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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neueste Kunst und Aunstlitteratur

dann für die kleinere Zahl der Liebhaber übrig bliebe, denn im allgemeinen ist
das Interesse für Skulpturen geringer als das für Bilder.

Das dritte Heft der Neuen Folge der Meisterwerke der Holz¬
schneidekunst (Leipzig, I. I. Weber) bringt zwölf Holzschnitte von einer
wunderbaren Feinheit der Ausführung nach Kartons von Saschci Schneider,
einem jungen in Petersburg gebornen Dresdner Maler. Zum Teil sind diese
Kartons durch Ausstellung bekannt geworden. Sie zeigen sämtlich ein tüchtiges
Talent und einen ernsten Sinn, eine reiche, kräftige Phantasie ohne alle
Lüsternheit. Sie scheinen uns so gut zu sein und sind uns als Vorboten
weiterer Leistungen so erfreulich, daß wir unsre Leser auf einige hervorstechende
Züge aufmerksam machen möchten. Wer ein Blatt aus eigner Erfindung ent¬
werfen kann, wie "Ein Wiedersehen" (Christus als Weltrichter, vor ihm Judas
Jschariot mit einem bis in die kleinen Einzelheiten durchgeführten Gegensatz des
Gcmütsciusdrucks), der hat sicherlich eine originelle Phantasie. Sodann zeichnet
der Künstler gut, und er beherrscht die Körperform, wenigstens die männliche,
durchaus, wie seine zwei schönsten Figuren (Der Anarchist, Das Gefühl der
Abhängigkeit) zeigen. Seine Kunst will ober abgesehen von ihren Formen noch
in Gedanken zu uns reden. Nun sind seine Symbole wohl deutlich für deu Ver¬
stand, aber nicht alle bildmüßig richtig gefaßt. Manchmal drückt das Symbol
etwas stark auf die Form. Es wäre schade, wenn der Künstler hier auf Ab¬
wege geriete und gefährlichen Beispielen (Klingers Radierungen?) zu sehr nach¬
gäbe. Denn die Kunst, auch die farblose, hat es doch immer zuerst mit Abbildern
von Gegenständen zu thun, nicht mit Zeichen und Andeutungen. Der jetzt
sechsundzwanzigjährige Maler ist keines bestimmten Meisters Schüler, und
durch dieses Erstlingswerk geht ein großer, historischer Zug. Möchte er die
Förderung erfahren, deren das Gute und Ungewöhnliche heute mehr bedarf als
das Triviale, das seinen Weg von selbst findet.




Neueste Kunst und Aunstlitteratur

dann für die kleinere Zahl der Liebhaber übrig bliebe, denn im allgemeinen ist
das Interesse für Skulpturen geringer als das für Bilder.

Das dritte Heft der Neuen Folge der Meisterwerke der Holz¬
schneidekunst (Leipzig, I. I. Weber) bringt zwölf Holzschnitte von einer
wunderbaren Feinheit der Ausführung nach Kartons von Saschci Schneider,
einem jungen in Petersburg gebornen Dresdner Maler. Zum Teil sind diese
Kartons durch Ausstellung bekannt geworden. Sie zeigen sämtlich ein tüchtiges
Talent und einen ernsten Sinn, eine reiche, kräftige Phantasie ohne alle
Lüsternheit. Sie scheinen uns so gut zu sein und sind uns als Vorboten
weiterer Leistungen so erfreulich, daß wir unsre Leser auf einige hervorstechende
Züge aufmerksam machen möchten. Wer ein Blatt aus eigner Erfindung ent¬
werfen kann, wie „Ein Wiedersehen" (Christus als Weltrichter, vor ihm Judas
Jschariot mit einem bis in die kleinen Einzelheiten durchgeführten Gegensatz des
Gcmütsciusdrucks), der hat sicherlich eine originelle Phantasie. Sodann zeichnet
der Künstler gut, und er beherrscht die Körperform, wenigstens die männliche,
durchaus, wie seine zwei schönsten Figuren (Der Anarchist, Das Gefühl der
Abhängigkeit) zeigen. Seine Kunst will ober abgesehen von ihren Formen noch
in Gedanken zu uns reden. Nun sind seine Symbole wohl deutlich für deu Ver¬
stand, aber nicht alle bildmüßig richtig gefaßt. Manchmal drückt das Symbol
etwas stark auf die Form. Es wäre schade, wenn der Künstler hier auf Ab¬
wege geriete und gefährlichen Beispielen (Klingers Radierungen?) zu sehr nach¬
gäbe. Denn die Kunst, auch die farblose, hat es doch immer zuerst mit Abbildern
von Gegenständen zu thun, nicht mit Zeichen und Andeutungen. Der jetzt
sechsundzwanzigjährige Maler ist keines bestimmten Meisters Schüler, und
durch dieses Erstlingswerk geht ein großer, historischer Zug. Möchte er die
Förderung erfahren, deren das Gute und Ungewöhnliche heute mehr bedarf als
das Triviale, das seinen Weg von selbst findet.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/554>, abgerufen am 26.06.2024.