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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Paniscus Geschichte des gelehrten Unterrichts

für die andern eine mehr realistisch gerichtete. Was wir brauchen, ist vielmehr
eine Gestaltung unsers höhern Unterrichtswesens, die den unvermeidlichen
"Utraquismus" mildert. Mau könnte entweder auf dem humanistischen Gym¬
nasium die Mathematik, die jetzt oft einen viel größern Teil der Arbeitskraft
unsrer Schüler in Anspruch uinnnt, als ihr nach der Stundenzahl und ihrem
allgemeinen Bilduugswerte zukommt, wesentlich beschränken und dann die
künftigen Jünger der exakten Studien anweisen, eine Ergänzungsprüfung an
einem Realgymnasium abzulegen, wie jetzt die Nealgymnasiasten eine solche an
einem Humanischen Gymnasium bestehen müssen, wenn sie sich andern als den
mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Fächern widmen wollen;
oder man könnte auf der obersten Stufe, wenn die Schüler über die allgemeine
Richtung ihrer Laufbahn entschieden sein können, den Unterricht in der Weise
gabeln, daß die Mathematik für die künftigen Studirenden der sprachlich-
historischen Fächer in Unterprima abschlösse, für die andern, vielleicht in erweiterter
Form, fortgeführt würde, und daß diese andrerseits von manchen Leistungen in
den klassischen Sprachen (etwa den schriftlichen Übersetzungen) entbunden würden.
Man befreie jedenfalls unser humanistisches Gymnasium vou dem überspannten
"Utraquismus" und gebe dem, was sie charakterisirt und charakterisiren soll,
dem Unterricht in den klassischen Sprachen, wieder mehr Raum, und man wird
die schlimmsten Übelstände, um deretwillen man es am liebsten vernichten
möchte, beseitigen. Ein "Monopol" hat es thatsächlich gar nicht mehr, und
will man die "Berechtigungen" der Realgymnasien erweitern (wiewohl wir
beiläufig bezweifeln, ob Mediziner, deren wissenschaftliche Terminologie fast
durchweg ebenso gut griechisch ist wie die der Juristen lateinisch, die Kenntnis
der griechischen Sprache nicht schwerer vermissen würden als manche natur¬
wissenschaftlichen Vorkenntnisse), so wird darüber niemand mehr Befriedigung
empfinden als die Anhänger der humanistischen Gymnasien. Der "Utraquismus"
in der jetzigen Form ist wahrhaftig nicht aus dem humanistischen Gymnasium
herausgewachsen, sondern ihm von außen aufgezwungen worden, da man sich
zu spät entschloß, einen neuen Vildungsweg, dem alten parallel, zu eröffnen.
Jetzt, wo er seit der Einrichtung des Realgymnasiums längst besteht, ziehe
man auch die umgekehrte Folgerung, indem man das unnatürliche und störende
" Übermaß vou Mathematik auf deu humanistischen Anstalten beseitigt.




Paniscus Geschichte des gelehrten Unterrichts

für die andern eine mehr realistisch gerichtete. Was wir brauchen, ist vielmehr
eine Gestaltung unsers höhern Unterrichtswesens, die den unvermeidlichen
„Utraquismus" mildert. Mau könnte entweder auf dem humanistischen Gym¬
nasium die Mathematik, die jetzt oft einen viel größern Teil der Arbeitskraft
unsrer Schüler in Anspruch uinnnt, als ihr nach der Stundenzahl und ihrem
allgemeinen Bilduugswerte zukommt, wesentlich beschränken und dann die
künftigen Jünger der exakten Studien anweisen, eine Ergänzungsprüfung an
einem Realgymnasium abzulegen, wie jetzt die Nealgymnasiasten eine solche an
einem Humanischen Gymnasium bestehen müssen, wenn sie sich andern als den
mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Fächern widmen wollen;
oder man könnte auf der obersten Stufe, wenn die Schüler über die allgemeine
Richtung ihrer Laufbahn entschieden sein können, den Unterricht in der Weise
gabeln, daß die Mathematik für die künftigen Studirenden der sprachlich-
historischen Fächer in Unterprima abschlösse, für die andern, vielleicht in erweiterter
Form, fortgeführt würde, und daß diese andrerseits von manchen Leistungen in
den klassischen Sprachen (etwa den schriftlichen Übersetzungen) entbunden würden.
Man befreie jedenfalls unser humanistisches Gymnasium vou dem überspannten
„Utraquismus" und gebe dem, was sie charakterisirt und charakterisiren soll,
dem Unterricht in den klassischen Sprachen, wieder mehr Raum, und man wird
die schlimmsten Übelstände, um deretwillen man es am liebsten vernichten
möchte, beseitigen. Ein „Monopol" hat es thatsächlich gar nicht mehr, und
will man die „Berechtigungen" der Realgymnasien erweitern (wiewohl wir
beiläufig bezweifeln, ob Mediziner, deren wissenschaftliche Terminologie fast
durchweg ebenso gut griechisch ist wie die der Juristen lateinisch, die Kenntnis
der griechischen Sprache nicht schwerer vermissen würden als manche natur¬
wissenschaftlichen Vorkenntnisse), so wird darüber niemand mehr Befriedigung
empfinden als die Anhänger der humanistischen Gymnasien. Der „Utraquismus"
in der jetzigen Form ist wahrhaftig nicht aus dem humanistischen Gymnasium
herausgewachsen, sondern ihm von außen aufgezwungen worden, da man sich
zu spät entschloß, einen neuen Vildungsweg, dem alten parallel, zu eröffnen.
Jetzt, wo er seit der Einrichtung des Realgymnasiums längst besteht, ziehe
man auch die umgekehrte Folgerung, indem man das unnatürliche und störende
" Übermaß vou Mathematik auf deu humanistischen Anstalten beseitigt.




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[0601] Paniscus Geschichte des gelehrten Unterrichts für die andern eine mehr realistisch gerichtete. Was wir brauchen, ist vielmehr eine Gestaltung unsers höhern Unterrichtswesens, die den unvermeidlichen „Utraquismus" mildert. Mau könnte entweder auf dem humanistischen Gym¬ nasium die Mathematik, die jetzt oft einen viel größern Teil der Arbeitskraft unsrer Schüler in Anspruch uinnnt, als ihr nach der Stundenzahl und ihrem allgemeinen Bilduugswerte zukommt, wesentlich beschränken und dann die künftigen Jünger der exakten Studien anweisen, eine Ergänzungsprüfung an einem Realgymnasium abzulegen, wie jetzt die Nealgymnasiasten eine solche an einem Humanischen Gymnasium bestehen müssen, wenn sie sich andern als den mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Fächern widmen wollen; oder man könnte auf der obersten Stufe, wenn die Schüler über die allgemeine Richtung ihrer Laufbahn entschieden sein können, den Unterricht in der Weise gabeln, daß die Mathematik für die künftigen Studirenden der sprachlich- historischen Fächer in Unterprima abschlösse, für die andern, vielleicht in erweiterter Form, fortgeführt würde, und daß diese andrerseits von manchen Leistungen in den klassischen Sprachen (etwa den schriftlichen Übersetzungen) entbunden würden. Man befreie jedenfalls unser humanistisches Gymnasium vou dem überspannten „Utraquismus" und gebe dem, was sie charakterisirt und charakterisiren soll, dem Unterricht in den klassischen Sprachen, wieder mehr Raum, und man wird die schlimmsten Übelstände, um deretwillen man es am liebsten vernichten möchte, beseitigen. Ein „Monopol" hat es thatsächlich gar nicht mehr, und will man die „Berechtigungen" der Realgymnasien erweitern (wiewohl wir beiläufig bezweifeln, ob Mediziner, deren wissenschaftliche Terminologie fast durchweg ebenso gut griechisch ist wie die der Juristen lateinisch, die Kenntnis der griechischen Sprache nicht schwerer vermissen würden als manche natur¬ wissenschaftlichen Vorkenntnisse), so wird darüber niemand mehr Befriedigung empfinden als die Anhänger der humanistischen Gymnasien. Der „Utraquismus" in der jetzigen Form ist wahrhaftig nicht aus dem humanistischen Gymnasium herausgewachsen, sondern ihm von außen aufgezwungen worden, da man sich zu spät entschloß, einen neuen Vildungsweg, dem alten parallel, zu eröffnen. Jetzt, wo er seit der Einrichtung des Realgymnasiums längst besteht, ziehe man auch die umgekehrte Folgerung, indem man das unnatürliche und störende " Übermaß vou Mathematik auf deu humanistischen Anstalten beseitigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/601>, abgerufen am 26.06.2024.