Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Endlich den Beruf gefunden

einer auf die Aufhebung der Störung gerichteten Thätigkeit zwingen. Diese
Thätigkeit hat nun natürlicherweise jedesmal damit zu beginnen, daß eine An¬
zahl Atome von der Seite des Übergewichts auf die entgegengesetzte Seite eilen,
und dieser Atompflicht komme ich nach, indem ich mich in jedem Falle auf die
schwächere Seite stelle, nicht in der Meinung, daß das geringere Gewicht
meiner unbedeutenden Person eine meßbare Wirkung auszuüben vermöchte,
sondern in der Voraussetzung, daß die zur Hervorbringung der Wirkung er¬
forderliche Anzahl von Atomen ihre Schuldigkeit thun werde. Aus dieser mir
inwohnenden natürlichen Molekularbewegung allein schon erklärt es sich, daß
ich gegen die Hierarchie auftreten mußte zu eiuer Zeit, wo sie einen Teil ihrer
geistlichen Unterthanen vergewaltigte, daß ich es dagegen nicht allein für
schimpflich, sondern auch für gemeinschädlich gehalten haben würde, auf die
Hierarchie mit loszuhauen in einer Zeit, wo sie im deutschen Reiche verfolgt
wurde; erklärt es sich ferner, daß ich auf der Seite der Negierung gewöhnlich
nur in solchen Fällen gestanden habe, wo es sich um Fragen der auswärtigen
Politik, um den Bestand oder die Machtstellung des Vaterlandes handelte, in
innern Fragen aber nur, solange sie sich selber durch ihre Sozialpolitik auf
die Seite der Schwachen stellte. Auf die Seite der gesetzlich anerkannten
Autoritäten würde mich der beschriebne Naturtrieb dann führen, wenn diese
Autoritäten einmal ernstlich bedroht wären, und die Gesellschaftsordnung in
die Gefahr der Auflösung geriete. Ein solcher Augenblick ist aber seit 1348,
wo ich noch ein Knabe war, noch nicht dagewesen, und auch im Jahee 1848
war nur der Schein einer Gefahr vorhanden; niemand konnte sich weniger nach
dem Chaos sehnen als die Professoren, Justizrate, Kommerzienräte und sonstigen
guten Revolutionäre jener Tage, und die paar Pöbelkrawalle, die dabei vor¬
fielen, hatten wahrhaftig nichts Welthistorisches an sich. Überhaupt ist das
Gescllschaftsgewebe in allen Gesellschastsorganismen, denen die zur Fortdauer
notwendige Lebenskraft innewohnt, viel zu fest, als daß es durch antisoziale
Elemente, wie etwa durch Anarchisten oder Verbrecher aufgelöst werden könnte.
Der Fall, daß ein Staat durch Pöbelrevolten untergegangen oder eine Gesell¬
schaft durch eine Arbeiterbewegung aufgelöst worden wäre, ist in der Welt¬
geschichte noch nicht dagewesen. Alle untergegangnen Staaten sind entweder
durch äußere Feinde oder dnrch die Zwietracht ihrer Herrschenden gestürzt
worden. Die alten Despotien des Orients sind immer eine von der andern
verschlungen worden. Den kleinen griechischen Staaten hat das übermächtige
Mazedonien ihre Unabhängigkeit geraubt. Die rönnscheu Bürgerkriege waren
nicht Emanzipationskämpfe des Proletariats, sondern Kämpfe mächtiger Feld¬
herren und Familien um die Herrschaft und um die Beute. Der Sklavenkrieg
wurde nur durch den vorhergehenden Bürgerkrieg möglich und hat den Bestand
des Staates nicht ernstlich gefährdet. Gefallen ist dann später das römische
Reich durch die Barbaren; Arbeiteraufstände haben bei seinem Untergange gar


Endlich den Beruf gefunden

einer auf die Aufhebung der Störung gerichteten Thätigkeit zwingen. Diese
Thätigkeit hat nun natürlicherweise jedesmal damit zu beginnen, daß eine An¬
zahl Atome von der Seite des Übergewichts auf die entgegengesetzte Seite eilen,
und dieser Atompflicht komme ich nach, indem ich mich in jedem Falle auf die
schwächere Seite stelle, nicht in der Meinung, daß das geringere Gewicht
meiner unbedeutenden Person eine meßbare Wirkung auszuüben vermöchte,
sondern in der Voraussetzung, daß die zur Hervorbringung der Wirkung er¬
forderliche Anzahl von Atomen ihre Schuldigkeit thun werde. Aus dieser mir
inwohnenden natürlichen Molekularbewegung allein schon erklärt es sich, daß
ich gegen die Hierarchie auftreten mußte zu eiuer Zeit, wo sie einen Teil ihrer
geistlichen Unterthanen vergewaltigte, daß ich es dagegen nicht allein für
schimpflich, sondern auch für gemeinschädlich gehalten haben würde, auf die
Hierarchie mit loszuhauen in einer Zeit, wo sie im deutschen Reiche verfolgt
wurde; erklärt es sich ferner, daß ich auf der Seite der Negierung gewöhnlich
nur in solchen Fällen gestanden habe, wo es sich um Fragen der auswärtigen
Politik, um den Bestand oder die Machtstellung des Vaterlandes handelte, in
innern Fragen aber nur, solange sie sich selber durch ihre Sozialpolitik auf
die Seite der Schwachen stellte. Auf die Seite der gesetzlich anerkannten
Autoritäten würde mich der beschriebne Naturtrieb dann führen, wenn diese
Autoritäten einmal ernstlich bedroht wären, und die Gesellschaftsordnung in
die Gefahr der Auflösung geriete. Ein solcher Augenblick ist aber seit 1348,
wo ich noch ein Knabe war, noch nicht dagewesen, und auch im Jahee 1848
war nur der Schein einer Gefahr vorhanden; niemand konnte sich weniger nach
dem Chaos sehnen als die Professoren, Justizrate, Kommerzienräte und sonstigen
guten Revolutionäre jener Tage, und die paar Pöbelkrawalle, die dabei vor¬
fielen, hatten wahrhaftig nichts Welthistorisches an sich. Überhaupt ist das
Gescllschaftsgewebe in allen Gesellschastsorganismen, denen die zur Fortdauer
notwendige Lebenskraft innewohnt, viel zu fest, als daß es durch antisoziale
Elemente, wie etwa durch Anarchisten oder Verbrecher aufgelöst werden könnte.
Der Fall, daß ein Staat durch Pöbelrevolten untergegangen oder eine Gesell¬
schaft durch eine Arbeiterbewegung aufgelöst worden wäre, ist in der Welt¬
geschichte noch nicht dagewesen. Alle untergegangnen Staaten sind entweder
durch äußere Feinde oder dnrch die Zwietracht ihrer Herrschenden gestürzt
worden. Die alten Despotien des Orients sind immer eine von der andern
verschlungen worden. Den kleinen griechischen Staaten hat das übermächtige
Mazedonien ihre Unabhängigkeit geraubt. Die rönnscheu Bürgerkriege waren
nicht Emanzipationskämpfe des Proletariats, sondern Kämpfe mächtiger Feld¬
herren und Familien um die Herrschaft und um die Beute. Der Sklavenkrieg
wurde nur durch den vorhergehenden Bürgerkrieg möglich und hat den Bestand
des Staates nicht ernstlich gefährdet. Gefallen ist dann später das römische
Reich durch die Barbaren; Arbeiteraufstände haben bei seinem Untergange gar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0638" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226868"/>
          <fw type="header" place="top"> Endlich den Beruf gefunden</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1612" prev="#ID_1611" next="#ID_1613"> einer auf die Aufhebung der Störung gerichteten Thätigkeit zwingen. Diese<lb/>
Thätigkeit hat nun natürlicherweise jedesmal damit zu beginnen, daß eine An¬<lb/>
zahl Atome von der Seite des Übergewichts auf die entgegengesetzte Seite eilen,<lb/>
und dieser Atompflicht komme ich nach, indem ich mich in jedem Falle auf die<lb/>
schwächere Seite stelle, nicht in der Meinung, daß das geringere Gewicht<lb/>
meiner unbedeutenden Person eine meßbare Wirkung auszuüben vermöchte,<lb/>
sondern in der Voraussetzung, daß die zur Hervorbringung der Wirkung er¬<lb/>
forderliche Anzahl von Atomen ihre Schuldigkeit thun werde. Aus dieser mir<lb/>
inwohnenden natürlichen Molekularbewegung allein schon erklärt es sich, daß<lb/>
ich gegen die Hierarchie auftreten mußte zu eiuer Zeit, wo sie einen Teil ihrer<lb/>
geistlichen Unterthanen vergewaltigte, daß ich es dagegen nicht allein für<lb/>
schimpflich, sondern auch für gemeinschädlich gehalten haben würde, auf die<lb/>
Hierarchie mit loszuhauen in einer Zeit, wo sie im deutschen Reiche verfolgt<lb/>
wurde; erklärt es sich ferner, daß ich auf der Seite der Negierung gewöhnlich<lb/>
nur in solchen Fällen gestanden habe, wo es sich um Fragen der auswärtigen<lb/>
Politik, um den Bestand oder die Machtstellung des Vaterlandes handelte, in<lb/>
innern Fragen aber nur, solange sie sich selber durch ihre Sozialpolitik auf<lb/>
die Seite der Schwachen stellte. Auf die Seite der gesetzlich anerkannten<lb/>
Autoritäten würde mich der beschriebne Naturtrieb dann führen, wenn diese<lb/>
Autoritäten einmal ernstlich bedroht wären, und die Gesellschaftsordnung in<lb/>
die Gefahr der Auflösung geriete. Ein solcher Augenblick ist aber seit 1348,<lb/>
wo ich noch ein Knabe war, noch nicht dagewesen, und auch im Jahee 1848<lb/>
war nur der Schein einer Gefahr vorhanden; niemand konnte sich weniger nach<lb/>
dem Chaos sehnen als die Professoren, Justizrate, Kommerzienräte und sonstigen<lb/>
guten Revolutionäre jener Tage, und die paar Pöbelkrawalle, die dabei vor¬<lb/>
fielen, hatten wahrhaftig nichts Welthistorisches an sich. Überhaupt ist das<lb/>
Gescllschaftsgewebe in allen Gesellschastsorganismen, denen die zur Fortdauer<lb/>
notwendige Lebenskraft innewohnt, viel zu fest, als daß es durch antisoziale<lb/>
Elemente, wie etwa durch Anarchisten oder Verbrecher aufgelöst werden könnte.<lb/>
Der Fall, daß ein Staat durch Pöbelrevolten untergegangen oder eine Gesell¬<lb/>
schaft durch eine Arbeiterbewegung aufgelöst worden wäre, ist in der Welt¬<lb/>
geschichte noch nicht dagewesen. Alle untergegangnen Staaten sind entweder<lb/>
durch äußere Feinde oder dnrch die Zwietracht ihrer Herrschenden gestürzt<lb/>
worden. Die alten Despotien des Orients sind immer eine von der andern<lb/>
verschlungen worden. Den kleinen griechischen Staaten hat das übermächtige<lb/>
Mazedonien ihre Unabhängigkeit geraubt. Die rönnscheu Bürgerkriege waren<lb/>
nicht Emanzipationskämpfe des Proletariats, sondern Kämpfe mächtiger Feld¬<lb/>
herren und Familien um die Herrschaft und um die Beute. Der Sklavenkrieg<lb/>
wurde nur durch den vorhergehenden Bürgerkrieg möglich und hat den Bestand<lb/>
des Staates nicht ernstlich gefährdet. Gefallen ist dann später das römische<lb/>
Reich durch die Barbaren; Arbeiteraufstände haben bei seinem Untergange gar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0638] Endlich den Beruf gefunden einer auf die Aufhebung der Störung gerichteten Thätigkeit zwingen. Diese Thätigkeit hat nun natürlicherweise jedesmal damit zu beginnen, daß eine An¬ zahl Atome von der Seite des Übergewichts auf die entgegengesetzte Seite eilen, und dieser Atompflicht komme ich nach, indem ich mich in jedem Falle auf die schwächere Seite stelle, nicht in der Meinung, daß das geringere Gewicht meiner unbedeutenden Person eine meßbare Wirkung auszuüben vermöchte, sondern in der Voraussetzung, daß die zur Hervorbringung der Wirkung er¬ forderliche Anzahl von Atomen ihre Schuldigkeit thun werde. Aus dieser mir inwohnenden natürlichen Molekularbewegung allein schon erklärt es sich, daß ich gegen die Hierarchie auftreten mußte zu eiuer Zeit, wo sie einen Teil ihrer geistlichen Unterthanen vergewaltigte, daß ich es dagegen nicht allein für schimpflich, sondern auch für gemeinschädlich gehalten haben würde, auf die Hierarchie mit loszuhauen in einer Zeit, wo sie im deutschen Reiche verfolgt wurde; erklärt es sich ferner, daß ich auf der Seite der Negierung gewöhnlich nur in solchen Fällen gestanden habe, wo es sich um Fragen der auswärtigen Politik, um den Bestand oder die Machtstellung des Vaterlandes handelte, in innern Fragen aber nur, solange sie sich selber durch ihre Sozialpolitik auf die Seite der Schwachen stellte. Auf die Seite der gesetzlich anerkannten Autoritäten würde mich der beschriebne Naturtrieb dann führen, wenn diese Autoritäten einmal ernstlich bedroht wären, und die Gesellschaftsordnung in die Gefahr der Auflösung geriete. Ein solcher Augenblick ist aber seit 1348, wo ich noch ein Knabe war, noch nicht dagewesen, und auch im Jahee 1848 war nur der Schein einer Gefahr vorhanden; niemand konnte sich weniger nach dem Chaos sehnen als die Professoren, Justizrate, Kommerzienräte und sonstigen guten Revolutionäre jener Tage, und die paar Pöbelkrawalle, die dabei vor¬ fielen, hatten wahrhaftig nichts Welthistorisches an sich. Überhaupt ist das Gescllschaftsgewebe in allen Gesellschastsorganismen, denen die zur Fortdauer notwendige Lebenskraft innewohnt, viel zu fest, als daß es durch antisoziale Elemente, wie etwa durch Anarchisten oder Verbrecher aufgelöst werden könnte. Der Fall, daß ein Staat durch Pöbelrevolten untergegangen oder eine Gesell¬ schaft durch eine Arbeiterbewegung aufgelöst worden wäre, ist in der Welt¬ geschichte noch nicht dagewesen. Alle untergegangnen Staaten sind entweder durch äußere Feinde oder dnrch die Zwietracht ihrer Herrschenden gestürzt worden. Die alten Despotien des Orients sind immer eine von der andern verschlungen worden. Den kleinen griechischen Staaten hat das übermächtige Mazedonien ihre Unabhängigkeit geraubt. Die rönnscheu Bürgerkriege waren nicht Emanzipationskämpfe des Proletariats, sondern Kämpfe mächtiger Feld¬ herren und Familien um die Herrschaft und um die Beute. Der Sklavenkrieg wurde nur durch den vorhergehenden Bürgerkrieg möglich und hat den Bestand des Staates nicht ernstlich gefährdet. Gefallen ist dann später das römische Reich durch die Barbaren; Arbeiteraufstände haben bei seinem Untergange gar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/638
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/638>, abgerufen am 26.06.2024.