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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Lehrkunst und Lehrhandwcrk

danke, daß die Kunst der Pädagogik, wie jede Kunst, im letzten Grunde natürlich
und einfach sei. In den Bemerkungen über die in den einzelnen Fächern und
auf den verschiednen Stufen anzuwendende Methode mag man hie und da
andrer Meinung sein -- Jäger selbst wäre gewiß der letzte, der seine Ansichten
über diese Fragen als unfehlbar hinstellte --, aber in einem Punkte sollte volle
Übereinstimmung herrschen: jeder Gymnasiallehrer, er möge ein Fach vertreten,
welches er wolle, muß es mit Freuden begrüßen, daß ein Mann von Jägers
Bedeutung gegenüber dem starken Zuge unsrer Zeit, alles von oben herab
reglementiren zu wollen, seine Stimme für die Unabhängigkeit der einzelnen
Anstalten und für die Selbstverantwortlichkeit der Lehrer erhoben hat. Über
diesen Angelpunkt der ganzen Unterrichtsfrage, zu dem jeder Lehrer Stellung
zu nehmen hat, äußert sich Jäger unverhohlen an mehrern Stellen des Buches.
Seine Ansicht ist etwa die: Wenn ein Lehrerkollegium über einzelne Be¬
stimmungen des Lehrplans zu einer von der amtlichen Erläuterung abweichenden
Deutung gelangt, oder wenn ein Lehrer auf Grund seines pädagogischen Wissens
und Gewissens eine andre Methode anwendet, als die "neue" oder "neueste,"
so sollen sie das auf ihre Verantwortung nehmen, ohne sich von unifor-
mirungslustigen Schulräten darin beirren zu lassen.

Jäger ist Optimist, aber sein Optimismus, der auf den Sieg des Wahren
und Vernünftigen vertraut und sich durch gelegentliche Vorstöße der Gegenseite
den Humor und die gute Laune nicht verderben läßt, denkt von dem Berufe
des Gymnasiallehrers vornehmer und höher als jene stelzenwandelnde Methodik,
deren Weisheit am letzten Ende darauf hinausläuft, den Unterricht zur
Schablone, den Lehrer zum Automaten zu machen. Daß aber der Optimismus
Jägers einen gesunden und in der Gegenwart sehr berechtigten Pessimismus
nicht ausschließt, zeigt die scharfe Abfertigung, die er der von pädagogischen
Dilettantismus geforderten Großzüchterei des Patriotismus, der Religiosität
und einiger andrer schöner Dinge angedeihen läßt. Aus den Reihen der Neal-
schulmänner ist er mitunter getadelt worden, daß er als einseitiger Humanist
den Bildungswert der alten Sprachen überschätze und in seiner Befangenheit
den andern Fächern nicht gebe, was ihnen gebühre. Dieser Vorwurf hatte
sich vor einigen Jahren aus Anlaß der Rede, womit Jäger die dreiundvierzigste
Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner eröffnete, in der neu¬
sprachlichen, der mathematischen und naturwissenschaftlichen Sektion zu einer
Angriffsbombe verdichtet, die zu uicht geringer Überraschung der Nicht-
eingeweihten in der letzten öffentlichen Sitzung zum Platzen kam. Der in dieser
Weise angegriffne erklärte, daß ihm jede Uuterschützung der sogenannten realen
Fächer fern liege, und für diese Erklärung finden sich in seinem Buche die
besten Belege. Wo er auf die Bedeutung der einzelnen Unterrichtsfächer zu
sprechen kommt, thut er das in einer Weise, daß es meines Erachtens um den
sogenannten realistischen Unterricht wohl bestellt wäre, wenn jeder Vertreter


Grenzboten IV 1897 78
Lehrkunst und Lehrhandwcrk

danke, daß die Kunst der Pädagogik, wie jede Kunst, im letzten Grunde natürlich
und einfach sei. In den Bemerkungen über die in den einzelnen Fächern und
auf den verschiednen Stufen anzuwendende Methode mag man hie und da
andrer Meinung sein — Jäger selbst wäre gewiß der letzte, der seine Ansichten
über diese Fragen als unfehlbar hinstellte —, aber in einem Punkte sollte volle
Übereinstimmung herrschen: jeder Gymnasiallehrer, er möge ein Fach vertreten,
welches er wolle, muß es mit Freuden begrüßen, daß ein Mann von Jägers
Bedeutung gegenüber dem starken Zuge unsrer Zeit, alles von oben herab
reglementiren zu wollen, seine Stimme für die Unabhängigkeit der einzelnen
Anstalten und für die Selbstverantwortlichkeit der Lehrer erhoben hat. Über
diesen Angelpunkt der ganzen Unterrichtsfrage, zu dem jeder Lehrer Stellung
zu nehmen hat, äußert sich Jäger unverhohlen an mehrern Stellen des Buches.
Seine Ansicht ist etwa die: Wenn ein Lehrerkollegium über einzelne Be¬
stimmungen des Lehrplans zu einer von der amtlichen Erläuterung abweichenden
Deutung gelangt, oder wenn ein Lehrer auf Grund seines pädagogischen Wissens
und Gewissens eine andre Methode anwendet, als die „neue" oder „neueste,"
so sollen sie das auf ihre Verantwortung nehmen, ohne sich von unifor-
mirungslustigen Schulräten darin beirren zu lassen.

Jäger ist Optimist, aber sein Optimismus, der auf den Sieg des Wahren
und Vernünftigen vertraut und sich durch gelegentliche Vorstöße der Gegenseite
den Humor und die gute Laune nicht verderben läßt, denkt von dem Berufe
des Gymnasiallehrers vornehmer und höher als jene stelzenwandelnde Methodik,
deren Weisheit am letzten Ende darauf hinausläuft, den Unterricht zur
Schablone, den Lehrer zum Automaten zu machen. Daß aber der Optimismus
Jägers einen gesunden und in der Gegenwart sehr berechtigten Pessimismus
nicht ausschließt, zeigt die scharfe Abfertigung, die er der von pädagogischen
Dilettantismus geforderten Großzüchterei des Patriotismus, der Religiosität
und einiger andrer schöner Dinge angedeihen läßt. Aus den Reihen der Neal-
schulmänner ist er mitunter getadelt worden, daß er als einseitiger Humanist
den Bildungswert der alten Sprachen überschätze und in seiner Befangenheit
den andern Fächern nicht gebe, was ihnen gebühre. Dieser Vorwurf hatte
sich vor einigen Jahren aus Anlaß der Rede, womit Jäger die dreiundvierzigste
Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner eröffnete, in der neu¬
sprachlichen, der mathematischen und naturwissenschaftlichen Sektion zu einer
Angriffsbombe verdichtet, die zu uicht geringer Überraschung der Nicht-
eingeweihten in der letzten öffentlichen Sitzung zum Platzen kam. Der in dieser
Weise angegriffne erklärte, daß ihm jede Uuterschützung der sogenannten realen
Fächer fern liege, und für diese Erklärung finden sich in seinem Buche die
besten Belege. Wo er auf die Bedeutung der einzelnen Unterrichtsfächer zu
sprechen kommt, thut er das in einer Weise, daß es meines Erachtens um den
sogenannten realistischen Unterricht wohl bestellt wäre, wenn jeder Vertreter


Grenzboten IV 1897 78
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[0627] Lehrkunst und Lehrhandwcrk danke, daß die Kunst der Pädagogik, wie jede Kunst, im letzten Grunde natürlich und einfach sei. In den Bemerkungen über die in den einzelnen Fächern und auf den verschiednen Stufen anzuwendende Methode mag man hie und da andrer Meinung sein — Jäger selbst wäre gewiß der letzte, der seine Ansichten über diese Fragen als unfehlbar hinstellte —, aber in einem Punkte sollte volle Übereinstimmung herrschen: jeder Gymnasiallehrer, er möge ein Fach vertreten, welches er wolle, muß es mit Freuden begrüßen, daß ein Mann von Jägers Bedeutung gegenüber dem starken Zuge unsrer Zeit, alles von oben herab reglementiren zu wollen, seine Stimme für die Unabhängigkeit der einzelnen Anstalten und für die Selbstverantwortlichkeit der Lehrer erhoben hat. Über diesen Angelpunkt der ganzen Unterrichtsfrage, zu dem jeder Lehrer Stellung zu nehmen hat, äußert sich Jäger unverhohlen an mehrern Stellen des Buches. Seine Ansicht ist etwa die: Wenn ein Lehrerkollegium über einzelne Be¬ stimmungen des Lehrplans zu einer von der amtlichen Erläuterung abweichenden Deutung gelangt, oder wenn ein Lehrer auf Grund seines pädagogischen Wissens und Gewissens eine andre Methode anwendet, als die „neue" oder „neueste," so sollen sie das auf ihre Verantwortung nehmen, ohne sich von unifor- mirungslustigen Schulräten darin beirren zu lassen. Jäger ist Optimist, aber sein Optimismus, der auf den Sieg des Wahren und Vernünftigen vertraut und sich durch gelegentliche Vorstöße der Gegenseite den Humor und die gute Laune nicht verderben läßt, denkt von dem Berufe des Gymnasiallehrers vornehmer und höher als jene stelzenwandelnde Methodik, deren Weisheit am letzten Ende darauf hinausläuft, den Unterricht zur Schablone, den Lehrer zum Automaten zu machen. Daß aber der Optimismus Jägers einen gesunden und in der Gegenwart sehr berechtigten Pessimismus nicht ausschließt, zeigt die scharfe Abfertigung, die er der von pädagogischen Dilettantismus geforderten Großzüchterei des Patriotismus, der Religiosität und einiger andrer schöner Dinge angedeihen läßt. Aus den Reihen der Neal- schulmänner ist er mitunter getadelt worden, daß er als einseitiger Humanist den Bildungswert der alten Sprachen überschätze und in seiner Befangenheit den andern Fächern nicht gebe, was ihnen gebühre. Dieser Vorwurf hatte sich vor einigen Jahren aus Anlaß der Rede, womit Jäger die dreiundvierzigste Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner eröffnete, in der neu¬ sprachlichen, der mathematischen und naturwissenschaftlichen Sektion zu einer Angriffsbombe verdichtet, die zu uicht geringer Überraschung der Nicht- eingeweihten in der letzten öffentlichen Sitzung zum Platzen kam. Der in dieser Weise angegriffne erklärte, daß ihm jede Uuterschützung der sogenannten realen Fächer fern liege, und für diese Erklärung finden sich in seinem Buche die besten Belege. Wo er auf die Bedeutung der einzelnen Unterrichtsfächer zu sprechen kommt, thut er das in einer Weise, daß es meines Erachtens um den sogenannten realistischen Unterricht wohl bestellt wäre, wenn jeder Vertreter Grenzboten IV 1897 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/627>, abgerufen am 26.06.2024.