Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das deutsche Vorfwirtshaus

passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden
sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus ein¬
tretenden Fremden "nach Verdienst" würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige
Nummer giebt und ihn dann weiter "entsprechend" behandelt und -- ein¬
schätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das
Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche
Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück giebt, das sehr weittragende
Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von
Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäuerische Joppe tragen:
schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kenn¬
zeichen unbedingt sicher. In Deutschland giebt es freilich eine höchst anstündige
Klasse, die noch immer schlecht "chaussirt" ist. Das sind die Gutsbesitzer,
und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern
weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel erfordert. Eine
Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im deutschen Reiche würde
ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der
gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und
städtischer Lebensweise. Wenn man aber abends durch die Korridore eines
internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor
den Thüren stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden
schließen.

Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist
der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit
seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bairischen und österreichischen
Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Vaiern und Deutschösterreich sind
die Länder, wo der Wirt dem Bauern noch am nächsten verwandt ist. Aber
der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist
kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht
man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für
sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im
Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol giebt es viel mehr Wirte und
Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu
machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum giebt, das durch die Kultur
veredelt, aber nicht entartet ist.

In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Banern-
und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in
"Hermann und Dorothea" für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre
ich eine Wirtsfamilie. die ein kleines Fürstentum von Thälern, Bergen, Seen
und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste
im Ort, ihre Töchter sind, wie es dort zu Lande üblich, in einem Kloster im


Das deutsche Vorfwirtshaus

passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden
sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus ein¬
tretenden Fremden „nach Verdienst" würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige
Nummer giebt und ihn dann weiter „entsprechend" behandelt und — ein¬
schätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das
Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche
Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück giebt, das sehr weittragende
Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von
Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäuerische Joppe tragen:
schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kenn¬
zeichen unbedingt sicher. In Deutschland giebt es freilich eine höchst anstündige
Klasse, die noch immer schlecht „chaussirt" ist. Das sind die Gutsbesitzer,
und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern
weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel erfordert. Eine
Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im deutschen Reiche würde
ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der
gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und
städtischer Lebensweise. Wenn man aber abends durch die Korridore eines
internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor
den Thüren stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden
schließen.

Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist
der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit
seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bairischen und österreichischen
Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Vaiern und Deutschösterreich sind
die Länder, wo der Wirt dem Bauern noch am nächsten verwandt ist. Aber
der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist
kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht
man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für
sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im
Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol giebt es viel mehr Wirte und
Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu
machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum giebt, das durch die Kultur
veredelt, aber nicht entartet ist.

In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Banern-
und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in
„Hermann und Dorothea" für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre
ich eine Wirtsfamilie. die ein kleines Fürstentum von Thälern, Bergen, Seen
und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste
im Ort, ihre Töchter sind, wie es dort zu Lande üblich, in einem Kloster im


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0100" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227002"/>
          <fw type="header" place="top"> Das deutsche Vorfwirtshaus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_295" prev="#ID_294"> passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden<lb/>
sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus ein¬<lb/>
tretenden Fremden &#x201E;nach Verdienst" würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige<lb/>
Nummer giebt und ihn dann weiter &#x201E;entsprechend" behandelt und &#x2014; ein¬<lb/>
schätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das<lb/>
Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche<lb/>
Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück giebt, das sehr weittragende<lb/>
Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von<lb/>
Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäuerische Joppe tragen:<lb/>
schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kenn¬<lb/>
zeichen unbedingt sicher. In Deutschland giebt es freilich eine höchst anstündige<lb/>
Klasse, die noch immer schlecht &#x201E;chaussirt" ist. Das sind die Gutsbesitzer,<lb/>
und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern<lb/>
weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel erfordert. Eine<lb/>
Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im deutschen Reiche würde<lb/>
ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der<lb/>
gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und<lb/>
städtischer Lebensweise. Wenn man aber abends durch die Korridore eines<lb/>
internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor<lb/>
den Thüren stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden<lb/>
schließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_296"> Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist<lb/>
der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit<lb/>
seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bairischen und österreichischen<lb/>
Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Vaiern und Deutschösterreich sind<lb/>
die Länder, wo der Wirt dem Bauern noch am nächsten verwandt ist. Aber<lb/>
der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist<lb/>
kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht<lb/>
man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für<lb/>
sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im<lb/>
Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol giebt es viel mehr Wirte und<lb/>
Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu<lb/>
machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum giebt, das durch die Kultur<lb/>
veredelt, aber nicht entartet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_297" next="#ID_298"> In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Banern-<lb/>
und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in<lb/>
&#x201E;Hermann und Dorothea" für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre<lb/>
ich eine Wirtsfamilie. die ein kleines Fürstentum von Thälern, Bergen, Seen<lb/>
und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem<lb/>
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste<lb/>
im Ort, ihre Töchter sind, wie es dort zu Lande üblich, in einem Kloster im</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0100] Das deutsche Vorfwirtshaus passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus ein¬ tretenden Fremden „nach Verdienst" würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige Nummer giebt und ihn dann weiter „entsprechend" behandelt und — ein¬ schätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück giebt, das sehr weittragende Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäuerische Joppe tragen: schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kenn¬ zeichen unbedingt sicher. In Deutschland giebt es freilich eine höchst anstündige Klasse, die noch immer schlecht „chaussirt" ist. Das sind die Gutsbesitzer, und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel erfordert. Eine Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im deutschen Reiche würde ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und städtischer Lebensweise. Wenn man aber abends durch die Korridore eines internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor den Thüren stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden schließen. Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bairischen und österreichischen Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Vaiern und Deutschösterreich sind die Länder, wo der Wirt dem Bauern noch am nächsten verwandt ist. Aber der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol giebt es viel mehr Wirte und Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum giebt, das durch die Kultur veredelt, aber nicht entartet ist. In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Banern- und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in „Hermann und Dorothea" für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre ich eine Wirtsfamilie. die ein kleines Fürstentum von Thälern, Bergen, Seen und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste im Ort, ihre Töchter sind, wie es dort zu Lande üblich, in einem Kloster im

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/100
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/100>, abgerufen am 08.01.2025.