madlene so an.
Sie wischte sich eine Thräne aus dem Gesicht. Inzwischen war der Hausvater
auch erschienen. Und als er die Maien anstaunte, sagte sein Weib, das hinter ihm
stand: Weißes noch? Warm schöne Tag, jenes! Wie die Zeit vergeht! Sie ging
in die Küche zur Bereitung der Morgeusuppe. Der Kleine lächelte, als er die
Maien vor der Thüre sah; aber er sprach kein Wort darüber, weder zur Mutter
noch zum Vater, noch später zur Schwester. Er brummte aber damals schon vor
sich hin: Woh is denn mei sogen?
Madlene hatte sich um eine Stunde verschlafen. Die Natur hatte ihr Recht
gefordert. Sie fuhr mit beide» Händen nach der Brust, als sie die Maien sah,
wurde feuerrot und hätte sich beinahe geschämt. Dann ging sie über den Hof
nach dem Holzschuppen, als fehle es an Holz in der Küche; aber drinnen im
Schuppen wandte sie sich um und blickte nach den Maien drüben an der Hausthüre,
wie groß sie wären und wie prächtig belaubt, und wie schön weiß die Stämme
blitzten. Dabei vergaß sie das Holz und kam leer in der Hausflur an, sodaß sie
noch einmal hinüber mußte. Zum zweitenmal blieb sie ein wenig länger: der
Anblick war zu schön, und die Gedanken, die sich daran knüpften, jagten einander
wie spielende Vöglein im blühenden Kirschenbaum. Aber nun brachte sie wirt¬
lich Holz.
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