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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das Messn des Staats

hundert abermals eine starke Reaktion der Persönlichkeit, des Individualismus
hervor, die im Staat eine zwar unentbehrliche, aber leidige Zwangsanstalt
sah und die möglichste Freiheit des Einzelnen nicht sowohl im Staat als
vom Staat verfocht, in der ungehinderten Ausgestaltung der Persönlichkeit
das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins sah. Diese naturrechtliche An¬
schauung lebt im Grunde noch heute im Liberalismus fort. Er sieht im
Staat am liebsten auch nur eine Anstalt zur Wahrung der öffentlichen Sicher¬
heit und will ihn von der Einwirkung auf das wirtschaftliche und geistige Leben
möglichst fernhalten, und das Ziel aller Staatsthätigkeit ist sür ihn das mög¬
lichste Maß von Wohlbefinden jedes Einzelnen. Er betrachtet also den Staat
wieder nur von unter, vom Standpunkte der Regierten, vom sozialen Stand¬
punkt aus, und die Sozialdemokratie zieht aus diesem Standpunkte die äußersten
Folgerungen.

Dem entspricht nun ein eigentümlicher Gegensatz der geschichtlichen Auf¬
fassung. Von ihrem kleinbürgerlichen Liberalismus aus sahen Geschichtschreiber
wie Schlosser und Gervinus die Geschichte schlechterdings nur als Regierte, also von
unten, in den Leitern der Staaten meist eine Gruppe von Gewaltmenschen, Schuften
oder Dummköpfen, in der Weltgeschichte eine Kette von gelungner oder mi߬
lungnen Schurkenstreichen. Erst Ranke lehrte die Geschichte wieder vom Stand¬
punkte der Regierenden ans betrachten, die Politik aus der Lage der Staaten
und aus ihren Beziehungen unter einander begreifen, ohne sich anzumaßen,
sie als Moralist mit dem Katechismus in der Hand zu meistern. Natürlich,
daß ihm da die leitenden Persönlichkeiten, in deren Beweggründe und Hand¬
lungsweise er tief hineinblickte, im Vordergründe des Interesses und der
Schilderung standen, die Massen, bei denen das viel schwerer, oft ganz
unmöglich ist, zurücktraten. Dieser unzweifelhaften Einseitigkeit stellt sich
seit einiger Zeit eine andre nicht minder einseitige Richtung entgegen. Sie
sieht in den wirtschaftlichen und geistigen Massenbewegungen den Hauptgegen¬
stand aller Forschung und Darstellung, faßt die "Helden" zwar nicht gerade
als bloße Erzeugnisse dieser Massenbewegungen auf, schränkt aber die Selb¬
ständigkeit, also die Bedeutung der großen Persönlichkeiten sehr ein und erblickt
im Staate nur etwas von der allgemeinen Kulturentwicklung bedingtes, kehrt
daher das bisherige Verhältnis zwischen Staats- und Kulturgeschichte zu Gunsten
der zweiten geradezu um. Sie steht also auf sozialem, nicht auf politischem
Standpunkt und sieht den Staat schlechterdings nur von unten.

Bei der stark ausgeprägten Neigung des Deutschen zu individueller Selb¬
ständigkeit und absprechender Kritik über alles, was eine Regierung thut oder
nicht thut, bei unserm verrannten Doktrinarismus und unsrer aus nlledem
hervorgehenden geringen politischen Befähigung, bei der Macht, die eben des¬
halb gerade bei uns die Sozialdemokratie auf die Massen ausübt, ist das Auf¬
treten dieser ziemlich anspruchsvoll sich gebärdenden Geschichtsauffassung und


Das Messn des Staats

hundert abermals eine starke Reaktion der Persönlichkeit, des Individualismus
hervor, die im Staat eine zwar unentbehrliche, aber leidige Zwangsanstalt
sah und die möglichste Freiheit des Einzelnen nicht sowohl im Staat als
vom Staat verfocht, in der ungehinderten Ausgestaltung der Persönlichkeit
das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins sah. Diese naturrechtliche An¬
schauung lebt im Grunde noch heute im Liberalismus fort. Er sieht im
Staat am liebsten auch nur eine Anstalt zur Wahrung der öffentlichen Sicher¬
heit und will ihn von der Einwirkung auf das wirtschaftliche und geistige Leben
möglichst fernhalten, und das Ziel aller Staatsthätigkeit ist sür ihn das mög¬
lichste Maß von Wohlbefinden jedes Einzelnen. Er betrachtet also den Staat
wieder nur von unter, vom Standpunkte der Regierten, vom sozialen Stand¬
punkt aus, und die Sozialdemokratie zieht aus diesem Standpunkte die äußersten
Folgerungen.

Dem entspricht nun ein eigentümlicher Gegensatz der geschichtlichen Auf¬
fassung. Von ihrem kleinbürgerlichen Liberalismus aus sahen Geschichtschreiber
wie Schlosser und Gervinus die Geschichte schlechterdings nur als Regierte, also von
unten, in den Leitern der Staaten meist eine Gruppe von Gewaltmenschen, Schuften
oder Dummköpfen, in der Weltgeschichte eine Kette von gelungner oder mi߬
lungnen Schurkenstreichen. Erst Ranke lehrte die Geschichte wieder vom Stand¬
punkte der Regierenden ans betrachten, die Politik aus der Lage der Staaten
und aus ihren Beziehungen unter einander begreifen, ohne sich anzumaßen,
sie als Moralist mit dem Katechismus in der Hand zu meistern. Natürlich,
daß ihm da die leitenden Persönlichkeiten, in deren Beweggründe und Hand¬
lungsweise er tief hineinblickte, im Vordergründe des Interesses und der
Schilderung standen, die Massen, bei denen das viel schwerer, oft ganz
unmöglich ist, zurücktraten. Dieser unzweifelhaften Einseitigkeit stellt sich
seit einiger Zeit eine andre nicht minder einseitige Richtung entgegen. Sie
sieht in den wirtschaftlichen und geistigen Massenbewegungen den Hauptgegen¬
stand aller Forschung und Darstellung, faßt die „Helden" zwar nicht gerade
als bloße Erzeugnisse dieser Massenbewegungen auf, schränkt aber die Selb¬
ständigkeit, also die Bedeutung der großen Persönlichkeiten sehr ein und erblickt
im Staate nur etwas von der allgemeinen Kulturentwicklung bedingtes, kehrt
daher das bisherige Verhältnis zwischen Staats- und Kulturgeschichte zu Gunsten
der zweiten geradezu um. Sie steht also auf sozialem, nicht auf politischem
Standpunkt und sieht den Staat schlechterdings nur von unten.

Bei der stark ausgeprägten Neigung des Deutschen zu individueller Selb¬
ständigkeit und absprechender Kritik über alles, was eine Regierung thut oder
nicht thut, bei unserm verrannten Doktrinarismus und unsrer aus nlledem
hervorgehenden geringen politischen Befähigung, bei der Macht, die eben des¬
halb gerade bei uns die Sozialdemokratie auf die Massen ausübt, ist das Auf¬
treten dieser ziemlich anspruchsvoll sich gebärdenden Geschichtsauffassung und


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[0010] Das Messn des Staats hundert abermals eine starke Reaktion der Persönlichkeit, des Individualismus hervor, die im Staat eine zwar unentbehrliche, aber leidige Zwangsanstalt sah und die möglichste Freiheit des Einzelnen nicht sowohl im Staat als vom Staat verfocht, in der ungehinderten Ausgestaltung der Persönlichkeit das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins sah. Diese naturrechtliche An¬ schauung lebt im Grunde noch heute im Liberalismus fort. Er sieht im Staat am liebsten auch nur eine Anstalt zur Wahrung der öffentlichen Sicher¬ heit und will ihn von der Einwirkung auf das wirtschaftliche und geistige Leben möglichst fernhalten, und das Ziel aller Staatsthätigkeit ist sür ihn das mög¬ lichste Maß von Wohlbefinden jedes Einzelnen. Er betrachtet also den Staat wieder nur von unter, vom Standpunkte der Regierten, vom sozialen Stand¬ punkt aus, und die Sozialdemokratie zieht aus diesem Standpunkte die äußersten Folgerungen. Dem entspricht nun ein eigentümlicher Gegensatz der geschichtlichen Auf¬ fassung. Von ihrem kleinbürgerlichen Liberalismus aus sahen Geschichtschreiber wie Schlosser und Gervinus die Geschichte schlechterdings nur als Regierte, also von unten, in den Leitern der Staaten meist eine Gruppe von Gewaltmenschen, Schuften oder Dummköpfen, in der Weltgeschichte eine Kette von gelungner oder mi߬ lungnen Schurkenstreichen. Erst Ranke lehrte die Geschichte wieder vom Stand¬ punkte der Regierenden ans betrachten, die Politik aus der Lage der Staaten und aus ihren Beziehungen unter einander begreifen, ohne sich anzumaßen, sie als Moralist mit dem Katechismus in der Hand zu meistern. Natürlich, daß ihm da die leitenden Persönlichkeiten, in deren Beweggründe und Hand¬ lungsweise er tief hineinblickte, im Vordergründe des Interesses und der Schilderung standen, die Massen, bei denen das viel schwerer, oft ganz unmöglich ist, zurücktraten. Dieser unzweifelhaften Einseitigkeit stellt sich seit einiger Zeit eine andre nicht minder einseitige Richtung entgegen. Sie sieht in den wirtschaftlichen und geistigen Massenbewegungen den Hauptgegen¬ stand aller Forschung und Darstellung, faßt die „Helden" zwar nicht gerade als bloße Erzeugnisse dieser Massenbewegungen auf, schränkt aber die Selb¬ ständigkeit, also die Bedeutung der großen Persönlichkeiten sehr ein und erblickt im Staate nur etwas von der allgemeinen Kulturentwicklung bedingtes, kehrt daher das bisherige Verhältnis zwischen Staats- und Kulturgeschichte zu Gunsten der zweiten geradezu um. Sie steht also auf sozialem, nicht auf politischem Standpunkt und sieht den Staat schlechterdings nur von unten. Bei der stark ausgeprägten Neigung des Deutschen zu individueller Selb¬ ständigkeit und absprechender Kritik über alles, was eine Regierung thut oder nicht thut, bei unserm verrannten Doktrinarismus und unsrer aus nlledem hervorgehenden geringen politischen Befähigung, bei der Macht, die eben des¬ halb gerade bei uns die Sozialdemokratie auf die Massen ausübt, ist das Auf¬ treten dieser ziemlich anspruchsvoll sich gebärdenden Geschichtsauffassung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/10>, abgerufen am 07.01.2025.