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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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mehr Lehrbücher irgendwelcher Wissenschaft, wie sie es bis gegen 1600 ge¬
wesen sind, sondern nur noch Objekte der historischen Forschung, und die
Dichter der Alten sind nicht mehr die einzigen von klassischer Bedeutung,
sondern daneben haben sich ebenbürtige moderne klassische Litteraturen gebildet.
Dieser allgemeinen Kulturbewegung muß die Schule folgen, und sie ist ihr
auch gefolgt, indem sie die (lateinische) "Imitation" hat fallen lassen und den
modernen Unterrichtsfächern Zutritt gestattet hat. Aber dies Vielerlei ver¬
hindert sie, in den klassischen Sprachen die vorgeschriebnen Ziele zu erreichen;
die Fertigkeit in ihnen nimmt immer mehr ab, zu einer freien Lektüre gelangt
man gar nicht mehr, sondern nur noch zu mühseliger "Präparation," und
was man auf diese Weise zusammenquält, das sind kleine Bruchstücke größerer
Werke. Auch die Erziehung zu wahrhafter "Humanität" wird keineswegs
auch nur durchschnittlich erreicht; gerade unsre klassisch Gebildeten zeichnen sich
häufig durch Geschmacklosigkeit in litterarischen Dingen und "bornirten Nativnal-
dünkel" aus, und es giebt kein streitsüchtigeres, inhumaneres Geschlecht als die
Philologen (uümlich der Universitäten). Außerdem entfremdet diese gelehrte
Bildung dem Volke und macht hochmütig.

Steht das so, dann ist es allerdings die höchste Zeit, mit diesem ganzen
Unterrichtswesen möglichst bald aufzuräumen und etwas ganz neues an seine
Stelle zu setzen. Wie sich Paulsen diese Zukunftsschule denkt, setzt er in seinem
Buche nirgends zusammenhängend auseinander, aber es läßt sich doch der Haupt¬
sache uach erkennen. Er stellt sich wohl einen "lciteinlvsen" Unterbau vor und
läßt sich von dort aus auf der einen Seite das humanistische Gymnasium,
auf der andern Seite das Realgymnasium abzweigen, doch so, daß dieses genau
dieselben Berechtigungen hat wie das humanistische Gymnasium, also auch zu
allen Universitätsstudien (nicht nnr wie bisher zu den neusprachlichen und
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern) vorbereiten kann. Dabei wird
das humanistische Gymnasium allerdings thatsächlich in das Auszüglerstübcheu
verwiesen, denn eine innere Lebenskraft spricht ihm Paulsen ab; es wird nur
bis auf weiteres geduldet als eine Anstalt für solche Leute, die für diese im
Grunde überflüssige" Studien noch Zeit und Lust haben, und die eigentliche
Schule der Zukunft ist das Realgymnasium in etwas ungestalteter Weise.
Das Realgymnasium wird das Lateinische beibehalten und den deutschen Unter¬
richt derart erweitern, daß er nicht uur das Mittelhochdeutsche (das man in
Preußen hat fallen lassen) wieder aufnimmt, sondern auch die Bekanntschaft
mit der griechischen Litteratur, deren Notwendigkeit für eine humane Bildung
Paulsen zugiebt, durch Übersetzungen vermittelt. Es wird ferner der Philo¬
sophie (Psychologie, Ethik, Logik) wieder Zutritt gewähren, um dem jetzt sehr
fühlbaren Mangel philosophischer Bildung abzuhelfen.

Soweit Paulsen. Er hat von manchen Seiten begeisterte Zustimmung
gefunden, aber es fehlt dem geistvollen Verfasser an dreierlei: an einer ge-


mehr Lehrbücher irgendwelcher Wissenschaft, wie sie es bis gegen 1600 ge¬
wesen sind, sondern nur noch Objekte der historischen Forschung, und die
Dichter der Alten sind nicht mehr die einzigen von klassischer Bedeutung,
sondern daneben haben sich ebenbürtige moderne klassische Litteraturen gebildet.
Dieser allgemeinen Kulturbewegung muß die Schule folgen, und sie ist ihr
auch gefolgt, indem sie die (lateinische) „Imitation" hat fallen lassen und den
modernen Unterrichtsfächern Zutritt gestattet hat. Aber dies Vielerlei ver¬
hindert sie, in den klassischen Sprachen die vorgeschriebnen Ziele zu erreichen;
die Fertigkeit in ihnen nimmt immer mehr ab, zu einer freien Lektüre gelangt
man gar nicht mehr, sondern nur noch zu mühseliger „Präparation," und
was man auf diese Weise zusammenquält, das sind kleine Bruchstücke größerer
Werke. Auch die Erziehung zu wahrhafter „Humanität" wird keineswegs
auch nur durchschnittlich erreicht; gerade unsre klassisch Gebildeten zeichnen sich
häufig durch Geschmacklosigkeit in litterarischen Dingen und „bornirten Nativnal-
dünkel" aus, und es giebt kein streitsüchtigeres, inhumaneres Geschlecht als die
Philologen (uümlich der Universitäten). Außerdem entfremdet diese gelehrte
Bildung dem Volke und macht hochmütig.

Steht das so, dann ist es allerdings die höchste Zeit, mit diesem ganzen
Unterrichtswesen möglichst bald aufzuräumen und etwas ganz neues an seine
Stelle zu setzen. Wie sich Paulsen diese Zukunftsschule denkt, setzt er in seinem
Buche nirgends zusammenhängend auseinander, aber es läßt sich doch der Haupt¬
sache uach erkennen. Er stellt sich wohl einen „lciteinlvsen" Unterbau vor und
läßt sich von dort aus auf der einen Seite das humanistische Gymnasium,
auf der andern Seite das Realgymnasium abzweigen, doch so, daß dieses genau
dieselben Berechtigungen hat wie das humanistische Gymnasium, also auch zu
allen Universitätsstudien (nicht nnr wie bisher zu den neusprachlichen und
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern) vorbereiten kann. Dabei wird
das humanistische Gymnasium allerdings thatsächlich in das Auszüglerstübcheu
verwiesen, denn eine innere Lebenskraft spricht ihm Paulsen ab; es wird nur
bis auf weiteres geduldet als eine Anstalt für solche Leute, die für diese im
Grunde überflüssige» Studien noch Zeit und Lust haben, und die eigentliche
Schule der Zukunft ist das Realgymnasium in etwas ungestalteter Weise.
Das Realgymnasium wird das Lateinische beibehalten und den deutschen Unter¬
richt derart erweitern, daß er nicht uur das Mittelhochdeutsche (das man in
Preußen hat fallen lassen) wieder aufnimmt, sondern auch die Bekanntschaft
mit der griechischen Litteratur, deren Notwendigkeit für eine humane Bildung
Paulsen zugiebt, durch Übersetzungen vermittelt. Es wird ferner der Philo¬
sophie (Psychologie, Ethik, Logik) wieder Zutritt gewähren, um dem jetzt sehr
fühlbaren Mangel philosophischer Bildung abzuhelfen.

Soweit Paulsen. Er hat von manchen Seiten begeisterte Zustimmung
gefunden, aber es fehlt dem geistvollen Verfasser an dreierlei: an einer ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/598>, abgerufen am 26.06.2024.