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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Endlich den Beruf gefunden

keine Rolle gespielt, sind überhaupt nicht vorgekommen. Die Zerrüttung der
mittelalterlichen Staaten war nicht ein Werk von aufstäudischeu hörigen Bauern
oder Lohnarbeitern, sondern wurde durch die einander und den König be¬
kämpfenden Feudalherren erzeugt. Die Verwüstung und Verödung Deutsch¬
lands im dreißigjährigen Kriege, die stellenweise zur völligen Auslösung aller
gesellschaftlichen und sittlichen Baude führte, war das Werk der deutschen
Fürsten, des deutschen Kaisers und der Könige von Schweden, Frankreich und
Spanien, ein Werk, an dem die arbeitenden Stände nnr als Schlachtvieh be¬
teiligt waren. Die einzigen beiden Fälle eines Unisturzes von unten, die
vorübergehend einige Lockerung und Zerrüttung der gesellschaftlichen Ordnung
zur Folge gehabt haben, siud die erste englische und die große französische
Revolution, wobei jedoch zu beachten ist, daß in der einen der Pöbel gar keine,
in der andern nicht die führende Rolle gespielt hat. Eine Auflösung der
bürgerlichen Ordnung und Schwächung der Nation und des Staates aber
haben diese beiden Umwälzungen so wenig bedeutet, daß vielmehr beide die
Größe der Völker begründet haben, in denen sie sich ereigneten, die englische
Revolution allerdings in weit nachhaltiger Weise als die französische; immer¬
hin war das revolutionäre Frankreich den legitimistischen Nachbarmächten im
Kriege überlegen, schon ehe sich das militärische Genie Napoleons entfaltet
hatte. Heute um vollends ist das Gesellschaftsgewebe, dessen Kuotenpniikte
die Mitglieder der herrschenden Stände siud, von einer Festigkeit wie in keiner
frühern Zeit, da sich die Technik in seinen Dienst gestellt hat; stehen doch die
Verkehrsmittel wie die furchtbaren Schutz- und Trutzwaffeu des Jahrhunderts
den Herrschenden und uicht den Beherrschten zur Verfügung. Befehle, die
Armeekorps herbeirufen oder die Polizei in Bewegung setzen, schießt der elek¬
trische Draht im Nu bis an die entferntesten Grenzen des Staates und bis
über den Ozean; für die Mitteilungen von Verschwornen ist er nicht zu habe";
Bataillone, aber nicht Sensenmänner, befördert die Eisenbahn. Wenn sich der
heutige Staat vor den Proletariern fürchtet, so heißt das, ein bewaffneter
starker Maun fürchtet sich vor einem wehrlosen Kinde. Der vorige preußische
Kriegsminister hat die Lage richtig beschrieben, indem er einmal sagte, gegen
etwaige Pöbelaufstände bedürfe man keines Militärs, gegen die genüge die
Feuerwehr. Wunderbare Phantasie, daß Proletarieraufstände, die keinen der
frühern unbehilflichen, molluskenartig lockern, von selbst zerfallenden Staaten
ernstlich zu schädigen vermocht haben, den modernen Staat umstürzen sollten,
dessen Knochengerüst, die Bttreaukratie, alle Teile fest zusammenhält, dessen
Nerven, die Telegraphendrähte, im Bedarfsfalle jedes Glied mit jedem nngen-
blicklich in Verbindung setzen, dessen Adern, die Eisenbahnen, jeden Nahr- und
Wehrstvff in wenig Stunden dahin führen, wo ein Zellgewebe der Ergänzung
oder des Schutzes bedarf, und dem als bazillenfrcssende Blutkörperchen Millionen
Soldaten zur Verfügung stehen! So lächerlich erscheint mir die Phantasie,


Endlich den Beruf gefunden

keine Rolle gespielt, sind überhaupt nicht vorgekommen. Die Zerrüttung der
mittelalterlichen Staaten war nicht ein Werk von aufstäudischeu hörigen Bauern
oder Lohnarbeitern, sondern wurde durch die einander und den König be¬
kämpfenden Feudalherren erzeugt. Die Verwüstung und Verödung Deutsch¬
lands im dreißigjährigen Kriege, die stellenweise zur völligen Auslösung aller
gesellschaftlichen und sittlichen Baude führte, war das Werk der deutschen
Fürsten, des deutschen Kaisers und der Könige von Schweden, Frankreich und
Spanien, ein Werk, an dem die arbeitenden Stände nnr als Schlachtvieh be¬
teiligt waren. Die einzigen beiden Fälle eines Unisturzes von unten, die
vorübergehend einige Lockerung und Zerrüttung der gesellschaftlichen Ordnung
zur Folge gehabt haben, siud die erste englische und die große französische
Revolution, wobei jedoch zu beachten ist, daß in der einen der Pöbel gar keine,
in der andern nicht die führende Rolle gespielt hat. Eine Auflösung der
bürgerlichen Ordnung und Schwächung der Nation und des Staates aber
haben diese beiden Umwälzungen so wenig bedeutet, daß vielmehr beide die
Größe der Völker begründet haben, in denen sie sich ereigneten, die englische
Revolution allerdings in weit nachhaltiger Weise als die französische; immer¬
hin war das revolutionäre Frankreich den legitimistischen Nachbarmächten im
Kriege überlegen, schon ehe sich das militärische Genie Napoleons entfaltet
hatte. Heute um vollends ist das Gesellschaftsgewebe, dessen Kuotenpniikte
die Mitglieder der herrschenden Stände siud, von einer Festigkeit wie in keiner
frühern Zeit, da sich die Technik in seinen Dienst gestellt hat; stehen doch die
Verkehrsmittel wie die furchtbaren Schutz- und Trutzwaffeu des Jahrhunderts
den Herrschenden und uicht den Beherrschten zur Verfügung. Befehle, die
Armeekorps herbeirufen oder die Polizei in Bewegung setzen, schießt der elek¬
trische Draht im Nu bis an die entferntesten Grenzen des Staates und bis
über den Ozean; für die Mitteilungen von Verschwornen ist er nicht zu habe»;
Bataillone, aber nicht Sensenmänner, befördert die Eisenbahn. Wenn sich der
heutige Staat vor den Proletariern fürchtet, so heißt das, ein bewaffneter
starker Maun fürchtet sich vor einem wehrlosen Kinde. Der vorige preußische
Kriegsminister hat die Lage richtig beschrieben, indem er einmal sagte, gegen
etwaige Pöbelaufstände bedürfe man keines Militärs, gegen die genüge die
Feuerwehr. Wunderbare Phantasie, daß Proletarieraufstände, die keinen der
frühern unbehilflichen, molluskenartig lockern, von selbst zerfallenden Staaten
ernstlich zu schädigen vermocht haben, den modernen Staat umstürzen sollten,
dessen Knochengerüst, die Bttreaukratie, alle Teile fest zusammenhält, dessen
Nerven, die Telegraphendrähte, im Bedarfsfalle jedes Glied mit jedem nngen-
blicklich in Verbindung setzen, dessen Adern, die Eisenbahnen, jeden Nahr- und
Wehrstvff in wenig Stunden dahin führen, wo ein Zellgewebe der Ergänzung
oder des Schutzes bedarf, und dem als bazillenfrcssende Blutkörperchen Millionen
Soldaten zur Verfügung stehen! So lächerlich erscheint mir die Phantasie,


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[0639] Endlich den Beruf gefunden keine Rolle gespielt, sind überhaupt nicht vorgekommen. Die Zerrüttung der mittelalterlichen Staaten war nicht ein Werk von aufstäudischeu hörigen Bauern oder Lohnarbeitern, sondern wurde durch die einander und den König be¬ kämpfenden Feudalherren erzeugt. Die Verwüstung und Verödung Deutsch¬ lands im dreißigjährigen Kriege, die stellenweise zur völligen Auslösung aller gesellschaftlichen und sittlichen Baude führte, war das Werk der deutschen Fürsten, des deutschen Kaisers und der Könige von Schweden, Frankreich und Spanien, ein Werk, an dem die arbeitenden Stände nnr als Schlachtvieh be¬ teiligt waren. Die einzigen beiden Fälle eines Unisturzes von unten, die vorübergehend einige Lockerung und Zerrüttung der gesellschaftlichen Ordnung zur Folge gehabt haben, siud die erste englische und die große französische Revolution, wobei jedoch zu beachten ist, daß in der einen der Pöbel gar keine, in der andern nicht die führende Rolle gespielt hat. Eine Auflösung der bürgerlichen Ordnung und Schwächung der Nation und des Staates aber haben diese beiden Umwälzungen so wenig bedeutet, daß vielmehr beide die Größe der Völker begründet haben, in denen sie sich ereigneten, die englische Revolution allerdings in weit nachhaltiger Weise als die französische; immer¬ hin war das revolutionäre Frankreich den legitimistischen Nachbarmächten im Kriege überlegen, schon ehe sich das militärische Genie Napoleons entfaltet hatte. Heute um vollends ist das Gesellschaftsgewebe, dessen Kuotenpniikte die Mitglieder der herrschenden Stände siud, von einer Festigkeit wie in keiner frühern Zeit, da sich die Technik in seinen Dienst gestellt hat; stehen doch die Verkehrsmittel wie die furchtbaren Schutz- und Trutzwaffeu des Jahrhunderts den Herrschenden und uicht den Beherrschten zur Verfügung. Befehle, die Armeekorps herbeirufen oder die Polizei in Bewegung setzen, schießt der elek¬ trische Draht im Nu bis an die entferntesten Grenzen des Staates und bis über den Ozean; für die Mitteilungen von Verschwornen ist er nicht zu habe»; Bataillone, aber nicht Sensenmänner, befördert die Eisenbahn. Wenn sich der heutige Staat vor den Proletariern fürchtet, so heißt das, ein bewaffneter starker Maun fürchtet sich vor einem wehrlosen Kinde. Der vorige preußische Kriegsminister hat die Lage richtig beschrieben, indem er einmal sagte, gegen etwaige Pöbelaufstände bedürfe man keines Militärs, gegen die genüge die Feuerwehr. Wunderbare Phantasie, daß Proletarieraufstände, die keinen der frühern unbehilflichen, molluskenartig lockern, von selbst zerfallenden Staaten ernstlich zu schädigen vermocht haben, den modernen Staat umstürzen sollten, dessen Knochengerüst, die Bttreaukratie, alle Teile fest zusammenhält, dessen Nerven, die Telegraphendrähte, im Bedarfsfalle jedes Glied mit jedem nngen- blicklich in Verbindung setzen, dessen Adern, die Eisenbahnen, jeden Nahr- und Wehrstvff in wenig Stunden dahin führen, wo ein Zellgewebe der Ergänzung oder des Schutzes bedarf, und dem als bazillenfrcssende Blutkörperchen Millionen Soldaten zur Verfügung stehen! So lächerlich erscheint mir die Phantasie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/639>, abgerufen am 26.06.2024.