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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Endlich den Beruf gefunden

mit Worten. Das mag sein Seelsorger rügen, den Publizisten geht es nichts
um. Der hat es nur mit den ungerechten Thaten zu thun, und die können
nur vom Starken gegen den Schwachen verübt werden. So bin ich denn
jederzeit für die Jungen gegen die Alten, für die Kinder gegen die Erwachsenen,
sür die Unterthanen gegen die Regierungen, für die Armen gegen die Reichen,
für die Lohnarbeiter gegen die Brotherren eingetreten, nur für das schwächere
Geschlecht Pflege ich, in Erinnerung an die Eisenfaust der Rehberger Elise und
an manche andre unstet- und znngcngewaltige Amazone, nicht von vornherein
ohne genauere Prüfung des einzelnen Falles einzutreten, abgesehen von solchen
Vorkommnissen, wo der Mißbrauch der Gewalt, den die männlichen Schöpfer
und Vollstrecker des Gesetzes verüben, in die Augen springt, z. B. wenn sie
den Lohnarbeiterinncn die Teilnahme an politischen Vereinen und am Lohn¬
kampfe der Männer verbieten, zugleich aber das Weib, das sich auf eine vom
Gesetze verbotne Weise den Lebensunterhalt verschafft, als Verbrecherin be¬
strafen. Die Gesinnung, der ein solches Verfahren entspringt, darf ich mit
dem meiner Ansicht nach allein zutreffenden Worte nicht charakterisiren. Auch
hierin haben die Alten das Vernünftige getroffen, indem sie Personen, denen
sie die Bewegungsfreiheit versagten, mit keiner juristischer Verantwortung be¬
lasteten; für die Vergehungen der Unmündigen und der Sklaven wurden nicht
diese, sondern wurde ihr Mtvr tanMas verantwortlich gemacht. Daß ein un¬
abhängiger Publizist von vornherein stets die Partei der Beherrschten und
nicht die der Herrschenden ergreift, müßte ganz allgemein als selbstverständlich
anerkannt werden. Die Herrschenden haben das Geld, die Soldaten, die
Kanonen, die Gerichte, die Polizei, die gesellschaftlichen und Staatseinrichtungen,
die besoldete Intelligenz, die den bei weitem größten Teil aller vorhandnen
Intelligenz umfaßt; zu was in aller Welt sollten sie auch noch die paar Ver¬
treter der freien Intelligenz nötig haben? Wehe, wenn es ihnen gelänge, auch
die noch zu gewinnen! Eine so ungeheure Aufhäufung der Gewalt, eine so
unerträgliche Störung des Gleichgewichts zu Gunsten der bewegungsunlustigen
Schicht müßte unbedingt rasche Verholzung und Absterben des Gesellschafts¬
körpers zur Folge haben.

Das Gleichgewicht gehört zu den Dingen, die mir immer am meisten
am Herzen gelegen haben, denn die Harmonie des Weltalls beruht auf dem
Gleichgewicht der Teile, das sich nach jeder Störung von selbst wieder
herstellt, in den Sonnensystemen des Fixsternhimmels wie im Luftzuge des
Ofens, in der durch eine elektrische Batterie aufgeregten Kupferlösuug wie in
der durch einen Nagel gerissenen Wunde an der Hand und in zwei durch
chemische Anziehung zur Scheidung veranlaßten Atomehen. Diese Harmonie
ist das Vorbild, dem die Gesellschaft zuzustreben hat, ohne daß sie jemals zur
ungestörten Harmonie gelangen dürfte, denn eben die Gleichgewichtsstörungen
sind es, die das Leben des Gesellschaftsorganismus erhalten, indem sie zu


Endlich den Beruf gefunden

mit Worten. Das mag sein Seelsorger rügen, den Publizisten geht es nichts
um. Der hat es nur mit den ungerechten Thaten zu thun, und die können
nur vom Starken gegen den Schwachen verübt werden. So bin ich denn
jederzeit für die Jungen gegen die Alten, für die Kinder gegen die Erwachsenen,
sür die Unterthanen gegen die Regierungen, für die Armen gegen die Reichen,
für die Lohnarbeiter gegen die Brotherren eingetreten, nur für das schwächere
Geschlecht Pflege ich, in Erinnerung an die Eisenfaust der Rehberger Elise und
an manche andre unstet- und znngcngewaltige Amazone, nicht von vornherein
ohne genauere Prüfung des einzelnen Falles einzutreten, abgesehen von solchen
Vorkommnissen, wo der Mißbrauch der Gewalt, den die männlichen Schöpfer
und Vollstrecker des Gesetzes verüben, in die Augen springt, z. B. wenn sie
den Lohnarbeiterinncn die Teilnahme an politischen Vereinen und am Lohn¬
kampfe der Männer verbieten, zugleich aber das Weib, das sich auf eine vom
Gesetze verbotne Weise den Lebensunterhalt verschafft, als Verbrecherin be¬
strafen. Die Gesinnung, der ein solches Verfahren entspringt, darf ich mit
dem meiner Ansicht nach allein zutreffenden Worte nicht charakterisiren. Auch
hierin haben die Alten das Vernünftige getroffen, indem sie Personen, denen
sie die Bewegungsfreiheit versagten, mit keiner juristischer Verantwortung be¬
lasteten; für die Vergehungen der Unmündigen und der Sklaven wurden nicht
diese, sondern wurde ihr Mtvr tanMas verantwortlich gemacht. Daß ein un¬
abhängiger Publizist von vornherein stets die Partei der Beherrschten und
nicht die der Herrschenden ergreift, müßte ganz allgemein als selbstverständlich
anerkannt werden. Die Herrschenden haben das Geld, die Soldaten, die
Kanonen, die Gerichte, die Polizei, die gesellschaftlichen und Staatseinrichtungen,
die besoldete Intelligenz, die den bei weitem größten Teil aller vorhandnen
Intelligenz umfaßt; zu was in aller Welt sollten sie auch noch die paar Ver¬
treter der freien Intelligenz nötig haben? Wehe, wenn es ihnen gelänge, auch
die noch zu gewinnen! Eine so ungeheure Aufhäufung der Gewalt, eine so
unerträgliche Störung des Gleichgewichts zu Gunsten der bewegungsunlustigen
Schicht müßte unbedingt rasche Verholzung und Absterben des Gesellschafts¬
körpers zur Folge haben.

Das Gleichgewicht gehört zu den Dingen, die mir immer am meisten
am Herzen gelegen haben, denn die Harmonie des Weltalls beruht auf dem
Gleichgewicht der Teile, das sich nach jeder Störung von selbst wieder
herstellt, in den Sonnensystemen des Fixsternhimmels wie im Luftzuge des
Ofens, in der durch eine elektrische Batterie aufgeregten Kupferlösuug wie in
der durch einen Nagel gerissenen Wunde an der Hand und in zwei durch
chemische Anziehung zur Scheidung veranlaßten Atomehen. Diese Harmonie
ist das Vorbild, dem die Gesellschaft zuzustreben hat, ohne daß sie jemals zur
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[0637] Endlich den Beruf gefunden mit Worten. Das mag sein Seelsorger rügen, den Publizisten geht es nichts um. Der hat es nur mit den ungerechten Thaten zu thun, und die können nur vom Starken gegen den Schwachen verübt werden. So bin ich denn jederzeit für die Jungen gegen die Alten, für die Kinder gegen die Erwachsenen, sür die Unterthanen gegen die Regierungen, für die Armen gegen die Reichen, für die Lohnarbeiter gegen die Brotherren eingetreten, nur für das schwächere Geschlecht Pflege ich, in Erinnerung an die Eisenfaust der Rehberger Elise und an manche andre unstet- und znngcngewaltige Amazone, nicht von vornherein ohne genauere Prüfung des einzelnen Falles einzutreten, abgesehen von solchen Vorkommnissen, wo der Mißbrauch der Gewalt, den die männlichen Schöpfer und Vollstrecker des Gesetzes verüben, in die Augen springt, z. B. wenn sie den Lohnarbeiterinncn die Teilnahme an politischen Vereinen und am Lohn¬ kampfe der Männer verbieten, zugleich aber das Weib, das sich auf eine vom Gesetze verbotne Weise den Lebensunterhalt verschafft, als Verbrecherin be¬ strafen. Die Gesinnung, der ein solches Verfahren entspringt, darf ich mit dem meiner Ansicht nach allein zutreffenden Worte nicht charakterisiren. Auch hierin haben die Alten das Vernünftige getroffen, indem sie Personen, denen sie die Bewegungsfreiheit versagten, mit keiner juristischer Verantwortung be¬ lasteten; für die Vergehungen der Unmündigen und der Sklaven wurden nicht diese, sondern wurde ihr Mtvr tanMas verantwortlich gemacht. Daß ein un¬ abhängiger Publizist von vornherein stets die Partei der Beherrschten und nicht die der Herrschenden ergreift, müßte ganz allgemein als selbstverständlich anerkannt werden. Die Herrschenden haben das Geld, die Soldaten, die Kanonen, die Gerichte, die Polizei, die gesellschaftlichen und Staatseinrichtungen, die besoldete Intelligenz, die den bei weitem größten Teil aller vorhandnen Intelligenz umfaßt; zu was in aller Welt sollten sie auch noch die paar Ver¬ treter der freien Intelligenz nötig haben? Wehe, wenn es ihnen gelänge, auch die noch zu gewinnen! Eine so ungeheure Aufhäufung der Gewalt, eine so unerträgliche Störung des Gleichgewichts zu Gunsten der bewegungsunlustigen Schicht müßte unbedingt rasche Verholzung und Absterben des Gesellschafts¬ körpers zur Folge haben. Das Gleichgewicht gehört zu den Dingen, die mir immer am meisten am Herzen gelegen haben, denn die Harmonie des Weltalls beruht auf dem Gleichgewicht der Teile, das sich nach jeder Störung von selbst wieder herstellt, in den Sonnensystemen des Fixsternhimmels wie im Luftzuge des Ofens, in der durch eine elektrische Batterie aufgeregten Kupferlösuug wie in der durch einen Nagel gerissenen Wunde an der Hand und in zwei durch chemische Anziehung zur Scheidung veranlaßten Atomehen. Diese Harmonie ist das Vorbild, dem die Gesellschaft zuzustreben hat, ohne daß sie jemals zur ungestörten Harmonie gelangen dürfte, denn eben die Gleichgewichtsstörungen sind es, die das Leben des Gesellschaftsorganismus erhalten, indem sie zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/637>, abgerufen am 26.06.2024.