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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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uügenden praktischen Kenntnis des jetzigen Schulbetriebes, dem er als Univer¬
sitätsdozent ganz fern steht und den er nur aus Urteilen und Berichten andrer
kennt, an wirklicher Objektivität und an einer tiefern Auffassung von dem Werte
der klassischen Bildung. Mag sein, daß heute die grammatische Sicherheit
geringer ist, aber ganz gewiß wird der Schüler der Oberklassen heute ganz
anders in das Verständnis eines klassischen Schriftstellers und seiner Zeit ein¬
geführt, als es jemals früher der Fall war. Davon, daß diese Stunden in
den Oberklassen jetzt noch oder wieder zu grammatischen Übungen mißbraucht
würden, kann gar keine Rede sein. Und die Behauptung, daß die Philologie
auch in der Schule (diese Philologie, die hier so wenig mehr leistet!) zur
Gleichgiltigkeit gegen die unser Volk und unsre Zeit bewegenden Fragen erziehe,
wird jeder, der die heutige Schule wirklich kennt, nur mit Lächeln anhören.
Im Gegenteil, die jetzige Art, Dinge des Altertums zu behandeln, kann nur
zum bessern Verständnis der Gegenwart erziehen. Aber Paulsen will das
heutige humanistische Gymnasium schlecht finden, also findet er es schlecht.
Er behauptet, diese Tendenz entspreche der Tendenz unsrer Entwicklung. Man
kann aber aus dieser einen ganz andern Schluß ziehen. So sehr, wie über¬
haupt, ist die gelehrte Schule auch darin dem Zuge der Zeit gefolgt, daß sie
das Griechische aufnahm, als das griechische Altertum in der Zeit des Neu-
humcmismus gewissermaßen neu entdeckt und ein neues, höchst wirksames Element
unsrer Bildung wurde, und die Gegenwart hat mir die letzte Folgerung daraus
gezogen. Denn indem sie die zwecklos gewordne lateinische Imitation aufgab
und die Lektüre in den Vordergrund stellte, mußte sie notwendigerweise die
griechische Litteratur, das Original, der lateinischen, der schwächern Kopie
wenigstens gleichstellen. Die in der Entwicklung liegende Tendenz ist also dem
Griechischen nicht feindlich, sondern günstig. Ja es ist ein Widerspruch, wenn
Paulsen auf der einen Seite behauptet, für unsre Zeit sei das Altertum immer
mehr zurückgetreten, und auf der andern Seite der griechischen Litteratur, wenn
auch in Übersetzungen, einen breiten Zugang in seine Zukunftsschule öffnen
will. Denn hat sie für uns nicht mehr die alte Bedeutung, so hat es doch
auch keinen Sinn mehr, sie in Übersetzungen zuzulassen; wenn mau sie aber
in dieser Form zuläßt, dann gesteht man ihr doch damit die Bedeutung zu,
die man ihr eben abgesprochen hat. Die Streitfrage ist also lediglich, ob man
es noch der Mühe wert hält, griechisch zu lernen oder nicht, ob man glaubt,
es noch so weit treiben zu köunen, daß man den Hauptzweck erreicht. Auch
mißt Paulsen mit zweierlei Maß, wenn er von einzelnen ungünstigen Wahr¬
nehmungen aus auf die Geringfügigkeit der Leistungen in den klassischen Sprachen
im allgemeinen schließt, einzelne günstige dagegen nicht verallgemeinern will,
umgekehrt aber auf einzelne ungünstige Erfahrungen auf realistischen Anstalten
nicht viel giebt, denn "man weiß, wie bald zu vorhandnen Urteilen die ent¬
sprechenden Erfahrungen gemacht werden," ein Satz, der vor allem auf sein


uügenden praktischen Kenntnis des jetzigen Schulbetriebes, dem er als Univer¬
sitätsdozent ganz fern steht und den er nur aus Urteilen und Berichten andrer
kennt, an wirklicher Objektivität und an einer tiefern Auffassung von dem Werte
der klassischen Bildung. Mag sein, daß heute die grammatische Sicherheit
geringer ist, aber ganz gewiß wird der Schüler der Oberklassen heute ganz
anders in das Verständnis eines klassischen Schriftstellers und seiner Zeit ein¬
geführt, als es jemals früher der Fall war. Davon, daß diese Stunden in
den Oberklassen jetzt noch oder wieder zu grammatischen Übungen mißbraucht
würden, kann gar keine Rede sein. Und die Behauptung, daß die Philologie
auch in der Schule (diese Philologie, die hier so wenig mehr leistet!) zur
Gleichgiltigkeit gegen die unser Volk und unsre Zeit bewegenden Fragen erziehe,
wird jeder, der die heutige Schule wirklich kennt, nur mit Lächeln anhören.
Im Gegenteil, die jetzige Art, Dinge des Altertums zu behandeln, kann nur
zum bessern Verständnis der Gegenwart erziehen. Aber Paulsen will das
heutige humanistische Gymnasium schlecht finden, also findet er es schlecht.
Er behauptet, diese Tendenz entspreche der Tendenz unsrer Entwicklung. Man
kann aber aus dieser einen ganz andern Schluß ziehen. So sehr, wie über¬
haupt, ist die gelehrte Schule auch darin dem Zuge der Zeit gefolgt, daß sie
das Griechische aufnahm, als das griechische Altertum in der Zeit des Neu-
humcmismus gewissermaßen neu entdeckt und ein neues, höchst wirksames Element
unsrer Bildung wurde, und die Gegenwart hat mir die letzte Folgerung daraus
gezogen. Denn indem sie die zwecklos gewordne lateinische Imitation aufgab
und die Lektüre in den Vordergrund stellte, mußte sie notwendigerweise die
griechische Litteratur, das Original, der lateinischen, der schwächern Kopie
wenigstens gleichstellen. Die in der Entwicklung liegende Tendenz ist also dem
Griechischen nicht feindlich, sondern günstig. Ja es ist ein Widerspruch, wenn
Paulsen auf der einen Seite behauptet, für unsre Zeit sei das Altertum immer
mehr zurückgetreten, und auf der andern Seite der griechischen Litteratur, wenn
auch in Übersetzungen, einen breiten Zugang in seine Zukunftsschule öffnen
will. Denn hat sie für uns nicht mehr die alte Bedeutung, so hat es doch
auch keinen Sinn mehr, sie in Übersetzungen zuzulassen; wenn mau sie aber
in dieser Form zuläßt, dann gesteht man ihr doch damit die Bedeutung zu,
die man ihr eben abgesprochen hat. Die Streitfrage ist also lediglich, ob man
es noch der Mühe wert hält, griechisch zu lernen oder nicht, ob man glaubt,
es noch so weit treiben zu köunen, daß man den Hauptzweck erreicht. Auch
mißt Paulsen mit zweierlei Maß, wenn er von einzelnen ungünstigen Wahr¬
nehmungen aus auf die Geringfügigkeit der Leistungen in den klassischen Sprachen
im allgemeinen schließt, einzelne günstige dagegen nicht verallgemeinern will,
umgekehrt aber auf einzelne ungünstige Erfahrungen auf realistischen Anstalten
nicht viel giebt, denn „man weiß, wie bald zu vorhandnen Urteilen die ent¬
sprechenden Erfahrungen gemacht werden," ein Satz, der vor allem auf sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/599>, abgerufen am 26.06.2024.