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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Endlich den Beruf gefunden.

daß es mir unmöglich ist, mich in die Gedankenwelt eines Massow zu ver¬
setzen, der den Umsturz fürchtet, und dem man als einen offenbar ehrlichen
Manne nicht zutrauen kann, das; er gleich vielen andern die Besorgnis nur
heuchle. Die Sozialdemokraten haben sich in die Unmöglichkeit des gewalt¬
samen Umsturzes schon lange gefunden und trösten sich mit ihrem wissenschaft¬
lichen Marxismus, der da lehrt, daß kein Versuch, einen Gesellschaftszustand
gewaltsam zu ändern, etwas nutzt, wenn die natürlichen Vedingnngen des
neuen Zustands, den man wünscht, nicht schon vorhanden sind, und daß, wo
diese Bedingungen vorhanden sind, die Gewalt überflüssig ist, weil sich der
ans natürlichem Wege werdende Zustand von selbst durchsetzt; höchstens, daß
das fertige Hühnchen ein wenig an der umschließenden Eierschale zu picken
und dann die anklebenden Schalenstückchen abzuschütteln braucht. (Dieser Satz
ist zweifellos richtig, nur daß unter den zukünftigen Gesellschaftszuständen
keiner sein wird, der Proletarierherrschaft genannt werden könnte.) Nicht dem
auflösenden, sondern dem bildenden und bauenden Stadium des Lebensprozesses
gehört das Aufstreben der untern Schichten um. Überall, wo es sich mit
Erfolg geltend macht, sehen wir neue Blüte- und Glanzperioden der Völker
anbrechen; so haben gewirkt die Emanzipation der Plebejer in Rom, die Ver¬
wandlung der Sklaven in Kolonen, die Erhebung der Hörigen in den Stand
freier Bauern, der Sieg der Zünfte über die Geschlechter, endlich die letzte
große Umwälzung, die dem Bürger- und Bauernstande zur Teilnahme an der
Staatsverwaltung verholfen hat. Also wenn ich es einmal erleben könnte, daß
der Gesellschaftsban von aufrührerischen Proletariern bedroht würde, so würde
ich mich als pflichtgetreues Atom der Regierungsgewalt anschließen. Aber
diesen Fall kann ich nicht erleben, denn er kann im laufenden Jahrtausend
noch weniger eintreten als in einem frühern- Wird einer unsrer heutigen
Staaten durch innere Unruhen aufgelöst, so werden es nicht Proletarierauf¬
stünde sein, sondern es wird entweder ein Nationalitütenstreit oder der Kampf
der Grundbesitzer mit den Großindustriellen und den Großhändlern um die
Macht und um die Beute sein, was den festen Bau zerstört.

Natürlich kann ich, als wilder Publizist, dem beschriebnen Atomdrcmge
nur solgen, so weit es die publizistischen Verhältnisse gestatten; wer sich
den Kampf für die Schwachen zur Lebensaufgabe machen will, der muß
eine bestimmte Gruppe oder Schicht von Schwächern, etwa die Lohn¬
arbeiterschaft, oder eine konfessionelle oder nationale Minderheit, auswählen,
muß sich der Partei dieser Minderheit anschließen und büßt dadurch nicht
bloß seine Freiheit im allgemeinen ein, sondern sieht sich auch zur Verübung
von Ungerechtigkeiten gezwungen, indem, wie schon angedeutet wurde, jede
Organisation von Unterdrückten selbst wiederum Unterdrückerin wird, so oft
sich ihr durch einen Sieg über die Mehrheit oder gegenüber einer kleinen
Gruppe, für die sie selbst Mehrheit ist, die Gelegenheit darbietet. So auf-


Endlich den Beruf gefunden.

daß es mir unmöglich ist, mich in die Gedankenwelt eines Massow zu ver¬
setzen, der den Umsturz fürchtet, und dem man als einen offenbar ehrlichen
Manne nicht zutrauen kann, das; er gleich vielen andern die Besorgnis nur
heuchle. Die Sozialdemokraten haben sich in die Unmöglichkeit des gewalt¬
samen Umsturzes schon lange gefunden und trösten sich mit ihrem wissenschaft¬
lichen Marxismus, der da lehrt, daß kein Versuch, einen Gesellschaftszustand
gewaltsam zu ändern, etwas nutzt, wenn die natürlichen Vedingnngen des
neuen Zustands, den man wünscht, nicht schon vorhanden sind, und daß, wo
diese Bedingungen vorhanden sind, die Gewalt überflüssig ist, weil sich der
ans natürlichem Wege werdende Zustand von selbst durchsetzt; höchstens, daß
das fertige Hühnchen ein wenig an der umschließenden Eierschale zu picken
und dann die anklebenden Schalenstückchen abzuschütteln braucht. (Dieser Satz
ist zweifellos richtig, nur daß unter den zukünftigen Gesellschaftszuständen
keiner sein wird, der Proletarierherrschaft genannt werden könnte.) Nicht dem
auflösenden, sondern dem bildenden und bauenden Stadium des Lebensprozesses
gehört das Aufstreben der untern Schichten um. Überall, wo es sich mit
Erfolg geltend macht, sehen wir neue Blüte- und Glanzperioden der Völker
anbrechen; so haben gewirkt die Emanzipation der Plebejer in Rom, die Ver¬
wandlung der Sklaven in Kolonen, die Erhebung der Hörigen in den Stand
freier Bauern, der Sieg der Zünfte über die Geschlechter, endlich die letzte
große Umwälzung, die dem Bürger- und Bauernstande zur Teilnahme an der
Staatsverwaltung verholfen hat. Also wenn ich es einmal erleben könnte, daß
der Gesellschaftsban von aufrührerischen Proletariern bedroht würde, so würde
ich mich als pflichtgetreues Atom der Regierungsgewalt anschließen. Aber
diesen Fall kann ich nicht erleben, denn er kann im laufenden Jahrtausend
noch weniger eintreten als in einem frühern- Wird einer unsrer heutigen
Staaten durch innere Unruhen aufgelöst, so werden es nicht Proletarierauf¬
stünde sein, sondern es wird entweder ein Nationalitütenstreit oder der Kampf
der Grundbesitzer mit den Großindustriellen und den Großhändlern um die
Macht und um die Beute sein, was den festen Bau zerstört.

Natürlich kann ich, als wilder Publizist, dem beschriebnen Atomdrcmge
nur solgen, so weit es die publizistischen Verhältnisse gestatten; wer sich
den Kampf für die Schwachen zur Lebensaufgabe machen will, der muß
eine bestimmte Gruppe oder Schicht von Schwächern, etwa die Lohn¬
arbeiterschaft, oder eine konfessionelle oder nationale Minderheit, auswählen,
muß sich der Partei dieser Minderheit anschließen und büßt dadurch nicht
bloß seine Freiheit im allgemeinen ein, sondern sieht sich auch zur Verübung
von Ungerechtigkeiten gezwungen, indem, wie schon angedeutet wurde, jede
Organisation von Unterdrückten selbst wiederum Unterdrückerin wird, so oft
sich ihr durch einen Sieg über die Mehrheit oder gegenüber einer kleinen
Gruppe, für die sie selbst Mehrheit ist, die Gelegenheit darbietet. So auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/640>, abgerufen am 26.06.2024.