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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Lehrkunst und Lehrhandwerk

eines regen Verkehrs mit den sogenannten Fachwissenschaften, wobei es nicht
schadet, sondern vielmehr erwünscht ist, wenn er nach redlichem Tagewerk über
deren Hecken hinwegschaut.

Daß die meisten pädagogisch-didaktischen Schriften den Anspruch erheben,
eine wichtige oder wenigstens interessante Frage zu fördern oder zu entscheiden,
ist begreiflich; nicht wenige gehen weiter und erklären den "einzig richtigen"
Weg entdeckt zu haben. Daß dieser "einzig richtige" Weg sich schon mit dieser
Aufschrift als Holzweg verdächtigt, ist jedem mir halbwegs Kundigen bekannt;
nur die klugen Leute, die das Gras wachsen hören, wissen es nicht, weil sie
ihre Aufmerksamkeit auf die Lösung einer in tausendfacher Form sich erhebenden
Aufgabe richten, nämlich der Aufgabe, wie man aus der einfachsten Sache von
der Welt ein "Problem," oder noch besser, einen Rattenkönig von Problemen
machen kann. Die Setzlinge der spintisirenden Unterrichtsmethodik sind unter
dem Einfluß günstiger Witterungsverhältnisse -- an Sonne und Regen vou
oben hat es nicht gefehlt -- so stark ins Kraut geschossen, daß an manchen
Orten der Natur und dem gesunden Menschenverstand Lust und Licht auszu¬
gehen drohen. Aber in dem Schatten jener Diftelweisheit sind unerfreuliche
Dinge in die Höhe gekommen: Selbstüberschätzung, sei es, daß man sein Fach
oder seine Methode überschätzt, Ablenkung auf Nebensachen und Äußerlichkeiten,
orthodoxe Mißachtung und Verketzerung derer, die nicht auf das Evangelium
der alleinseligmachenden Methode schwören, kurz eine Reihe von Erscheinungen,
die in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, das Ziel des höhern Unterrichts,
wenigstens des Gymnasialnnterrichts, worüber doch bei Fachmännern Klarheit
und Übereinstimmung herrschen sollte, zu verdunkeln oder durch allerlei Irr¬
lichter davon wegzulocken.

Der Methodeufcmatismus hat nicht nur die Uneinigkeit und Zersplitterung
der Lehrerschaft, sondern zum Teil auch die wenig befriedigende Haltung der
Laien, des großen Publikums, auf dem Gewissen. Die öffentliche Meinung
in Deutschland teilt sich gegenüber der sogenannten Schnlfrage in zwei an Zahl
sehr ungleiche Gruppen. Der großen Mehrheit ist die Sache im allgemeinen
gleichgiltig, und der Streit zwischen den Vertretern der humanistischen und der
realistischen Bildung, zwischen den Verteidigern dieser und jener Lehrmethode
läßt sie jedenfalls kühler als die Frage, ob Dreyfus von der Teufelsinsel
zurückgeholt werden wird, und hundert andre Dinge, die im Grunde ein deutsches
Publikum weniger angehen als die Erziehung der deutschen Jünglinge. Kommt
man gelegentlich einmal in die Lage, in unsrer Frage Farbe bekennen zu
müssen, so kann man ja mit einem achselzuckenden Hinweis auf den leider
nicht immer mit feinen Waffen geführten häuslichen Streit der Schulmänner
sein geringes Interesse entschuldigen. Noch gefährlicher ist die kleinere Gruppe
der alles wissenden Dilettanten, denen die Uneinigkeit der Fachmänner die
verhängnisvolle Rolle von Schiedsrichtern in die Hände zu spielen droht.


Lehrkunst und Lehrhandwerk

eines regen Verkehrs mit den sogenannten Fachwissenschaften, wobei es nicht
schadet, sondern vielmehr erwünscht ist, wenn er nach redlichem Tagewerk über
deren Hecken hinwegschaut.

Daß die meisten pädagogisch-didaktischen Schriften den Anspruch erheben,
eine wichtige oder wenigstens interessante Frage zu fördern oder zu entscheiden,
ist begreiflich; nicht wenige gehen weiter und erklären den „einzig richtigen"
Weg entdeckt zu haben. Daß dieser „einzig richtige" Weg sich schon mit dieser
Aufschrift als Holzweg verdächtigt, ist jedem mir halbwegs Kundigen bekannt;
nur die klugen Leute, die das Gras wachsen hören, wissen es nicht, weil sie
ihre Aufmerksamkeit auf die Lösung einer in tausendfacher Form sich erhebenden
Aufgabe richten, nämlich der Aufgabe, wie man aus der einfachsten Sache von
der Welt ein „Problem," oder noch besser, einen Rattenkönig von Problemen
machen kann. Die Setzlinge der spintisirenden Unterrichtsmethodik sind unter
dem Einfluß günstiger Witterungsverhältnisse — an Sonne und Regen vou
oben hat es nicht gefehlt — so stark ins Kraut geschossen, daß an manchen
Orten der Natur und dem gesunden Menschenverstand Lust und Licht auszu¬
gehen drohen. Aber in dem Schatten jener Diftelweisheit sind unerfreuliche
Dinge in die Höhe gekommen: Selbstüberschätzung, sei es, daß man sein Fach
oder seine Methode überschätzt, Ablenkung auf Nebensachen und Äußerlichkeiten,
orthodoxe Mißachtung und Verketzerung derer, die nicht auf das Evangelium
der alleinseligmachenden Methode schwören, kurz eine Reihe von Erscheinungen,
die in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, das Ziel des höhern Unterrichts,
wenigstens des Gymnasialnnterrichts, worüber doch bei Fachmännern Klarheit
und Übereinstimmung herrschen sollte, zu verdunkeln oder durch allerlei Irr¬
lichter davon wegzulocken.

Der Methodeufcmatismus hat nicht nur die Uneinigkeit und Zersplitterung
der Lehrerschaft, sondern zum Teil auch die wenig befriedigende Haltung der
Laien, des großen Publikums, auf dem Gewissen. Die öffentliche Meinung
in Deutschland teilt sich gegenüber der sogenannten Schnlfrage in zwei an Zahl
sehr ungleiche Gruppen. Der großen Mehrheit ist die Sache im allgemeinen
gleichgiltig, und der Streit zwischen den Vertretern der humanistischen und der
realistischen Bildung, zwischen den Verteidigern dieser und jener Lehrmethode
läßt sie jedenfalls kühler als die Frage, ob Dreyfus von der Teufelsinsel
zurückgeholt werden wird, und hundert andre Dinge, die im Grunde ein deutsches
Publikum weniger angehen als die Erziehung der deutschen Jünglinge. Kommt
man gelegentlich einmal in die Lage, in unsrer Frage Farbe bekennen zu
müssen, so kann man ja mit einem achselzuckenden Hinweis auf den leider
nicht immer mit feinen Waffen geführten häuslichen Streit der Schulmänner
sein geringes Interesse entschuldigen. Noch gefährlicher ist die kleinere Gruppe
der alles wissenden Dilettanten, denen die Uneinigkeit der Fachmänner die
verhängnisvolle Rolle von Schiedsrichtern in die Hände zu spielen droht.


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[0625] Lehrkunst und Lehrhandwerk eines regen Verkehrs mit den sogenannten Fachwissenschaften, wobei es nicht schadet, sondern vielmehr erwünscht ist, wenn er nach redlichem Tagewerk über deren Hecken hinwegschaut. Daß die meisten pädagogisch-didaktischen Schriften den Anspruch erheben, eine wichtige oder wenigstens interessante Frage zu fördern oder zu entscheiden, ist begreiflich; nicht wenige gehen weiter und erklären den „einzig richtigen" Weg entdeckt zu haben. Daß dieser „einzig richtige" Weg sich schon mit dieser Aufschrift als Holzweg verdächtigt, ist jedem mir halbwegs Kundigen bekannt; nur die klugen Leute, die das Gras wachsen hören, wissen es nicht, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lösung einer in tausendfacher Form sich erhebenden Aufgabe richten, nämlich der Aufgabe, wie man aus der einfachsten Sache von der Welt ein „Problem," oder noch besser, einen Rattenkönig von Problemen machen kann. Die Setzlinge der spintisirenden Unterrichtsmethodik sind unter dem Einfluß günstiger Witterungsverhältnisse — an Sonne und Regen vou oben hat es nicht gefehlt — so stark ins Kraut geschossen, daß an manchen Orten der Natur und dem gesunden Menschenverstand Lust und Licht auszu¬ gehen drohen. Aber in dem Schatten jener Diftelweisheit sind unerfreuliche Dinge in die Höhe gekommen: Selbstüberschätzung, sei es, daß man sein Fach oder seine Methode überschätzt, Ablenkung auf Nebensachen und Äußerlichkeiten, orthodoxe Mißachtung und Verketzerung derer, die nicht auf das Evangelium der alleinseligmachenden Methode schwören, kurz eine Reihe von Erscheinungen, die in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, das Ziel des höhern Unterrichts, wenigstens des Gymnasialnnterrichts, worüber doch bei Fachmännern Klarheit und Übereinstimmung herrschen sollte, zu verdunkeln oder durch allerlei Irr¬ lichter davon wegzulocken. Der Methodeufcmatismus hat nicht nur die Uneinigkeit und Zersplitterung der Lehrerschaft, sondern zum Teil auch die wenig befriedigende Haltung der Laien, des großen Publikums, auf dem Gewissen. Die öffentliche Meinung in Deutschland teilt sich gegenüber der sogenannten Schnlfrage in zwei an Zahl sehr ungleiche Gruppen. Der großen Mehrheit ist die Sache im allgemeinen gleichgiltig, und der Streit zwischen den Vertretern der humanistischen und der realistischen Bildung, zwischen den Verteidigern dieser und jener Lehrmethode läßt sie jedenfalls kühler als die Frage, ob Dreyfus von der Teufelsinsel zurückgeholt werden wird, und hundert andre Dinge, die im Grunde ein deutsches Publikum weniger angehen als die Erziehung der deutschen Jünglinge. Kommt man gelegentlich einmal in die Lage, in unsrer Frage Farbe bekennen zu müssen, so kann man ja mit einem achselzuckenden Hinweis auf den leider nicht immer mit feinen Waffen geführten häuslichen Streit der Schulmänner sein geringes Interesse entschuldigen. Noch gefährlicher ist die kleinere Gruppe der alles wissenden Dilettanten, denen die Uneinigkeit der Fachmänner die verhängnisvolle Rolle von Schiedsrichtern in die Hände zu spielen droht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/625>, abgerufen am 26.06.2024.