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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die großen Kunstausstellungen des Jahres ^3H?

Kunst aus dem Studium Tizians und Rembrandts erwachsen ist, so hat er
doch wenigstens keinen französischen Zug. Und als Charakteristiker hat auch
er etwas Nationales! Bei dieser geistvollen Detaillirung des Mommsenschen
Kopfes, bei dieser Offenbarung intimster Seeleuforschung können wir doch an
niemand anders als an Dürer denken.

Die wunderlichen, in einigen Zimmern vereinigten Erzeugnisse der gewerb¬
lichen oder, wie man jetzt nach französischer Art sagt, der "dekorativen" Künste,
auf die die Münchner ganz besonders stolz gewesen sind, und die sie sogar als
den Beginn einer neuen Ära ausgerufen haben, wird ein ernster Kritiker ebenso¬
wenig ernst nehmen wie die in Dresden zur Schau gestellten Zimmereinrich¬
tungen des Herrn Bing, der die "neue Kunst" mit genialer Handbewegung
aus dem Ärmel geschüttelt hat. Wir kennen diese "neue Kunst" seit dem Jahre
1375, wo sie uns zuerst mit patriotischem Jubel als die "Kunst unsrer Väter"
vorgestellt wurde. Sie verfügt über eine anscheinend unerschöpfliche Masken¬
garderobe. In jedem Jahre erscheint sie vor uns in einem andern Narren¬
kleid, und jedesmal wird uns das neue Kostüm als das einzig richtige, für
alle Menschen passende Normalkleid gepriesen. Diese Modekünstler wissen vor
lauter Freiheitsbestrebungen und Reformbedürfuisfen gar nicht, daß sie eigentlich
die schlimmsten Tyrannen des Geschmacks sind. Wenn sie nur etwas konser¬
vativer wären! Allmählich gewöhnt sich der friedliebende Mensch auch an
eine Tyrannei, die sich mehrere Jahre gleich bleibt. Aber die modernen
Tyrannen haben nicht einmal die Tugend der Beharrlichkeit, und so dürfen
wir uns denn mit Zuversicht der Erwartung hingeben, daß die nächstjährige
Münchner Kunstausstellung, die übrigens auf den kostspieligen Stolz, eine
"internationale" zu heißen, verzichten will, uns wieder eine völlig neue
"dekorative'' Kunst bringen wird, die die langen Winterabende des ablaufenden
und die lustigen Karnevalssitzuugen des kommenden Jahres zur fröhlichen
Reife bringen werden.

Die Herren und Damen, die sich jahraus jahrein in diesen Strudel stürzen,
wissen nicht, welch einen schweren Schaden sie anstiften. Produzenten und
Konsumenten oder, einfacher gesagt, Handwerker und Käufer werden stutzig
und aufsässig gemacht. Beiden haben die kunstgewerblichen Zeitschriften mit
ihren phantastischen Aufsätzen und noch mehr phantastischen Abbildungen das
Vertrauen geraubt und zuletzt die Köpfe verdreht. Die Spekulanten unter
den Handwerkern stürzen sich ans die neue Kunst, sie machen Reklame, und
die biedre Einfalt des deutschen Handwerkers bricht mutlos zusammen. Aber
auch die Spekulanten werden ihrer Verwegenheit nicht froh. Es fehlt nicht
an Leuten, die alle Moden mitmachen, auch die tollsten, um vor ihresgleichen
damit zu prunken. Aber die Masse der Käufer, die dem Künstler, der an¬
geblich jedes Werk, auch einen Schrank, eine Truhe oder ein Bücherbrett nur
einmal schafft, ebenso nötig ist wie dem Fabrikanten der Dutzendware, hält


Die großen Kunstausstellungen des Jahres ^3H?

Kunst aus dem Studium Tizians und Rembrandts erwachsen ist, so hat er
doch wenigstens keinen französischen Zug. Und als Charakteristiker hat auch
er etwas Nationales! Bei dieser geistvollen Detaillirung des Mommsenschen
Kopfes, bei dieser Offenbarung intimster Seeleuforschung können wir doch an
niemand anders als an Dürer denken.

Die wunderlichen, in einigen Zimmern vereinigten Erzeugnisse der gewerb¬
lichen oder, wie man jetzt nach französischer Art sagt, der „dekorativen" Künste,
auf die die Münchner ganz besonders stolz gewesen sind, und die sie sogar als
den Beginn einer neuen Ära ausgerufen haben, wird ein ernster Kritiker ebenso¬
wenig ernst nehmen wie die in Dresden zur Schau gestellten Zimmereinrich¬
tungen des Herrn Bing, der die „neue Kunst" mit genialer Handbewegung
aus dem Ärmel geschüttelt hat. Wir kennen diese „neue Kunst" seit dem Jahre
1375, wo sie uns zuerst mit patriotischem Jubel als die „Kunst unsrer Väter"
vorgestellt wurde. Sie verfügt über eine anscheinend unerschöpfliche Masken¬
garderobe. In jedem Jahre erscheint sie vor uns in einem andern Narren¬
kleid, und jedesmal wird uns das neue Kostüm als das einzig richtige, für
alle Menschen passende Normalkleid gepriesen. Diese Modekünstler wissen vor
lauter Freiheitsbestrebungen und Reformbedürfuisfen gar nicht, daß sie eigentlich
die schlimmsten Tyrannen des Geschmacks sind. Wenn sie nur etwas konser¬
vativer wären! Allmählich gewöhnt sich der friedliebende Mensch auch an
eine Tyrannei, die sich mehrere Jahre gleich bleibt. Aber die modernen
Tyrannen haben nicht einmal die Tugend der Beharrlichkeit, und so dürfen
wir uns denn mit Zuversicht der Erwartung hingeben, daß die nächstjährige
Münchner Kunstausstellung, die übrigens auf den kostspieligen Stolz, eine
„internationale" zu heißen, verzichten will, uns wieder eine völlig neue
„dekorative'' Kunst bringen wird, die die langen Winterabende des ablaufenden
und die lustigen Karnevalssitzuugen des kommenden Jahres zur fröhlichen
Reife bringen werden.

Die Herren und Damen, die sich jahraus jahrein in diesen Strudel stürzen,
wissen nicht, welch einen schweren Schaden sie anstiften. Produzenten und
Konsumenten oder, einfacher gesagt, Handwerker und Käufer werden stutzig
und aufsässig gemacht. Beiden haben die kunstgewerblichen Zeitschriften mit
ihren phantastischen Aufsätzen und noch mehr phantastischen Abbildungen das
Vertrauen geraubt und zuletzt die Köpfe verdreht. Die Spekulanten unter
den Handwerkern stürzen sich ans die neue Kunst, sie machen Reklame, und
die biedre Einfalt des deutschen Handwerkers bricht mutlos zusammen. Aber
auch die Spekulanten werden ihrer Verwegenheit nicht froh. Es fehlt nicht
an Leuten, die alle Moden mitmachen, auch die tollsten, um vor ihresgleichen
damit zu prunken. Aber die Masse der Käufer, die dem Künstler, der an¬
geblich jedes Werk, auch einen Schrank, eine Truhe oder ein Bücherbrett nur
einmal schafft, ebenso nötig ist wie dem Fabrikanten der Dutzendware, hält


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/591>, abgerufen am 26.06.2024.