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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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panisens Geschichte des gelehrten Unterrichts

eignes Verfahren gegenüber den humanistischen Gymnasien Anwendung findet.
Wäre er wirklich unparteiisch, so würde er auch nicht verkennen, wie sehr die
Leistungsfähigkeit gerade der Gymnasien unter der Überfüllung mit Schülern,
die gar nicht hingehören, zu leiden hat. Was er endlich zu Gunsten des
klassischen Unterrichts von dessen Verteidigern anführen läßt, ist weder voll¬
ständig, noch trifft es durchweg den Kern der Sache. Wir wollen durch ihn
den großen historischen Zusammenhang anfrecht erhalten, in dem unsre eigne
Kultur steht; wir wollen ihn in eine Welt einführen, die nicht von der Last
einer tausendjährigen Kultur erdrückt, sondern jugendlich frisch und unbefangen
ist, und die zugleich so abgeschlossen vor uns liegt, daß auf ihre Beurteilung
der Streit des Tages und die tiefen Gegensätze, die zumal unser deutsches
Volksleben zerklüften, keinen Einfluß ausüben; wir wollen endlich unsre Schüler
zu wissenschaftlicher Betrachtung und Arbeitsweise dadurch anleiten, daß wir
ausgewählte Partien der antiken Litteraturen langsam und gründlich in der
Ursprache durcharbeiten, also Quellenlektüre in weitesten Sinne treiben;
Quellen aber liest man weder in Übersetzungen, noch vom Blatt wie einen
Roman, noch in großen Massen, wenn man Anfänger vor sich hat. Wer in
dieser Weise einige Stücke des Sophokles, einige Reden des Demosthenes, einige
Dialoge Platos durchgemacht hat, der hat mehr von ihnen, als wenn er das
doppelte und dreifache in Übersetzungen gelesen hätte, die gerade bei antiken
Schriftstellern das Original doch nur höchst unvollkommen ersetzen können.
Lesen wir denn von Schiller und Goethe in der Schule alles und nicht viel¬
mehr auch nur eine Auswahl? Ob die beabsichtigten Wirkungen "durchgängig"
erreicht werden, wie Paulsen mit Strenge fordert, das mag dahingestellt bleiben,
aber das wird man bei jedem Unterricht bezweifeln können, ohne ihm deshalb
vorzuwerfen, er leiste überhaupt nichts.

Und nun noch ein Wort über Paniscus Zukunftsschule. Sie wird
thatsächlich für alle höhern Studien eine "Einheitsschule" sein, von der er
doch sonst nicht viel wissen will, und als die er das humanistische Gymnasium
nicht anerkennen will, denn dieses setzt er ja auf den Aussterbeetat, und es wird
nach ihm das zwanzigste Jahrhundert schwerlich überleben. Infolgedessen
wird diese Zukunftsschule an denselben Mängeln kranken, an denen, wie er meint,
das humanistische Gymnasium jetzt krankt und zu Grunde gehen muß, dem
Utraquismus, der nun einmal in unsrer Kultur begründet ist, und der Über¬
bürdung mit einem unruhigen Vielerlei. Die Philosophie wird vermutlich dies
Wirrsal noch vermehren, denn bevor wir nicht eine allgemein anerkannte und
herrschende Philosophie haben, wird auch die Schule von dem Streite der
Meinungen mehr ergriffen werden, als ihr frommt.

Was wir brauchen, ist nicht die Einheitsschule, sie widerspricht vielmehr
geradezu dem Zuge der Zeit, die notwendigerweise eine Verschiedenheit der
Vorbildung verlangen muß: für die einen eine überwiegend sprachlich-historische,


panisens Geschichte des gelehrten Unterrichts

eignes Verfahren gegenüber den humanistischen Gymnasien Anwendung findet.
Wäre er wirklich unparteiisch, so würde er auch nicht verkennen, wie sehr die
Leistungsfähigkeit gerade der Gymnasien unter der Überfüllung mit Schülern,
die gar nicht hingehören, zu leiden hat. Was er endlich zu Gunsten des
klassischen Unterrichts von dessen Verteidigern anführen läßt, ist weder voll¬
ständig, noch trifft es durchweg den Kern der Sache. Wir wollen durch ihn
den großen historischen Zusammenhang anfrecht erhalten, in dem unsre eigne
Kultur steht; wir wollen ihn in eine Welt einführen, die nicht von der Last
einer tausendjährigen Kultur erdrückt, sondern jugendlich frisch und unbefangen
ist, und die zugleich so abgeschlossen vor uns liegt, daß auf ihre Beurteilung
der Streit des Tages und die tiefen Gegensätze, die zumal unser deutsches
Volksleben zerklüften, keinen Einfluß ausüben; wir wollen endlich unsre Schüler
zu wissenschaftlicher Betrachtung und Arbeitsweise dadurch anleiten, daß wir
ausgewählte Partien der antiken Litteraturen langsam und gründlich in der
Ursprache durcharbeiten, also Quellenlektüre in weitesten Sinne treiben;
Quellen aber liest man weder in Übersetzungen, noch vom Blatt wie einen
Roman, noch in großen Massen, wenn man Anfänger vor sich hat. Wer in
dieser Weise einige Stücke des Sophokles, einige Reden des Demosthenes, einige
Dialoge Platos durchgemacht hat, der hat mehr von ihnen, als wenn er das
doppelte und dreifache in Übersetzungen gelesen hätte, die gerade bei antiken
Schriftstellern das Original doch nur höchst unvollkommen ersetzen können.
Lesen wir denn von Schiller und Goethe in der Schule alles und nicht viel¬
mehr auch nur eine Auswahl? Ob die beabsichtigten Wirkungen „durchgängig"
erreicht werden, wie Paulsen mit Strenge fordert, das mag dahingestellt bleiben,
aber das wird man bei jedem Unterricht bezweifeln können, ohne ihm deshalb
vorzuwerfen, er leiste überhaupt nichts.

Und nun noch ein Wort über Paniscus Zukunftsschule. Sie wird
thatsächlich für alle höhern Studien eine „Einheitsschule" sein, von der er
doch sonst nicht viel wissen will, und als die er das humanistische Gymnasium
nicht anerkennen will, denn dieses setzt er ja auf den Aussterbeetat, und es wird
nach ihm das zwanzigste Jahrhundert schwerlich überleben. Infolgedessen
wird diese Zukunftsschule an denselben Mängeln kranken, an denen, wie er meint,
das humanistische Gymnasium jetzt krankt und zu Grunde gehen muß, dem
Utraquismus, der nun einmal in unsrer Kultur begründet ist, und der Über¬
bürdung mit einem unruhigen Vielerlei. Die Philosophie wird vermutlich dies
Wirrsal noch vermehren, denn bevor wir nicht eine allgemein anerkannte und
herrschende Philosophie haben, wird auch die Schule von dem Streite der
Meinungen mehr ergriffen werden, als ihr frommt.

Was wir brauchen, ist nicht die Einheitsschule, sie widerspricht vielmehr
geradezu dem Zuge der Zeit, die notwendigerweise eine Verschiedenheit der
Vorbildung verlangen muß: für die einen eine überwiegend sprachlich-historische,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/600>, abgerufen am 26.06.2024.