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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane

reichen Wohlthäterin, die seit Jahren vorübergehend einige Wochen in Franken¬
feld zubringt. Nun wird der Charakter des Mannes sehr anziehend geschildert,
auch seine Lebensschicksale gewinnen uns für ihn; aus einem gebildeten Nichts¬
thuer wird er durch den Bankerott seines Bruders ein armer, aber sehr tüch¬
tiger Mann. Die Wohlthäterin aber, das sogenannte Mädchen aus der Fremde,
so wertvoll sie ja für Frankenfeld, das Museum und dessen jetzigen Direktor,
Herrn Alfred Saß, gewesen ist, als Gegenstand der Liebe erscheint sie uns
nicht ganz so verlockend, wie wenn anstatt des Kulturhistorikers Riehl ein
Romandichter das Bild gezeichnet hätte. Aber das hängt wieder mit der
ganzen Anlage des Buches zusammen, über die sich der Verfasser im Vorwort
an eine ungenannte Leserin ausspricht. Es soll ja ein Buch sein mit wirk¬
lichem Leben darin, wie es ist, anregend zum Nachdenken, geordnet, nicht
sprunghaft in seinen einzelnen Teilen, leicht verschönt durch Auffassung und
Kunst, aber nicht übertrieben, erdichtet, spannend oder aufregend. So em¬
pfangen wir denn anch den Eindruck eines fein gestimmten Kunstwerks oder
einer ganz ruhigen, klugen Unterhaltung. Obwohl das Buch sehr reich ist an
verzögernden Bestandteilen, so überschlagen wir sie doch nicht, weil wir uns
von vornherein auf das Anhören und Nachdenken eingerichtet haben. Wir
kamen nicht ans Neugier und erhalten dafür Lebensweisheit fiir kleine und
große Fragen; es ist ein wahrer Genuß, seine Gedanken verweilen zu lassen
bei den klaren Bildern einer reichen, zur Ruhe gekommnen Erfahrung. Mit
einem Roman, was man so gewöhnlich darunter versteht, hat "Ein ganzer
Mann" kaum etwas gemein. Ihm fehlt neben dem Ungesunden, Aufregenden
auch alles Geniale; er ist nicht bedeutend, aber im höchsten Grade das, was
man gebildet nennt, ein idealer Professorenroman, ohne die Auswüchse, die
uns bei Raabes "Odfeld" störten. Die Sehnsucht nach Ruhe wird zu einem
Heimweh nach der Vergangenheit, ob es nun mit Ernst sich vertieft in ein
früheres, besseres, oder ob es das Überholte und Uberwuudne mit anmutigen
Humor vergoldet. So wen" z. B. der selige Professor Knobel in Gießen in
seinen Vorlesungen über Moral die Poesie in dem Kapitel "Lüge" abhandelt
und sie in ihrem besondern Paragraphen als "Scherzlüge" bezeichnet. Ältere
Leser und Kenner der Gegend werden noch vielerlei zeitgenössisches Material
in den Roman verarbeitet finden, und wer noch Sinn für gutes, einfaches,
richtiges Deutsch hat, kann sich auch diesen seltnen Genuß daraus verschaffen.




Neue Romane

reichen Wohlthäterin, die seit Jahren vorübergehend einige Wochen in Franken¬
feld zubringt. Nun wird der Charakter des Mannes sehr anziehend geschildert,
auch seine Lebensschicksale gewinnen uns für ihn; aus einem gebildeten Nichts¬
thuer wird er durch den Bankerott seines Bruders ein armer, aber sehr tüch¬
tiger Mann. Die Wohlthäterin aber, das sogenannte Mädchen aus der Fremde,
so wertvoll sie ja für Frankenfeld, das Museum und dessen jetzigen Direktor,
Herrn Alfred Saß, gewesen ist, als Gegenstand der Liebe erscheint sie uns
nicht ganz so verlockend, wie wenn anstatt des Kulturhistorikers Riehl ein
Romandichter das Bild gezeichnet hätte. Aber das hängt wieder mit der
ganzen Anlage des Buches zusammen, über die sich der Verfasser im Vorwort
an eine ungenannte Leserin ausspricht. Es soll ja ein Buch sein mit wirk¬
lichem Leben darin, wie es ist, anregend zum Nachdenken, geordnet, nicht
sprunghaft in seinen einzelnen Teilen, leicht verschönt durch Auffassung und
Kunst, aber nicht übertrieben, erdichtet, spannend oder aufregend. So em¬
pfangen wir denn anch den Eindruck eines fein gestimmten Kunstwerks oder
einer ganz ruhigen, klugen Unterhaltung. Obwohl das Buch sehr reich ist an
verzögernden Bestandteilen, so überschlagen wir sie doch nicht, weil wir uns
von vornherein auf das Anhören und Nachdenken eingerichtet haben. Wir
kamen nicht ans Neugier und erhalten dafür Lebensweisheit fiir kleine und
große Fragen; es ist ein wahrer Genuß, seine Gedanken verweilen zu lassen
bei den klaren Bildern einer reichen, zur Ruhe gekommnen Erfahrung. Mit
einem Roman, was man so gewöhnlich darunter versteht, hat „Ein ganzer
Mann" kaum etwas gemein. Ihm fehlt neben dem Ungesunden, Aufregenden
auch alles Geniale; er ist nicht bedeutend, aber im höchsten Grade das, was
man gebildet nennt, ein idealer Professorenroman, ohne die Auswüchse, die
uns bei Raabes „Odfeld" störten. Die Sehnsucht nach Ruhe wird zu einem
Heimweh nach der Vergangenheit, ob es nun mit Ernst sich vertieft in ein
früheres, besseres, oder ob es das Überholte und Uberwuudne mit anmutigen
Humor vergoldet. So wen» z. B. der selige Professor Knobel in Gießen in
seinen Vorlesungen über Moral die Poesie in dem Kapitel „Lüge" abhandelt
und sie in ihrem besondern Paragraphen als „Scherzlüge" bezeichnet. Ältere
Leser und Kenner der Gegend werden noch vielerlei zeitgenössisches Material
in den Roman verarbeitet finden, und wer noch Sinn für gutes, einfaches,
richtiges Deutsch hat, kann sich auch diesen seltnen Genuß daraus verschaffen.




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[0596] Neue Romane reichen Wohlthäterin, die seit Jahren vorübergehend einige Wochen in Franken¬ feld zubringt. Nun wird der Charakter des Mannes sehr anziehend geschildert, auch seine Lebensschicksale gewinnen uns für ihn; aus einem gebildeten Nichts¬ thuer wird er durch den Bankerott seines Bruders ein armer, aber sehr tüch¬ tiger Mann. Die Wohlthäterin aber, das sogenannte Mädchen aus der Fremde, so wertvoll sie ja für Frankenfeld, das Museum und dessen jetzigen Direktor, Herrn Alfred Saß, gewesen ist, als Gegenstand der Liebe erscheint sie uns nicht ganz so verlockend, wie wenn anstatt des Kulturhistorikers Riehl ein Romandichter das Bild gezeichnet hätte. Aber das hängt wieder mit der ganzen Anlage des Buches zusammen, über die sich der Verfasser im Vorwort an eine ungenannte Leserin ausspricht. Es soll ja ein Buch sein mit wirk¬ lichem Leben darin, wie es ist, anregend zum Nachdenken, geordnet, nicht sprunghaft in seinen einzelnen Teilen, leicht verschönt durch Auffassung und Kunst, aber nicht übertrieben, erdichtet, spannend oder aufregend. So em¬ pfangen wir denn anch den Eindruck eines fein gestimmten Kunstwerks oder einer ganz ruhigen, klugen Unterhaltung. Obwohl das Buch sehr reich ist an verzögernden Bestandteilen, so überschlagen wir sie doch nicht, weil wir uns von vornherein auf das Anhören und Nachdenken eingerichtet haben. Wir kamen nicht ans Neugier und erhalten dafür Lebensweisheit fiir kleine und große Fragen; es ist ein wahrer Genuß, seine Gedanken verweilen zu lassen bei den klaren Bildern einer reichen, zur Ruhe gekommnen Erfahrung. Mit einem Roman, was man so gewöhnlich darunter versteht, hat „Ein ganzer Mann" kaum etwas gemein. Ihm fehlt neben dem Ungesunden, Aufregenden auch alles Geniale; er ist nicht bedeutend, aber im höchsten Grade das, was man gebildet nennt, ein idealer Professorenroman, ohne die Auswüchse, die uns bei Raabes „Odfeld" störten. Die Sehnsucht nach Ruhe wird zu einem Heimweh nach der Vergangenheit, ob es nun mit Ernst sich vertieft in ein früheres, besseres, oder ob es das Überholte und Uberwuudne mit anmutigen Humor vergoldet. So wen» z. B. der selige Professor Knobel in Gießen in seinen Vorlesungen über Moral die Poesie in dem Kapitel „Lüge" abhandelt und sie in ihrem besondern Paragraphen als „Scherzlüge" bezeichnet. Ältere Leser und Kenner der Gegend werden noch vielerlei zeitgenössisches Material in den Roman verarbeitet finden, und wer noch Sinn für gutes, einfaches, richtiges Deutsch hat, kann sich auch diesen seltnen Genuß daraus verschaffen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/596>, abgerufen am 26.06.2024.