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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Uolonisten an der Wolga

Gemeindebesitzes liefert die Lage in den deutschen Kolonien, die eine andre
Agrarverfassung erhielten. Während auf den Feldern der Wolgakolonien nichts
als Ruin und Verwüstung zu finden ist, wird sich jeder über den Zustand
und die Beschaffenheit der Felder, namentlich der Kolonisten im Norden freuen,
die zu derselben Zeit mit den Wolgakolonisten eingewandert sind, aber das
Hofsystem mit fest zugeteilten Grundbesitz angenommen haben. Aus Wald
und Sumpf haben sich diese Kolonisten mit schwerer Arbeit Felder und Wiesen
geschaffen, die überall -- auch in Deutschland -- als mustergiltig gelten
können; das allein zeigt schon, wie die sittlichen Zustünde in diesen Kolonien
beschaffen sind. Welcher Unterschied ist zwischen diesen Kolonien und denen
an der Wolga, namentlich weiter draußen in der Steppe! Was aber auch in
der Steppe geleistet werden kann, haben die Kolonisten in Südrußland, in den
Gebieten des Schwarzen und des Asowschen Meeres bewiesen. Das Herz lacht
jedem im Leibe, wenn er zum erstenmal die wunderbar schönen Kolonien,
namentlich an der Molotschna im nördlichen Teil des wünschen Gouvernements
und die im Gouvernement Jekaterinoßlaw usw. besucht. Dörfer wie diese, die,
man kann sagen, wie aus dem El geschält sind, wo alles Ordnung und
Wohlstand verrät, hat in gleicher Schönheit nicht einmal der Westen Europas
aufzuweisen. Darnach besuche man einmal die Steppenkolonien an der Wolga,
wo Tausende in wahren Erdlöchern ohne Fenster und Thüren Hausen. Wie
diese Hütten beschaffen sind, zeigt schon die Thatsache, daß das Stück davon
gerichtlich zu 2 bis 3 Rubeln Kredit, also 5 bis 7 Mark taxirt werden. Und
entsprechend ist das Leben der Bewohner. Eine wirkliche Vorstellung davon,
wie weit die Menschen schließlich heruntersinken, wenn ihnen die "Sorge um
die Zukunft" genommen wird, hat aber nur, wer das fürchterliche Elend im
Winter 1891 bis 1892, wo Hunger und alle nur denkbaren Krankheiten gerade
in diesen Löchern in der entsetzlichsten Weise hausten, mit eignen Augen gesehen
hat. Wie viele aber haben es damals wirklich gesehen? Selbst die Mehrzahl
von denen, deren Verpflichtung es gewesen wäre, sich von dem Stande der Dinge
zu überzeugen, nahm sich in Acht, die Stätten des furchtbaren Elends zu be¬
treten, und es konnte ruhig gesagt und geschrieben werden, es sei ja gar
nicht so schlimm. Durch dieses beliebte Vertuschen und Beschönigen der aller-
gefährlichsten Übel ist es aber erst zu den Zuständen der Jahre 1891 und 1892
gekommen, und mit solchem Vertuschen wird auch für die Zukunft nichts ge¬
bessert, sondern die Lage immer gefährlicher werden. Daß nach den günstigen
Ernten der letzten Jahre die Masse das nötige Brot hat, ist ja erfreulich; ist
damit aber auch die Gewähr gegeben, daß das Volk durch die Erfahrungen
der Hungerjahre wirklich klüger und besser besorgt für die Zukunft geworden
ist, und daß sich nicht dasselbe wiederholen wird, was 1891 und 1892 und
-schon früher geschah? Die Vermutung liegt nahe, daß die nächste Notstandszeit
noch schlimmer als alle bisherigen werden wird.


Die deutschen Uolonisten an der Wolga

Gemeindebesitzes liefert die Lage in den deutschen Kolonien, die eine andre
Agrarverfassung erhielten. Während auf den Feldern der Wolgakolonien nichts
als Ruin und Verwüstung zu finden ist, wird sich jeder über den Zustand
und die Beschaffenheit der Felder, namentlich der Kolonisten im Norden freuen,
die zu derselben Zeit mit den Wolgakolonisten eingewandert sind, aber das
Hofsystem mit fest zugeteilten Grundbesitz angenommen haben. Aus Wald
und Sumpf haben sich diese Kolonisten mit schwerer Arbeit Felder und Wiesen
geschaffen, die überall — auch in Deutschland — als mustergiltig gelten
können; das allein zeigt schon, wie die sittlichen Zustünde in diesen Kolonien
beschaffen sind. Welcher Unterschied ist zwischen diesen Kolonien und denen
an der Wolga, namentlich weiter draußen in der Steppe! Was aber auch in
der Steppe geleistet werden kann, haben die Kolonisten in Südrußland, in den
Gebieten des Schwarzen und des Asowschen Meeres bewiesen. Das Herz lacht
jedem im Leibe, wenn er zum erstenmal die wunderbar schönen Kolonien,
namentlich an der Molotschna im nördlichen Teil des wünschen Gouvernements
und die im Gouvernement Jekaterinoßlaw usw. besucht. Dörfer wie diese, die,
man kann sagen, wie aus dem El geschält sind, wo alles Ordnung und
Wohlstand verrät, hat in gleicher Schönheit nicht einmal der Westen Europas
aufzuweisen. Darnach besuche man einmal die Steppenkolonien an der Wolga,
wo Tausende in wahren Erdlöchern ohne Fenster und Thüren Hausen. Wie
diese Hütten beschaffen sind, zeigt schon die Thatsache, daß das Stück davon
gerichtlich zu 2 bis 3 Rubeln Kredit, also 5 bis 7 Mark taxirt werden. Und
entsprechend ist das Leben der Bewohner. Eine wirkliche Vorstellung davon,
wie weit die Menschen schließlich heruntersinken, wenn ihnen die „Sorge um
die Zukunft" genommen wird, hat aber nur, wer das fürchterliche Elend im
Winter 1891 bis 1892, wo Hunger und alle nur denkbaren Krankheiten gerade
in diesen Löchern in der entsetzlichsten Weise hausten, mit eignen Augen gesehen
hat. Wie viele aber haben es damals wirklich gesehen? Selbst die Mehrzahl
von denen, deren Verpflichtung es gewesen wäre, sich von dem Stande der Dinge
zu überzeugen, nahm sich in Acht, die Stätten des furchtbaren Elends zu be¬
treten, und es konnte ruhig gesagt und geschrieben werden, es sei ja gar
nicht so schlimm. Durch dieses beliebte Vertuschen und Beschönigen der aller-
gefährlichsten Übel ist es aber erst zu den Zuständen der Jahre 1891 und 1892
gekommen, und mit solchem Vertuschen wird auch für die Zukunft nichts ge¬
bessert, sondern die Lage immer gefährlicher werden. Daß nach den günstigen
Ernten der letzten Jahre die Masse das nötige Brot hat, ist ja erfreulich; ist
damit aber auch die Gewähr gegeben, daß das Volk durch die Erfahrungen
der Hungerjahre wirklich klüger und besser besorgt für die Zukunft geworden
ist, und daß sich nicht dasselbe wiederholen wird, was 1891 und 1892 und
-schon früher geschah? Die Vermutung liegt nahe, daß die nächste Notstandszeit
noch schlimmer als alle bisherigen werden wird.


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[0530] Die deutschen Uolonisten an der Wolga Gemeindebesitzes liefert die Lage in den deutschen Kolonien, die eine andre Agrarverfassung erhielten. Während auf den Feldern der Wolgakolonien nichts als Ruin und Verwüstung zu finden ist, wird sich jeder über den Zustand und die Beschaffenheit der Felder, namentlich der Kolonisten im Norden freuen, die zu derselben Zeit mit den Wolgakolonisten eingewandert sind, aber das Hofsystem mit fest zugeteilten Grundbesitz angenommen haben. Aus Wald und Sumpf haben sich diese Kolonisten mit schwerer Arbeit Felder und Wiesen geschaffen, die überall — auch in Deutschland — als mustergiltig gelten können; das allein zeigt schon, wie die sittlichen Zustünde in diesen Kolonien beschaffen sind. Welcher Unterschied ist zwischen diesen Kolonien und denen an der Wolga, namentlich weiter draußen in der Steppe! Was aber auch in der Steppe geleistet werden kann, haben die Kolonisten in Südrußland, in den Gebieten des Schwarzen und des Asowschen Meeres bewiesen. Das Herz lacht jedem im Leibe, wenn er zum erstenmal die wunderbar schönen Kolonien, namentlich an der Molotschna im nördlichen Teil des wünschen Gouvernements und die im Gouvernement Jekaterinoßlaw usw. besucht. Dörfer wie diese, die, man kann sagen, wie aus dem El geschält sind, wo alles Ordnung und Wohlstand verrät, hat in gleicher Schönheit nicht einmal der Westen Europas aufzuweisen. Darnach besuche man einmal die Steppenkolonien an der Wolga, wo Tausende in wahren Erdlöchern ohne Fenster und Thüren Hausen. Wie diese Hütten beschaffen sind, zeigt schon die Thatsache, daß das Stück davon gerichtlich zu 2 bis 3 Rubeln Kredit, also 5 bis 7 Mark taxirt werden. Und entsprechend ist das Leben der Bewohner. Eine wirkliche Vorstellung davon, wie weit die Menschen schließlich heruntersinken, wenn ihnen die „Sorge um die Zukunft" genommen wird, hat aber nur, wer das fürchterliche Elend im Winter 1891 bis 1892, wo Hunger und alle nur denkbaren Krankheiten gerade in diesen Löchern in der entsetzlichsten Weise hausten, mit eignen Augen gesehen hat. Wie viele aber haben es damals wirklich gesehen? Selbst die Mehrzahl von denen, deren Verpflichtung es gewesen wäre, sich von dem Stande der Dinge zu überzeugen, nahm sich in Acht, die Stätten des furchtbaren Elends zu be¬ treten, und es konnte ruhig gesagt und geschrieben werden, es sei ja gar nicht so schlimm. Durch dieses beliebte Vertuschen und Beschönigen der aller- gefährlichsten Übel ist es aber erst zu den Zuständen der Jahre 1891 und 1892 gekommen, und mit solchem Vertuschen wird auch für die Zukunft nichts ge¬ bessert, sondern die Lage immer gefährlicher werden. Daß nach den günstigen Ernten der letzten Jahre die Masse das nötige Brot hat, ist ja erfreulich; ist damit aber auch die Gewähr gegeben, daß das Volk durch die Erfahrungen der Hungerjahre wirklich klüger und besser besorgt für die Zukunft geworden ist, und daß sich nicht dasselbe wiederholen wird, was 1891 und 1892 und -schon früher geschah? Die Vermutung liegt nahe, daß die nächste Notstandszeit noch schlimmer als alle bisherigen werden wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/530>, abgerufen am 26.06.2024.