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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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aufhörlich umbilden oder in asiatischer Weise erstarren und ohnmächtig werden
will. Daher ist ihm nichts gefährlicher als die Verholzung, und diese Gefahr
ist niemals größer gewesen als heute, Und deshalb wäre es ein Unglück, wenn
es keine wilden Publizisten mehr gäbe, die frei vom Parteizwange und durch
keinerlei Bande an die Staatsmaschine gefesselt Kritik übten. Kritik ist an
sich nichts negatives. Gewiß, es giebt auch eine negative Kritik, die ver¬
werflich ist, aber die echte und richtige Kritik ist das Mittel, die Lebens¬
säfte bei jeder Stockung wieder in Fluß zu bringen, sie ist daher das Positivste.
Sie ist positiv wie Plato, der der schlechten Wirklichkeit seiner Zeit seinen
Idealstaat gegenüberstellte, positiv wie der Geist des Christentums, der seit
1900 Jahren die Welt richtet und verdammt und dadurch die Lebenskräfte
der Liebe, der Gerechtigkeit und des Strebens nach Vervollkommnung immer
wieder aufs neue in ihr erweckt. Befriedigung genährt die Publizistik
natürlich nur dann, wenn man sie nicht rein handwerksmüßig bloß als Brot¬
erwerb betreibt, sondern aus der Not eine Tugend macht und dabei seine
eignen Gedanken über das ausspricht, was gut, recht und erstrebenswert sei.
Das wird dann der Natur der Sache nach gewöhnlich auf eine Kritik des
Bestehenden hinauslaufen, und die liegt mir umso mehr nahe, als ich mit
zwei Leidenschaften behaftet bin, die nicht allein mit meinem Epikureismus im
Widerspruch stehen, sondern von denen sich auch die Stoa frei zu halte" sucht,
die ja jede Leidenschaft ohne Ausnahme für ein Übel erklärt. Ich leide an
einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen Lebens¬
erfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeitsgefühl,
daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht. Meine
Neigung, mich bei jedem Streit auf die schwächere Seite zu stelle", steht mit
diesem empfindlichen Gerechtigkeitsgefühl nicht im Widerspruch, sondern ist nur
ein Ausfluß davon. Denn Übermacht erzeugt überall und immer mit Not¬
wendigkeit Ungerechtigkeit, so notwendig, daß die Verfolgten und Unterdrückten,
sobald sie die Macht erlangen, sich sofort in Verfolger und Unterdrücker ver¬
wandeln. Nur der Einzelne vermag sich von dieser Wirkung frei zu erhalten,
niemals ein Stand, eine Partei, eine Klasse, ein Staat. Jede länger an¬
haltende Herrschaft einer Gesellschaftsschicht erzeugt ein fast unzerreißbares Ge¬
flecht ungerechter Gesetze und Einrichtungen und türmt ein Gebirge verübter
Ungerechtigkeiten auf; und auch damit steht es heute schlimmer als in irgend
einer frühern Zeit, weil die heutige Gesellschaftsordnung dem einzelnen Mit¬
gliede der herrschenden Klassen die Verantwortung für das Schicksal der ihm
dienenden abnimmt und sie entweder diesen, als vorgeblich freien Persönlich¬
keiten, aufbürdet oder sie irgend einer unpersönlichen Macht zuschiebt: der
Staats- und Wirtschaftsordnung, dem gesellschaftlichen Zusammenhange, dem
Naturgesetz, der Entwicklung. Der Schwache kann freilich auch ungerecht gegen
den Starken sein und ist es thaisächlich oft, aber doch nur im Herzen und


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aufhörlich umbilden oder in asiatischer Weise erstarren und ohnmächtig werden
will. Daher ist ihm nichts gefährlicher als die Verholzung, und diese Gefahr
ist niemals größer gewesen als heute, Und deshalb wäre es ein Unglück, wenn
es keine wilden Publizisten mehr gäbe, die frei vom Parteizwange und durch
keinerlei Bande an die Staatsmaschine gefesselt Kritik übten. Kritik ist an
sich nichts negatives. Gewiß, es giebt auch eine negative Kritik, die ver¬
werflich ist, aber die echte und richtige Kritik ist das Mittel, die Lebens¬
säfte bei jeder Stockung wieder in Fluß zu bringen, sie ist daher das Positivste.
Sie ist positiv wie Plato, der der schlechten Wirklichkeit seiner Zeit seinen
Idealstaat gegenüberstellte, positiv wie der Geist des Christentums, der seit
1900 Jahren die Welt richtet und verdammt und dadurch die Lebenskräfte
der Liebe, der Gerechtigkeit und des Strebens nach Vervollkommnung immer
wieder aufs neue in ihr erweckt. Befriedigung genährt die Publizistik
natürlich nur dann, wenn man sie nicht rein handwerksmüßig bloß als Brot¬
erwerb betreibt, sondern aus der Not eine Tugend macht und dabei seine
eignen Gedanken über das ausspricht, was gut, recht und erstrebenswert sei.
Das wird dann der Natur der Sache nach gewöhnlich auf eine Kritik des
Bestehenden hinauslaufen, und die liegt mir umso mehr nahe, als ich mit
zwei Leidenschaften behaftet bin, die nicht allein mit meinem Epikureismus im
Widerspruch stehen, sondern von denen sich auch die Stoa frei zu halte» sucht,
die ja jede Leidenschaft ohne Ausnahme für ein Übel erklärt. Ich leide an
einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen Lebens¬
erfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeitsgefühl,
daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht. Meine
Neigung, mich bei jedem Streit auf die schwächere Seite zu stelle», steht mit
diesem empfindlichen Gerechtigkeitsgefühl nicht im Widerspruch, sondern ist nur
ein Ausfluß davon. Denn Übermacht erzeugt überall und immer mit Not¬
wendigkeit Ungerechtigkeit, so notwendig, daß die Verfolgten und Unterdrückten,
sobald sie die Macht erlangen, sich sofort in Verfolger und Unterdrücker ver¬
wandeln. Nur der Einzelne vermag sich von dieser Wirkung frei zu erhalten,
niemals ein Stand, eine Partei, eine Klasse, ein Staat. Jede länger an¬
haltende Herrschaft einer Gesellschaftsschicht erzeugt ein fast unzerreißbares Ge¬
flecht ungerechter Gesetze und Einrichtungen und türmt ein Gebirge verübter
Ungerechtigkeiten auf; und auch damit steht es heute schlimmer als in irgend
einer frühern Zeit, weil die heutige Gesellschaftsordnung dem einzelnen Mit¬
gliede der herrschenden Klassen die Verantwortung für das Schicksal der ihm
dienenden abnimmt und sie entweder diesen, als vorgeblich freien Persönlich¬
keiten, aufbürdet oder sie irgend einer unpersönlichen Macht zuschiebt: der
Staats- und Wirtschaftsordnung, dem gesellschaftlichen Zusammenhange, dem
Naturgesetz, der Entwicklung. Der Schwache kann freilich auch ungerecht gegen
den Starken sein und ist es thaisächlich oft, aber doch nur im Herzen und


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[0636] Lüttich den Beruf gefunSen aufhörlich umbilden oder in asiatischer Weise erstarren und ohnmächtig werden will. Daher ist ihm nichts gefährlicher als die Verholzung, und diese Gefahr ist niemals größer gewesen als heute, Und deshalb wäre es ein Unglück, wenn es keine wilden Publizisten mehr gäbe, die frei vom Parteizwange und durch keinerlei Bande an die Staatsmaschine gefesselt Kritik übten. Kritik ist an sich nichts negatives. Gewiß, es giebt auch eine negative Kritik, die ver¬ werflich ist, aber die echte und richtige Kritik ist das Mittel, die Lebens¬ säfte bei jeder Stockung wieder in Fluß zu bringen, sie ist daher das Positivste. Sie ist positiv wie Plato, der der schlechten Wirklichkeit seiner Zeit seinen Idealstaat gegenüberstellte, positiv wie der Geist des Christentums, der seit 1900 Jahren die Welt richtet und verdammt und dadurch die Lebenskräfte der Liebe, der Gerechtigkeit und des Strebens nach Vervollkommnung immer wieder aufs neue in ihr erweckt. Befriedigung genährt die Publizistik natürlich nur dann, wenn man sie nicht rein handwerksmüßig bloß als Brot¬ erwerb betreibt, sondern aus der Not eine Tugend macht und dabei seine eignen Gedanken über das ausspricht, was gut, recht und erstrebenswert sei. Das wird dann der Natur der Sache nach gewöhnlich auf eine Kritik des Bestehenden hinauslaufen, und die liegt mir umso mehr nahe, als ich mit zwei Leidenschaften behaftet bin, die nicht allein mit meinem Epikureismus im Widerspruch stehen, sondern von denen sich auch die Stoa frei zu halte» sucht, die ja jede Leidenschaft ohne Ausnahme für ein Übel erklärt. Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen Lebens¬ erfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeitsgefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht. Meine Neigung, mich bei jedem Streit auf die schwächere Seite zu stelle», steht mit diesem empfindlichen Gerechtigkeitsgefühl nicht im Widerspruch, sondern ist nur ein Ausfluß davon. Denn Übermacht erzeugt überall und immer mit Not¬ wendigkeit Ungerechtigkeit, so notwendig, daß die Verfolgten und Unterdrückten, sobald sie die Macht erlangen, sich sofort in Verfolger und Unterdrücker ver¬ wandeln. Nur der Einzelne vermag sich von dieser Wirkung frei zu erhalten, niemals ein Stand, eine Partei, eine Klasse, ein Staat. Jede länger an¬ haltende Herrschaft einer Gesellschaftsschicht erzeugt ein fast unzerreißbares Ge¬ flecht ungerechter Gesetze und Einrichtungen und türmt ein Gebirge verübter Ungerechtigkeiten auf; und auch damit steht es heute schlimmer als in irgend einer frühern Zeit, weil die heutige Gesellschaftsordnung dem einzelnen Mit¬ gliede der herrschenden Klassen die Verantwortung für das Schicksal der ihm dienenden abnimmt und sie entweder diesen, als vorgeblich freien Persönlich¬ keiten, aufbürdet oder sie irgend einer unpersönlichen Macht zuschiebt: der Staats- und Wirtschaftsordnung, dem gesellschaftlichen Zusammenhange, dem Naturgesetz, der Entwicklung. Der Schwache kann freilich auch ungerecht gegen den Starken sein und ist es thaisächlich oft, aber doch nur im Herzen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/636>, abgerufen am 26.06.2024.