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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Aolonisten an der U)olga

Noch ist die Lage nicht verzweifelt. Der wirklich solide und dabei auch
gut gestellte Teil der Wolgakolonisten, der ausnahmslos aus Leuten besteht,
die sich unabhängig vom großen Haufen zu machen verstanden haben, zählt
immer noch nach vielen Tausenden; man muß ihn nur vor den Angriffen
und der Vergewaltigung der verlumpten Masse schützen, dann werden die ge¬
wohnten Dummheiten der Masse schon verhindert werden. Aber gerade darin
hat es bisher gefehlt.

Daß es keine angenehme Beschäftigung ist, sich mit dem verlotterten
Haufen herumzuplagen, soll keineswegs bestritten werden; aber es ist doch klar,
daß es nur dann besser werden kann, wenn dem Haufen zum Bewußtsein ge¬
bracht worden ist, daß er in wiederkehrenden Notstandszeiten nicht wieder auf
Unterstützungen rechnen darf, die ihm ein Notstandsjahr angenehmer macht
als eins mit günstiger Ernte. Wenn er darauf rechnen kann, daß ihm die
Zahlungen und Abgaben auf Kosten des soliden Teiles der Gemeinden ge¬
stundet und schließlich ganz erlassen werden, und daß ihm in Zeiten der Not
das zum Leben unbedingt Nötige unentgeltlich geliefert wird, ohne daß man
einen Finger dafür zu rühren braucht, weshalb soll er sich dann überhaupt
Sorge wegen der Zukunft machen und das gewohnte Leben zu ändern?

Erst wenn die letzten Neste der kommunistischen Mißwirtschaft beseitigt
sind, wird allen Gefahren vorgebeugt sein. Wäre die Mißwirtschaft nicht ge¬
wesen, so würde die Lage der Wolgakolonien ohne Frage in jeder Beziehung
günstig sein, aber dank der russischen Agrarverfassung ist es eben anders ge¬
kommen. So sehr das nun zu bedauern ist, so hat es doch wenigstens ein
Gutes gebracht. Hütten die Wolgakolonisten die Gemeinde- und Agrarver¬
fassung der übrigen deutschen Kolonisten im Reiche angenommen, so würde
ihre Entwicklung auch der andern Kolonien entsprochen haben, es hätte dann
an einem zuverlässigen Beispiel für die Beantwortung der russischen Bauern¬
frage gefehlt; es Hütte einfach geheißen: "Hier ist eben nichts zu ändern, aus
Russen lassen sich keine Deutschen machen, und umgekehrt." Jetzt ist aber der
Beweis geliefert, daß es bei einer kommunistischen Gemeinde- und Agrarver¬
fassung, wie sie den russischen Bauern gegeben worden ist, mit einer auf
höherer Kulturstufe stehenden Bevölkerung weit schneller abwärts geht, als
mit der in der Kultur zurückgebliebnen. Bei dieser sind die Bedürfnisse und
Ansprüche an das Leben weit geringer, und infolge dessen ist der Zersetzungs¬
prozeß des Ganzen auch weit langsamer, als auf Stellen mit höherer Kultur.
Hier erhebt selbst der verkommenste Lump genau denselben Anspruch auf Leben
und Genuß wie der Höherstehende und Güttstiggestellte, nur weil er einer
bestimmten Nation und Klasse angehört. Ein klassisches Beispiel liefert dafür
die Klasse der sogenannten "Zaun- oder Schattenrutscher" unter den Wolga¬
kolonisten, wie sie von den übrigen genannt werden. Obgleich sie so weit
heruntergekommen sind, daß sie samt ihrem Nachwuchs einfach ins Zwangs-


Grenzboten IV 1897 I><!
Die deutschen Aolonisten an der U)olga

Noch ist die Lage nicht verzweifelt. Der wirklich solide und dabei auch
gut gestellte Teil der Wolgakolonisten, der ausnahmslos aus Leuten besteht,
die sich unabhängig vom großen Haufen zu machen verstanden haben, zählt
immer noch nach vielen Tausenden; man muß ihn nur vor den Angriffen
und der Vergewaltigung der verlumpten Masse schützen, dann werden die ge¬
wohnten Dummheiten der Masse schon verhindert werden. Aber gerade darin
hat es bisher gefehlt.

Daß es keine angenehme Beschäftigung ist, sich mit dem verlotterten
Haufen herumzuplagen, soll keineswegs bestritten werden; aber es ist doch klar,
daß es nur dann besser werden kann, wenn dem Haufen zum Bewußtsein ge¬
bracht worden ist, daß er in wiederkehrenden Notstandszeiten nicht wieder auf
Unterstützungen rechnen darf, die ihm ein Notstandsjahr angenehmer macht
als eins mit günstiger Ernte. Wenn er darauf rechnen kann, daß ihm die
Zahlungen und Abgaben auf Kosten des soliden Teiles der Gemeinden ge¬
stundet und schließlich ganz erlassen werden, und daß ihm in Zeiten der Not
das zum Leben unbedingt Nötige unentgeltlich geliefert wird, ohne daß man
einen Finger dafür zu rühren braucht, weshalb soll er sich dann überhaupt
Sorge wegen der Zukunft machen und das gewohnte Leben zu ändern?

Erst wenn die letzten Neste der kommunistischen Mißwirtschaft beseitigt
sind, wird allen Gefahren vorgebeugt sein. Wäre die Mißwirtschaft nicht ge¬
wesen, so würde die Lage der Wolgakolonien ohne Frage in jeder Beziehung
günstig sein, aber dank der russischen Agrarverfassung ist es eben anders ge¬
kommen. So sehr das nun zu bedauern ist, so hat es doch wenigstens ein
Gutes gebracht. Hütten die Wolgakolonisten die Gemeinde- und Agrarver¬
fassung der übrigen deutschen Kolonisten im Reiche angenommen, so würde
ihre Entwicklung auch der andern Kolonien entsprochen haben, es hätte dann
an einem zuverlässigen Beispiel für die Beantwortung der russischen Bauern¬
frage gefehlt; es Hütte einfach geheißen: „Hier ist eben nichts zu ändern, aus
Russen lassen sich keine Deutschen machen, und umgekehrt." Jetzt ist aber der
Beweis geliefert, daß es bei einer kommunistischen Gemeinde- und Agrarver¬
fassung, wie sie den russischen Bauern gegeben worden ist, mit einer auf
höherer Kulturstufe stehenden Bevölkerung weit schneller abwärts geht, als
mit der in der Kultur zurückgebliebnen. Bei dieser sind die Bedürfnisse und
Ansprüche an das Leben weit geringer, und infolge dessen ist der Zersetzungs¬
prozeß des Ganzen auch weit langsamer, als auf Stellen mit höherer Kultur.
Hier erhebt selbst der verkommenste Lump genau denselben Anspruch auf Leben
und Genuß wie der Höherstehende und Güttstiggestellte, nur weil er einer
bestimmten Nation und Klasse angehört. Ein klassisches Beispiel liefert dafür
die Klasse der sogenannten „Zaun- oder Schattenrutscher" unter den Wolga¬
kolonisten, wie sie von den übrigen genannt werden. Obgleich sie so weit
heruntergekommen sind, daß sie samt ihrem Nachwuchs einfach ins Zwangs-


Grenzboten IV 1897 I><!
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[0531] Die deutschen Aolonisten an der U)olga Noch ist die Lage nicht verzweifelt. Der wirklich solide und dabei auch gut gestellte Teil der Wolgakolonisten, der ausnahmslos aus Leuten besteht, die sich unabhängig vom großen Haufen zu machen verstanden haben, zählt immer noch nach vielen Tausenden; man muß ihn nur vor den Angriffen und der Vergewaltigung der verlumpten Masse schützen, dann werden die ge¬ wohnten Dummheiten der Masse schon verhindert werden. Aber gerade darin hat es bisher gefehlt. Daß es keine angenehme Beschäftigung ist, sich mit dem verlotterten Haufen herumzuplagen, soll keineswegs bestritten werden; aber es ist doch klar, daß es nur dann besser werden kann, wenn dem Haufen zum Bewußtsein ge¬ bracht worden ist, daß er in wiederkehrenden Notstandszeiten nicht wieder auf Unterstützungen rechnen darf, die ihm ein Notstandsjahr angenehmer macht als eins mit günstiger Ernte. Wenn er darauf rechnen kann, daß ihm die Zahlungen und Abgaben auf Kosten des soliden Teiles der Gemeinden ge¬ stundet und schließlich ganz erlassen werden, und daß ihm in Zeiten der Not das zum Leben unbedingt Nötige unentgeltlich geliefert wird, ohne daß man einen Finger dafür zu rühren braucht, weshalb soll er sich dann überhaupt Sorge wegen der Zukunft machen und das gewohnte Leben zu ändern? Erst wenn die letzten Neste der kommunistischen Mißwirtschaft beseitigt sind, wird allen Gefahren vorgebeugt sein. Wäre die Mißwirtschaft nicht ge¬ wesen, so würde die Lage der Wolgakolonien ohne Frage in jeder Beziehung günstig sein, aber dank der russischen Agrarverfassung ist es eben anders ge¬ kommen. So sehr das nun zu bedauern ist, so hat es doch wenigstens ein Gutes gebracht. Hütten die Wolgakolonisten die Gemeinde- und Agrarver¬ fassung der übrigen deutschen Kolonisten im Reiche angenommen, so würde ihre Entwicklung auch der andern Kolonien entsprochen haben, es hätte dann an einem zuverlässigen Beispiel für die Beantwortung der russischen Bauern¬ frage gefehlt; es Hütte einfach geheißen: „Hier ist eben nichts zu ändern, aus Russen lassen sich keine Deutschen machen, und umgekehrt." Jetzt ist aber der Beweis geliefert, daß es bei einer kommunistischen Gemeinde- und Agrarver¬ fassung, wie sie den russischen Bauern gegeben worden ist, mit einer auf höherer Kulturstufe stehenden Bevölkerung weit schneller abwärts geht, als mit der in der Kultur zurückgebliebnen. Bei dieser sind die Bedürfnisse und Ansprüche an das Leben weit geringer, und infolge dessen ist der Zersetzungs¬ prozeß des Ganzen auch weit langsamer, als auf Stellen mit höherer Kultur. Hier erhebt selbst der verkommenste Lump genau denselben Anspruch auf Leben und Genuß wie der Höherstehende und Güttstiggestellte, nur weil er einer bestimmten Nation und Klasse angehört. Ein klassisches Beispiel liefert dafür die Klasse der sogenannten „Zaun- oder Schattenrutscher" unter den Wolga¬ kolonisten, wie sie von den übrigen genannt werden. Obgleich sie so weit heruntergekommen sind, daß sie samt ihrem Nachwuchs einfach ins Zwangs- Grenzboten IV 1897 I><!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/531>, abgerufen am 26.06.2024.