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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die großen Kunstausstellungen des Jahres

Sumer Alpengegend niedergelassen und malt dort seine großen und kleinen
Bilder in zähem, wie zu Eis erstarrtem Farbenauftrag ruhig weiter, weil er
weiß, daß viele närrische Sammler in Amerika und Deutschland und auch wohl
einige Galeriedirektoren in Deutschland sehnsüchtig auf seine Bilder warten,
auf denen sie sogar das entdecken, was außer ihnen niemand sieht: Feinheit
des Tons. Segantini ist aber nicht bloß ein Maler, der an Gebirgsbauern,
an Hirten und Feldarbeitern klebt; in seiner Einsamkeit kommen ihm auch
phantastische Eingebungen, und ein Produkt davon war ein kurioses Bild, das
unter dem Titel "Die Kindesmörderinnen" in Dresden zu sehen war. Eine Über¬
schwemmung, durch einen ausgetretnen Fluß verursacht, hat ein ganzes Thal heim¬
gesucht, und dieser Zufall ist von einigen Weibsleuten benutzt worden, mit sich selbst
und den Früchten leidenschaftlicher Stunden ein Ende zu machen. Sie haben
sich in die gelbgrauen Gewässer gestürzt, und nun, da sich die Flut verlaufen
hat, hängen die Leichname der Mörderinnen und ihrer Opfer in den Kronen
niedriger Weidenbäume! Trotz seiner bukolischen Neigungen steuert Segantini
also auch auf das sensationelle hinaus, und kürzlich hat er sich entschlossen,
sogar in großem Stile Sensation zu machen. Er will für die Pariser Welt¬
ausstellung in seiner harten, traurigen Art ein Panorama der italienischen
Alpen malen, das in einem besondern Gebäude untergebracht werden soll, weil
es an Größe alles bisher in dieser Gattung von Malerei geleistete übertreffen
wird. Er hat seinen Plan selbst in einer in Mailand erscheinenden Tages¬
zeitung mit Pathos auseinandergesetzt, und die dortige Presse hat ihm
jubelnd zugestimmt, weil es sich ja um ein Unternehmen handelt, das für
Paris bestimmt ist. Man erkennt daraus, daß aus der Bauernmalerei all¬
mählich auch die Bauernschlauheit herauswächst.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß mit solchen Gewaltmitteln ein be¬
stimmter Zweck verfolgt wird. In allen Kunstländern, die bisher von Frank¬
reich oder eigentlich nur von Paris abhängig gewesen waren, macht sich nämlich
seit einiger Zeit ein starker Drang nach Unabhängigkeit geltend, nur nicht in
Deutschland, das sich unter dem erst neuerdings aufgenommnen Joche noch zu
wohl zu fühlen scheint. Die Künstler aus aller Herren Ländern sind lange
genug nach Paris gepilgert, um schließlich den Franzosen ihre Kunstgriffe, ihre
Blender und ihre "Schläger" abgelernt zu haben. Und sie sind bald noch weiter
gegangen als ihre Lehrmeister. Die Schotten, insbesondre die Glasgower
Schule, haben den französischen Impressionismus derart übertrumpft, daß
Monet, Sisleh und Pissarro, seine Hauptsäulen, völlig in Vergessenheit ge¬
raten waren, bis die Dresdner Ausstellung dieses Jahres darauf aufmerksam
machte, daß sie immer noch leben und malen, und sogar vernünftiger und
manierlicher malen als die Schotten. Der Mhstizismus und Pointillismus,
d. h. die Auflösung der Flächen und Rundungen in der Malerei durch farbige
Punkte auf andersfarbigem Grunde haben in Belgien fanatische Anhänger ge-


Die großen Kunstausstellungen des Jahres

Sumer Alpengegend niedergelassen und malt dort seine großen und kleinen
Bilder in zähem, wie zu Eis erstarrtem Farbenauftrag ruhig weiter, weil er
weiß, daß viele närrische Sammler in Amerika und Deutschland und auch wohl
einige Galeriedirektoren in Deutschland sehnsüchtig auf seine Bilder warten,
auf denen sie sogar das entdecken, was außer ihnen niemand sieht: Feinheit
des Tons. Segantini ist aber nicht bloß ein Maler, der an Gebirgsbauern,
an Hirten und Feldarbeitern klebt; in seiner Einsamkeit kommen ihm auch
phantastische Eingebungen, und ein Produkt davon war ein kurioses Bild, das
unter dem Titel „Die Kindesmörderinnen" in Dresden zu sehen war. Eine Über¬
schwemmung, durch einen ausgetretnen Fluß verursacht, hat ein ganzes Thal heim¬
gesucht, und dieser Zufall ist von einigen Weibsleuten benutzt worden, mit sich selbst
und den Früchten leidenschaftlicher Stunden ein Ende zu machen. Sie haben
sich in die gelbgrauen Gewässer gestürzt, und nun, da sich die Flut verlaufen
hat, hängen die Leichname der Mörderinnen und ihrer Opfer in den Kronen
niedriger Weidenbäume! Trotz seiner bukolischen Neigungen steuert Segantini
also auch auf das sensationelle hinaus, und kürzlich hat er sich entschlossen,
sogar in großem Stile Sensation zu machen. Er will für die Pariser Welt¬
ausstellung in seiner harten, traurigen Art ein Panorama der italienischen
Alpen malen, das in einem besondern Gebäude untergebracht werden soll, weil
es an Größe alles bisher in dieser Gattung von Malerei geleistete übertreffen
wird. Er hat seinen Plan selbst in einer in Mailand erscheinenden Tages¬
zeitung mit Pathos auseinandergesetzt, und die dortige Presse hat ihm
jubelnd zugestimmt, weil es sich ja um ein Unternehmen handelt, das für
Paris bestimmt ist. Man erkennt daraus, daß aus der Bauernmalerei all¬
mählich auch die Bauernschlauheit herauswächst.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß mit solchen Gewaltmitteln ein be¬
stimmter Zweck verfolgt wird. In allen Kunstländern, die bisher von Frank¬
reich oder eigentlich nur von Paris abhängig gewesen waren, macht sich nämlich
seit einiger Zeit ein starker Drang nach Unabhängigkeit geltend, nur nicht in
Deutschland, das sich unter dem erst neuerdings aufgenommnen Joche noch zu
wohl zu fühlen scheint. Die Künstler aus aller Herren Ländern sind lange
genug nach Paris gepilgert, um schließlich den Franzosen ihre Kunstgriffe, ihre
Blender und ihre „Schläger" abgelernt zu haben. Und sie sind bald noch weiter
gegangen als ihre Lehrmeister. Die Schotten, insbesondre die Glasgower
Schule, haben den französischen Impressionismus derart übertrumpft, daß
Monet, Sisleh und Pissarro, seine Hauptsäulen, völlig in Vergessenheit ge¬
raten waren, bis die Dresdner Ausstellung dieses Jahres darauf aufmerksam
machte, daß sie immer noch leben und malen, und sogar vernünftiger und
manierlicher malen als die Schotten. Der Mhstizismus und Pointillismus,
d. h. die Auflösung der Flächen und Rundungen in der Malerei durch farbige
Punkte auf andersfarbigem Grunde haben in Belgien fanatische Anhänger ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/588>, abgerufen am 26.06.2024.