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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Ivolga

arbeitshaus gehörten, sagen sie sich hochmütig: "Du bist ja ein deutscher
Mann und also etwas ganz besondres!" Keine Spur mehr von den Eigen¬
schaften eines braven deutschen Bauern, aber auf die Forderung, zu arbeiten,
wird ein solcher Mensch hochfahrend erwidern: "Das is kaane Arbeit for a
teilhaben Mann." Und so ist es in allem übrigen. Der russische Bauer ist
mit Schwarz- oder Roggenbrod und einem Schluck seines Fusels zufrieden, der
verkommne Wolgakolouist will "Kuchche" -- Weizenbrod -- und guten Schnaps
haben, und ebenso verlangt "Madame," wenn sich die Sache irgendwie macheu
läßt, ihr "Schälchen Kosfee" so gut wie alle andern im Orte, denn -- "Mr
sein doch nett schlechter wie de armern," aber arbeiten wie alle andern wollen
sie nicht.

Die eigentümliche Entwicklung der Dinge in den Wolgakolonien hat nach
alledem nicht nur für die russische Negierung, sondern auch für die übrige
Welt großes Interesse. Die regierende Masse hat so lange bequem und möglichst
gut gelebt, als Mittel dazu vorhanden waren, und jetzt weiß sie sich nicht
mehr anders zu helfen, als daß sie wieder einmal auswandern will. Bei den
riesigen Landmassen, die den Wolgakolonisten schon zur Verfügung stehen, ist
aber kein wirklicher Grund zum Auswandern vorhanden, wenn man nur Kopf
und Glieder gebrauchen will. Die Zeiten sind vorüber, wo es immer nur
"Neuland" gab -- und damit ist aber auch das Latein der Leute zu Ende,
die sonst jedem, der sie auf das Bedenkliche ihrer Wirtschaftsweise aufmerksam
machte, hochmütig erwiderten: "Was versteht ihr von unsrer Sache!" Andre
haben sich schließlich um ihre Angelegenheiten kümmern müssen, als ihnen das
Wasser bis an den Hals reichte, und dasselbe würde sich auch nach längerer
und kürzer Zeit wiederholen. Es ist ja sehr begreiflich, daß der Masse die
jetzigen Zeiten nicht gefallen, und daß sie noch immer von den "goldigen"
Tagen und Jahren der Überfülle von Neuland und hohen Getreidepreisen
träumt; aber diese Zeiten sind eben gewesen, und die russische Negierung wird
sich hüten, ihren Unterthanen noch ferner die Mittel zur Fortsetzung eines
Schlendrians zu liefern, der die Menschen nicht reicher und klüger, sondern
nur ärmer und beschränkter macht. Die größte Wohlthat, die sie dem Volke
erweisen kann, besteht darin, daß sie es durch Gesetze' zwingt, mehr an die
eigne und der Kinder Zukunft zu denken, als es bisher geschehen ist.




Die deutschen Kolonisten an der Ivolga

arbeitshaus gehörten, sagen sie sich hochmütig: „Du bist ja ein deutscher
Mann und also etwas ganz besondres!" Keine Spur mehr von den Eigen¬
schaften eines braven deutschen Bauern, aber auf die Forderung, zu arbeiten,
wird ein solcher Mensch hochfahrend erwidern: „Das is kaane Arbeit for a
teilhaben Mann." Und so ist es in allem übrigen. Der russische Bauer ist
mit Schwarz- oder Roggenbrod und einem Schluck seines Fusels zufrieden, der
verkommne Wolgakolouist will „Kuchche" — Weizenbrod — und guten Schnaps
haben, und ebenso verlangt „Madame," wenn sich die Sache irgendwie macheu
läßt, ihr „Schälchen Kosfee" so gut wie alle andern im Orte, denn — „Mr
sein doch nett schlechter wie de armern," aber arbeiten wie alle andern wollen
sie nicht.

Die eigentümliche Entwicklung der Dinge in den Wolgakolonien hat nach
alledem nicht nur für die russische Negierung, sondern auch für die übrige
Welt großes Interesse. Die regierende Masse hat so lange bequem und möglichst
gut gelebt, als Mittel dazu vorhanden waren, und jetzt weiß sie sich nicht
mehr anders zu helfen, als daß sie wieder einmal auswandern will. Bei den
riesigen Landmassen, die den Wolgakolonisten schon zur Verfügung stehen, ist
aber kein wirklicher Grund zum Auswandern vorhanden, wenn man nur Kopf
und Glieder gebrauchen will. Die Zeiten sind vorüber, wo es immer nur
„Neuland" gab — und damit ist aber auch das Latein der Leute zu Ende,
die sonst jedem, der sie auf das Bedenkliche ihrer Wirtschaftsweise aufmerksam
machte, hochmütig erwiderten: „Was versteht ihr von unsrer Sache!" Andre
haben sich schließlich um ihre Angelegenheiten kümmern müssen, als ihnen das
Wasser bis an den Hals reichte, und dasselbe würde sich auch nach längerer
und kürzer Zeit wiederholen. Es ist ja sehr begreiflich, daß der Masse die
jetzigen Zeiten nicht gefallen, und daß sie noch immer von den „goldigen"
Tagen und Jahren der Überfülle von Neuland und hohen Getreidepreisen
träumt; aber diese Zeiten sind eben gewesen, und die russische Negierung wird
sich hüten, ihren Unterthanen noch ferner die Mittel zur Fortsetzung eines
Schlendrians zu liefern, der die Menschen nicht reicher und klüger, sondern
nur ärmer und beschränkter macht. Die größte Wohlthat, die sie dem Volke
erweisen kann, besteht darin, daß sie es durch Gesetze' zwingt, mehr an die
eigne und der Kinder Zukunft zu denken, als es bisher geschehen ist.




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[0532] Die deutschen Kolonisten an der Ivolga arbeitshaus gehörten, sagen sie sich hochmütig: „Du bist ja ein deutscher Mann und also etwas ganz besondres!" Keine Spur mehr von den Eigen¬ schaften eines braven deutschen Bauern, aber auf die Forderung, zu arbeiten, wird ein solcher Mensch hochfahrend erwidern: „Das is kaane Arbeit for a teilhaben Mann." Und so ist es in allem übrigen. Der russische Bauer ist mit Schwarz- oder Roggenbrod und einem Schluck seines Fusels zufrieden, der verkommne Wolgakolouist will „Kuchche" — Weizenbrod — und guten Schnaps haben, und ebenso verlangt „Madame," wenn sich die Sache irgendwie macheu läßt, ihr „Schälchen Kosfee" so gut wie alle andern im Orte, denn — „Mr sein doch nett schlechter wie de armern," aber arbeiten wie alle andern wollen sie nicht. Die eigentümliche Entwicklung der Dinge in den Wolgakolonien hat nach alledem nicht nur für die russische Negierung, sondern auch für die übrige Welt großes Interesse. Die regierende Masse hat so lange bequem und möglichst gut gelebt, als Mittel dazu vorhanden waren, und jetzt weiß sie sich nicht mehr anders zu helfen, als daß sie wieder einmal auswandern will. Bei den riesigen Landmassen, die den Wolgakolonisten schon zur Verfügung stehen, ist aber kein wirklicher Grund zum Auswandern vorhanden, wenn man nur Kopf und Glieder gebrauchen will. Die Zeiten sind vorüber, wo es immer nur „Neuland" gab — und damit ist aber auch das Latein der Leute zu Ende, die sonst jedem, der sie auf das Bedenkliche ihrer Wirtschaftsweise aufmerksam machte, hochmütig erwiderten: „Was versteht ihr von unsrer Sache!" Andre haben sich schließlich um ihre Angelegenheiten kümmern müssen, als ihnen das Wasser bis an den Hals reichte, und dasselbe würde sich auch nach längerer und kürzer Zeit wiederholen. Es ist ja sehr begreiflich, daß der Masse die jetzigen Zeiten nicht gefallen, und daß sie noch immer von den „goldigen" Tagen und Jahren der Überfülle von Neuland und hohen Getreidepreisen träumt; aber diese Zeiten sind eben gewesen, und die russische Negierung wird sich hüten, ihren Unterthanen noch ferner die Mittel zur Fortsetzung eines Schlendrians zu liefern, der die Menschen nicht reicher und klüger, sondern nur ärmer und beschränkter macht. Die größte Wohlthat, die sie dem Volke erweisen kann, besteht darin, daß sie es durch Gesetze' zwingt, mehr an die eigne und der Kinder Zukunft zu denken, als es bisher geschehen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/532>, abgerufen am 26.06.2024.