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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neueste Kunst und Aunstlitteratur

Lieder eines sechzehnjähriger Gymnasiasten mehr Poesie enthalten als alle
Verse dieser zwei Hefte zusammen, und das könnte wohl den Dichtern etwas
zu denken geben.

Wir bekommen nun aber noch als Zugabe etwas Litteraturgeschichte oder
Ästhetik, worin uns das Verständnis dieser neuesten Dichtung vermittelt werden
soll. "Über Dichtung" ist zunächst ein Aufsatz von Oskar A. H. Schmitz
überschrieben, der nebenbei in eine Empfehlung dreier uns ganz unbekannten
Dichter (Se. George, Fuchs und Hofmannsthal) ausläuft, in der Hauptsache
aber über poetische Ausdrucksformen zu handeln sich vorgenommen hat. Ist
sich der Verfasser über das, was er sagen wollte, wirklich klar gewesen, oder
fehlt ihm nur die Fähigkeit, sich einfach und deutlich auszudrücken? Jeden¬
falls wird der Leser am Eude so klug sein wie zuvor, und er kann, was er
gelesen hat, mit demselben Rechte für ein schwerverständliches Gedicht in Prosa
ansehen, wie für ein unverständliches Kapitel aus einer schweren und fremden
Wissenschaft -- so taumeln hier die Worte und Sätze durch einander. Nur
ja nicht sich so ausdrücken wie andre Leute -- das scheint das Prinzip zu
sein, wonach sie geordnet oder verstreut worden sind. Es ist uns bei dem
redlichsten Bemühen nicht gelungen, zu finden, was der Verfasser eigentlich beab¬
sichtigt hat. Gleich darauf läßt sich der eigentliche Literarhistoriker der Modernen,
Julius Hart, über ein ähnliches Thema hören: Die Kunst als Lebenserzeugcrin.
Es schildert uns, was der Künstler kann, der Natur nachschaffend als Dichter,
Musiker, Bildner oder Maler, und er ergeht sich dann in dem Preise dieses
Schaffens, wodurch der Schaffende lebendige Gestalten entstehen läßt, sie handeln,
sich bewegen läßt, wie er will, nach seinem Belieben, seiner Laune. "Nur in ihnen
kann er sein eignes Wesen klar offenbaren, sein ganzes Selbst und Ich umfassend
zu einem sinnlich-naturwirklichen Ausdruck bringen. Er ist durch den Geist außer
und über sein Ich getreten. Er hat sich selber als eine Außenerscheinung gesetzt,
sich objcktivirt usw." Ja, so fügen wir zunächst hinzu, wenn er es wirklich
kann und sichs nicht bloß einbildet, er und etwa seine im Vergleich zu allen
übrigen Menschen doch nur sehr wenigen Genossen, die sich dann unter ein¬
ander diese Kraft andichte". Was uns Julius Hart hier giebt, ist doch im
Grunde nur eine der schon so oft geschriebnen Anfsatzparallelen zwischen dem
Schaffen der Natur und dem Nachbilden der Künstler. Aber nach der Art,
wie er seine Ausdrücke wühlt, scheint es, als glaubte er uns etwas neues zu
sagen. Die Kunst, so sagt er, schaffe nach früherer Auffassung (Kant, Schiller)
eine Scheinwelt, und das hätte zu einem Gegensatz geführt zwischen einem
Naturalismus und einem idealistischen Ästhetizismns. Statt dessen setze er
-- Julius Hart -- die Kunstschöpfung dem wirklichen Leben gleich. Kunst
und Natur seien eins, beide Welten seien nur Phantasiebilder, von denen wir
nur durch unsern Geist wüßten. Und endlich "über alle Gegensätze und Wider¬
sprüche dringt eine Kunstanschauung hinaus, die die absolute Einheit von


Neueste Kunst und Aunstlitteratur

Lieder eines sechzehnjähriger Gymnasiasten mehr Poesie enthalten als alle
Verse dieser zwei Hefte zusammen, und das könnte wohl den Dichtern etwas
zu denken geben.

Wir bekommen nun aber noch als Zugabe etwas Litteraturgeschichte oder
Ästhetik, worin uns das Verständnis dieser neuesten Dichtung vermittelt werden
soll. „Über Dichtung" ist zunächst ein Aufsatz von Oskar A. H. Schmitz
überschrieben, der nebenbei in eine Empfehlung dreier uns ganz unbekannten
Dichter (Se. George, Fuchs und Hofmannsthal) ausläuft, in der Hauptsache
aber über poetische Ausdrucksformen zu handeln sich vorgenommen hat. Ist
sich der Verfasser über das, was er sagen wollte, wirklich klar gewesen, oder
fehlt ihm nur die Fähigkeit, sich einfach und deutlich auszudrücken? Jeden¬
falls wird der Leser am Eude so klug sein wie zuvor, und er kann, was er
gelesen hat, mit demselben Rechte für ein schwerverständliches Gedicht in Prosa
ansehen, wie für ein unverständliches Kapitel aus einer schweren und fremden
Wissenschaft — so taumeln hier die Worte und Sätze durch einander. Nur
ja nicht sich so ausdrücken wie andre Leute — das scheint das Prinzip zu
sein, wonach sie geordnet oder verstreut worden sind. Es ist uns bei dem
redlichsten Bemühen nicht gelungen, zu finden, was der Verfasser eigentlich beab¬
sichtigt hat. Gleich darauf läßt sich der eigentliche Literarhistoriker der Modernen,
Julius Hart, über ein ähnliches Thema hören: Die Kunst als Lebenserzeugcrin.
Es schildert uns, was der Künstler kann, der Natur nachschaffend als Dichter,
Musiker, Bildner oder Maler, und er ergeht sich dann in dem Preise dieses
Schaffens, wodurch der Schaffende lebendige Gestalten entstehen läßt, sie handeln,
sich bewegen läßt, wie er will, nach seinem Belieben, seiner Laune. „Nur in ihnen
kann er sein eignes Wesen klar offenbaren, sein ganzes Selbst und Ich umfassend
zu einem sinnlich-naturwirklichen Ausdruck bringen. Er ist durch den Geist außer
und über sein Ich getreten. Er hat sich selber als eine Außenerscheinung gesetzt,
sich objcktivirt usw." Ja, so fügen wir zunächst hinzu, wenn er es wirklich
kann und sichs nicht bloß einbildet, er und etwa seine im Vergleich zu allen
übrigen Menschen doch nur sehr wenigen Genossen, die sich dann unter ein¬
ander diese Kraft andichte». Was uns Julius Hart hier giebt, ist doch im
Grunde nur eine der schon so oft geschriebnen Anfsatzparallelen zwischen dem
Schaffen der Natur und dem Nachbilden der Künstler. Aber nach der Art,
wie er seine Ausdrücke wühlt, scheint es, als glaubte er uns etwas neues zu
sagen. Die Kunst, so sagt er, schaffe nach früherer Auffassung (Kant, Schiller)
eine Scheinwelt, und das hätte zu einem Gegensatz geführt zwischen einem
Naturalismus und einem idealistischen Ästhetizismns. Statt dessen setze er
— Julius Hart — die Kunstschöpfung dem wirklichen Leben gleich. Kunst
und Natur seien eins, beide Welten seien nur Phantasiebilder, von denen wir
nur durch unsern Geist wüßten. Und endlich „über alle Gegensätze und Wider¬
sprüche dringt eine Kunstanschauung hinaus, die die absolute Einheit von


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[0545] Neueste Kunst und Aunstlitteratur Lieder eines sechzehnjähriger Gymnasiasten mehr Poesie enthalten als alle Verse dieser zwei Hefte zusammen, und das könnte wohl den Dichtern etwas zu denken geben. Wir bekommen nun aber noch als Zugabe etwas Litteraturgeschichte oder Ästhetik, worin uns das Verständnis dieser neuesten Dichtung vermittelt werden soll. „Über Dichtung" ist zunächst ein Aufsatz von Oskar A. H. Schmitz überschrieben, der nebenbei in eine Empfehlung dreier uns ganz unbekannten Dichter (Se. George, Fuchs und Hofmannsthal) ausläuft, in der Hauptsache aber über poetische Ausdrucksformen zu handeln sich vorgenommen hat. Ist sich der Verfasser über das, was er sagen wollte, wirklich klar gewesen, oder fehlt ihm nur die Fähigkeit, sich einfach und deutlich auszudrücken? Jeden¬ falls wird der Leser am Eude so klug sein wie zuvor, und er kann, was er gelesen hat, mit demselben Rechte für ein schwerverständliches Gedicht in Prosa ansehen, wie für ein unverständliches Kapitel aus einer schweren und fremden Wissenschaft — so taumeln hier die Worte und Sätze durch einander. Nur ja nicht sich so ausdrücken wie andre Leute — das scheint das Prinzip zu sein, wonach sie geordnet oder verstreut worden sind. Es ist uns bei dem redlichsten Bemühen nicht gelungen, zu finden, was der Verfasser eigentlich beab¬ sichtigt hat. Gleich darauf läßt sich der eigentliche Literarhistoriker der Modernen, Julius Hart, über ein ähnliches Thema hören: Die Kunst als Lebenserzeugcrin. Es schildert uns, was der Künstler kann, der Natur nachschaffend als Dichter, Musiker, Bildner oder Maler, und er ergeht sich dann in dem Preise dieses Schaffens, wodurch der Schaffende lebendige Gestalten entstehen läßt, sie handeln, sich bewegen läßt, wie er will, nach seinem Belieben, seiner Laune. „Nur in ihnen kann er sein eignes Wesen klar offenbaren, sein ganzes Selbst und Ich umfassend zu einem sinnlich-naturwirklichen Ausdruck bringen. Er ist durch den Geist außer und über sein Ich getreten. Er hat sich selber als eine Außenerscheinung gesetzt, sich objcktivirt usw." Ja, so fügen wir zunächst hinzu, wenn er es wirklich kann und sichs nicht bloß einbildet, er und etwa seine im Vergleich zu allen übrigen Menschen doch nur sehr wenigen Genossen, die sich dann unter ein¬ ander diese Kraft andichte». Was uns Julius Hart hier giebt, ist doch im Grunde nur eine der schon so oft geschriebnen Anfsatzparallelen zwischen dem Schaffen der Natur und dem Nachbilden der Künstler. Aber nach der Art, wie er seine Ausdrücke wühlt, scheint es, als glaubte er uns etwas neues zu sagen. Die Kunst, so sagt er, schaffe nach früherer Auffassung (Kant, Schiller) eine Scheinwelt, und das hätte zu einem Gegensatz geführt zwischen einem Naturalismus und einem idealistischen Ästhetizismns. Statt dessen setze er — Julius Hart — die Kunstschöpfung dem wirklichen Leben gleich. Kunst und Natur seien eins, beide Welten seien nur Phantasiebilder, von denen wir nur durch unsern Geist wüßten. Und endlich „über alle Gegensätze und Wider¬ sprüche dringt eine Kunstanschauung hinaus, die die absolute Einheit von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/545>, abgerufen am 26.06.2024.