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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Endlich den Beruf gefunden

arbeiten; dient diesem doch alles, was man studirt, liest und erführe/ Nichts
hindert einen, wenn man ein Gedankengewebe im Kopfe fertig hat, es in Papier
und Tinte zu verkörpern und an irgend eine Redaktion zu schicken. Und be¬
kommt man hie und da einmal ein Manuskript zurückgeschickt, so ist die Arbeit
nicht verloren, sondern Vorarbeit sür späteres. Ich kenne nichts entsctzlichers
als erzwunge Passivität, als in einer unangenehmen Lage nichts zu ihrer
Änderung thun zu können. Und wie viele befinden sich in dieser Lage! Wie
mancher Droschkenkutscher sitzt von morgens bis abends auf seinem Bock, ohne
daß ihn ein Fahrgast beglückt. Der arme Mann hätte Zeit, die schwierigsten
philosophischen oder mathematischen Probleme, die soziale samt der orientalischen
Frage zu lösen, aber das darf er uicht einmal, denn wenn er sich in schwierige
Gedankenarbeit vertiefte, würde er den einen Fahrgast verpassen, den er zuletzt
noch haben könnte, oder Polizeivorschriften übertreten und fortgejagt werden.
Und was muß der kleine Händler empfinden, der den ganzen Tag in oder
vor seiner Bude bald sitzt, bald steht, bald wie das grimme Pardel im Käfig
auf- und abrennt und dabei sehen muß, wie alle Kunden in das Geschäft
des billigen Mannes laufen, der sein neu eröffnetes Warenhaus mit haus¬
hohen Plataeer und Bemmchenmcinnern (so darf mau wohl Sandwichmänner
übersetzen?) angekündigt hat. Früher war wenigstens noch das "Anreißen"
erlaubt, aber das ist jetzt schon lange als unlauterer Wettbewerb verboten;
was könnte also der arme Mann thun, um Kunden anzuziehn? Gar nichts,
da er es in der Reklame, Schaufensterdekoration und reichen Auswahl doch
nicht mit dem Konkurrenten aufnehmen kann. Armer Jürgen, wie leid thust
du mir heute noch, wenn ich dein gedenke! Jürgen war der vollkommenste
aller Apotheker, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe; uicht allein
tüchtig in seinem Berufe, sondern auch ein stattlicher, schöner junger Mann,
wirklich gebildet, angenehmer Gesellschafter und noch von keiner Spur von
Verrücktheit angeflogen. Er war ein Hamburger, hatte mit seiner Braut zu¬
sammen so viel, daß es für den Ankauf einer kleinen Dorfapotheke reichte, und
fand gerade zu rechter Zeit eine solche angezeigt. Sie war ein reizendes
Häuschen mit einem reizenden Gärtchen in einer reizenden Gegend am Fuße
des Gebirges, und Jürgen rief, als er zur Besichtigung hinkam, bei ihrem
Anblick aus: Reizend schön! Der Besitzer hatte sich auf den Besuch vorbereitet;
mit seinem Bruder im Alkohol, dem Arzte des Ortes, hatte er verabredet, daß
dieser aller zehn Minuten seine Dienstmagd mit einem Scheinrezept schicken
sollte. Das geschah. Der Apotheker wurde aller zehn Minuten aus dem Wohn¬
zimmer in den Laden geklingelt. Wohl eine Epidemie? fragte der Hamburger,
der diese Unterbrechungen der Zwiesprache reizend fand. O nein, erwiderte
der alte Spitzbube gleichmütig, nur der gewöhnliche Geschäftsgang. Der
Hamburger schloß ab, fuhr glückselig nach Hause, heiratete seine wirklich liebens¬
würdige Braut und zog mit ihr ein in das reizende Nest. Kein Gekreisch der


Endlich den Beruf gefunden

arbeiten; dient diesem doch alles, was man studirt, liest und erführe/ Nichts
hindert einen, wenn man ein Gedankengewebe im Kopfe fertig hat, es in Papier
und Tinte zu verkörpern und an irgend eine Redaktion zu schicken. Und be¬
kommt man hie und da einmal ein Manuskript zurückgeschickt, so ist die Arbeit
nicht verloren, sondern Vorarbeit sür späteres. Ich kenne nichts entsctzlichers
als erzwunge Passivität, als in einer unangenehmen Lage nichts zu ihrer
Änderung thun zu können. Und wie viele befinden sich in dieser Lage! Wie
mancher Droschkenkutscher sitzt von morgens bis abends auf seinem Bock, ohne
daß ihn ein Fahrgast beglückt. Der arme Mann hätte Zeit, die schwierigsten
philosophischen oder mathematischen Probleme, die soziale samt der orientalischen
Frage zu lösen, aber das darf er uicht einmal, denn wenn er sich in schwierige
Gedankenarbeit vertiefte, würde er den einen Fahrgast verpassen, den er zuletzt
noch haben könnte, oder Polizeivorschriften übertreten und fortgejagt werden.
Und was muß der kleine Händler empfinden, der den ganzen Tag in oder
vor seiner Bude bald sitzt, bald steht, bald wie das grimme Pardel im Käfig
auf- und abrennt und dabei sehen muß, wie alle Kunden in das Geschäft
des billigen Mannes laufen, der sein neu eröffnetes Warenhaus mit haus¬
hohen Plataeer und Bemmchenmcinnern (so darf mau wohl Sandwichmänner
übersetzen?) angekündigt hat. Früher war wenigstens noch das „Anreißen"
erlaubt, aber das ist jetzt schon lange als unlauterer Wettbewerb verboten;
was könnte also der arme Mann thun, um Kunden anzuziehn? Gar nichts,
da er es in der Reklame, Schaufensterdekoration und reichen Auswahl doch
nicht mit dem Konkurrenten aufnehmen kann. Armer Jürgen, wie leid thust
du mir heute noch, wenn ich dein gedenke! Jürgen war der vollkommenste
aller Apotheker, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe; uicht allein
tüchtig in seinem Berufe, sondern auch ein stattlicher, schöner junger Mann,
wirklich gebildet, angenehmer Gesellschafter und noch von keiner Spur von
Verrücktheit angeflogen. Er war ein Hamburger, hatte mit seiner Braut zu¬
sammen so viel, daß es für den Ankauf einer kleinen Dorfapotheke reichte, und
fand gerade zu rechter Zeit eine solche angezeigt. Sie war ein reizendes
Häuschen mit einem reizenden Gärtchen in einer reizenden Gegend am Fuße
des Gebirges, und Jürgen rief, als er zur Besichtigung hinkam, bei ihrem
Anblick aus: Reizend schön! Der Besitzer hatte sich auf den Besuch vorbereitet;
mit seinem Bruder im Alkohol, dem Arzte des Ortes, hatte er verabredet, daß
dieser aller zehn Minuten seine Dienstmagd mit einem Scheinrezept schicken
sollte. Das geschah. Der Apotheker wurde aller zehn Minuten aus dem Wohn¬
zimmer in den Laden geklingelt. Wohl eine Epidemie? fragte der Hamburger,
der diese Unterbrechungen der Zwiesprache reizend fand. O nein, erwiderte
der alte Spitzbube gleichmütig, nur der gewöhnliche Geschäftsgang. Der
Hamburger schloß ab, fuhr glückselig nach Hause, heiratete seine wirklich liebens¬
würdige Braut und zog mit ihr ein in das reizende Nest. Kein Gekreisch der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/633>, abgerufen am 26.06.2024.