Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutschen Aolonisten an der Wolga

ist. Es ist eben außerordentlich schwer, Ansichten und Gewohnheiten auszu¬
rotten, die seit Jahrhunderten fest Wurzel geschlagen haben: Fleiß und
Thätigkeit werden eben in Rußland nicht so wie im westlichen Europa geachtet.
Wer "arbeitete," war verachtet, und deshalb wurde die Arbeiterklasse nicht
nach ihren Eigenschaften, sondern einfach nach ihrer Zahl geschätzt. Man ver¬
langte von den einzelnen Köpfen die gleichen Leistungen und Zahlungen und
gab deshalb auch an Grund und Boden usw. jedem genau dasselbe, ohne
dabei nach den sittlichen und sonstigen Eigenschaften der Empfänger zu fragen.
Einfach und bequem war die Sache allerdings, aber man darf sich nicht
wundern, daß der Haufe auch jetzt noch, wo er vollständig frei ist, Thätigkeit
und Sparsamkeit verachtet, denselben Anspruch auf Besitz und Leben wie der
Tüchtigste und Sparsamste erhebt.

Nur der liederliche Haufe hat von den Schenkungen und Gaben der
Kaiser wirklichen Nutzen gehabt. Die von Alexander II. und Alexander III.
erlassenen Steuerrückstände sind fast ausschließlich ihm zu gute gekommen.
Er bezahlte in dem Vertrauen, daß man ihm die Steuerrückstände eines
schönen Tages erlassen würde, einfach weder Schulden noch Steuern, war
also, als sie wirklich gestrichen wurden, gerade so weit wie die, die ihren
Verpflichtungen jedes Jahr pünktlich nachgekommen waren. Alexander II.
hatte den leibeignen Bauern die Freiheit gegeben und ihnen zugleich etwa
25000 deutsche Quadratmeilen oder etwa 500 Millionen preußische Morgen
Land zumessen lassen. Das genügte aber weder den Bauern, noch deren
Freunden, die am liebsten den Adel und die Gutsbesitzer ganz aus der Welt
geschafft hätten. Die Treibereien zu Gunsten der Bauern begannen, um die
Regierung zu nötigen, mit allem, was nicht Bauer hieß, aufzuräumen. Als das
aber damals nicht geschah, rechneten die Leute darauf, daß ihnen Alexander III.
bei seiner Krönung den Gefallen thun würde. Aber der Kaiser hielt am
21. Mai 1883 den Bauerndelegirten seine bekannte Rede, die in allen
Kirchen verlesen wurde und alle Hoffnungen der Bauern und ihrer Freunde
zerstörte. Es war also wieder nichts. Man tröstete sich damit, daß man
sagte: "Wir müssen warten, bis der Thronfolger (der jetzige Kaiser) zur Ne¬
gierung kommt; der liebt den Adel nicht und giebt uns das noch übrige Land
ganz bestimmt."

Aber auch Nikolaus II. wurde gekrönt, ohne daß den Bauern das noch
übrige Gntsland geschenkt worden wäre. Man vertröstete sich nun bis zur
nächsten "Revision" (Volkszählung), wo die Zuteilung von weiteren Lande,
der Vermehrung der männlichen Köpse entsprechend, dann ohne Frage wie in
frühern Zeiten erfolgen müßte. Die Volkszählung ist aber vorübergegangen,
ohne die erwünschten Geschenke zu bringen, und jetzt fragt man sich wieder:
Wann werden wir denn eigentlich das noch übrige Land erhalten? Die Ver¬
nünftigen haben sich nun allerdings schon lauge gesagt, daß aus den Wünschen


Die deutschen Aolonisten an der Wolga

ist. Es ist eben außerordentlich schwer, Ansichten und Gewohnheiten auszu¬
rotten, die seit Jahrhunderten fest Wurzel geschlagen haben: Fleiß und
Thätigkeit werden eben in Rußland nicht so wie im westlichen Europa geachtet.
Wer „arbeitete," war verachtet, und deshalb wurde die Arbeiterklasse nicht
nach ihren Eigenschaften, sondern einfach nach ihrer Zahl geschätzt. Man ver¬
langte von den einzelnen Köpfen die gleichen Leistungen und Zahlungen und
gab deshalb auch an Grund und Boden usw. jedem genau dasselbe, ohne
dabei nach den sittlichen und sonstigen Eigenschaften der Empfänger zu fragen.
Einfach und bequem war die Sache allerdings, aber man darf sich nicht
wundern, daß der Haufe auch jetzt noch, wo er vollständig frei ist, Thätigkeit
und Sparsamkeit verachtet, denselben Anspruch auf Besitz und Leben wie der
Tüchtigste und Sparsamste erhebt.

Nur der liederliche Haufe hat von den Schenkungen und Gaben der
Kaiser wirklichen Nutzen gehabt. Die von Alexander II. und Alexander III.
erlassenen Steuerrückstände sind fast ausschließlich ihm zu gute gekommen.
Er bezahlte in dem Vertrauen, daß man ihm die Steuerrückstände eines
schönen Tages erlassen würde, einfach weder Schulden noch Steuern, war
also, als sie wirklich gestrichen wurden, gerade so weit wie die, die ihren
Verpflichtungen jedes Jahr pünktlich nachgekommen waren. Alexander II.
hatte den leibeignen Bauern die Freiheit gegeben und ihnen zugleich etwa
25000 deutsche Quadratmeilen oder etwa 500 Millionen preußische Morgen
Land zumessen lassen. Das genügte aber weder den Bauern, noch deren
Freunden, die am liebsten den Adel und die Gutsbesitzer ganz aus der Welt
geschafft hätten. Die Treibereien zu Gunsten der Bauern begannen, um die
Regierung zu nötigen, mit allem, was nicht Bauer hieß, aufzuräumen. Als das
aber damals nicht geschah, rechneten die Leute darauf, daß ihnen Alexander III.
bei seiner Krönung den Gefallen thun würde. Aber der Kaiser hielt am
21. Mai 1883 den Bauerndelegirten seine bekannte Rede, die in allen
Kirchen verlesen wurde und alle Hoffnungen der Bauern und ihrer Freunde
zerstörte. Es war also wieder nichts. Man tröstete sich damit, daß man
sagte: „Wir müssen warten, bis der Thronfolger (der jetzige Kaiser) zur Ne¬
gierung kommt; der liebt den Adel nicht und giebt uns das noch übrige Land
ganz bestimmt."

Aber auch Nikolaus II. wurde gekrönt, ohne daß den Bauern das noch
übrige Gntsland geschenkt worden wäre. Man vertröstete sich nun bis zur
nächsten „Revision" (Volkszählung), wo die Zuteilung von weiteren Lande,
der Vermehrung der männlichen Köpse entsprechend, dann ohne Frage wie in
frühern Zeiten erfolgen müßte. Die Volkszählung ist aber vorübergegangen,
ohne die erwünschten Geschenke zu bringen, und jetzt fragt man sich wieder:
Wann werden wir denn eigentlich das noch übrige Land erhalten? Die Ver¬
nünftigen haben sich nun allerdings schon lauge gesagt, daß aus den Wünschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226758"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutschen Aolonisten an der Wolga</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1294" prev="#ID_1293"> ist. Es ist eben außerordentlich schwer, Ansichten und Gewohnheiten auszu¬<lb/>
rotten, die seit Jahrhunderten fest Wurzel geschlagen haben: Fleiß und<lb/>
Thätigkeit werden eben in Rußland nicht so wie im westlichen Europa geachtet.<lb/>
Wer &#x201E;arbeitete," war verachtet, und deshalb wurde die Arbeiterklasse nicht<lb/>
nach ihren Eigenschaften, sondern einfach nach ihrer Zahl geschätzt. Man ver¬<lb/>
langte von den einzelnen Köpfen die gleichen Leistungen und Zahlungen und<lb/>
gab deshalb auch an Grund und Boden usw. jedem genau dasselbe, ohne<lb/>
dabei nach den sittlichen und sonstigen Eigenschaften der Empfänger zu fragen.<lb/>
Einfach und bequem war die Sache allerdings, aber man darf sich nicht<lb/>
wundern, daß der Haufe auch jetzt noch, wo er vollständig frei ist, Thätigkeit<lb/>
und Sparsamkeit verachtet, denselben Anspruch auf Besitz und Leben wie der<lb/>
Tüchtigste und Sparsamste erhebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1295"> Nur der liederliche Haufe hat von den Schenkungen und Gaben der<lb/>
Kaiser wirklichen Nutzen gehabt. Die von Alexander II. und Alexander III.<lb/>
erlassenen Steuerrückstände sind fast ausschließlich ihm zu gute gekommen.<lb/>
Er bezahlte in dem Vertrauen, daß man ihm die Steuerrückstände eines<lb/>
schönen Tages erlassen würde, einfach weder Schulden noch Steuern, war<lb/>
also, als sie wirklich gestrichen wurden, gerade so weit wie die, die ihren<lb/>
Verpflichtungen jedes Jahr pünktlich nachgekommen waren. Alexander II.<lb/>
hatte den leibeignen Bauern die Freiheit gegeben und ihnen zugleich etwa<lb/>
25000 deutsche Quadratmeilen oder etwa 500 Millionen preußische Morgen<lb/>
Land zumessen lassen. Das genügte aber weder den Bauern, noch deren<lb/>
Freunden, die am liebsten den Adel und die Gutsbesitzer ganz aus der Welt<lb/>
geschafft hätten. Die Treibereien zu Gunsten der Bauern begannen, um die<lb/>
Regierung zu nötigen, mit allem, was nicht Bauer hieß, aufzuräumen. Als das<lb/>
aber damals nicht geschah, rechneten die Leute darauf, daß ihnen Alexander III.<lb/>
bei seiner Krönung den Gefallen thun würde. Aber der Kaiser hielt am<lb/>
21. Mai 1883 den Bauerndelegirten seine bekannte Rede, die in allen<lb/>
Kirchen verlesen wurde und alle Hoffnungen der Bauern und ihrer Freunde<lb/>
zerstörte. Es war also wieder nichts. Man tröstete sich damit, daß man<lb/>
sagte: &#x201E;Wir müssen warten, bis der Thronfolger (der jetzige Kaiser) zur Ne¬<lb/>
gierung kommt; der liebt den Adel nicht und giebt uns das noch übrige Land<lb/>
ganz bestimmt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1296" next="#ID_1297"> Aber auch Nikolaus II. wurde gekrönt, ohne daß den Bauern das noch<lb/>
übrige Gntsland geschenkt worden wäre. Man vertröstete sich nun bis zur<lb/>
nächsten &#x201E;Revision" (Volkszählung), wo die Zuteilung von weiteren Lande,<lb/>
der Vermehrung der männlichen Köpse entsprechend, dann ohne Frage wie in<lb/>
frühern Zeiten erfolgen müßte. Die Volkszählung ist aber vorübergegangen,<lb/>
ohne die erwünschten Geschenke zu bringen, und jetzt fragt man sich wieder:<lb/>
Wann werden wir denn eigentlich das noch übrige Land erhalten? Die Ver¬<lb/>
nünftigen haben sich nun allerdings schon lauge gesagt, daß aus den Wünschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0528] Die deutschen Aolonisten an der Wolga ist. Es ist eben außerordentlich schwer, Ansichten und Gewohnheiten auszu¬ rotten, die seit Jahrhunderten fest Wurzel geschlagen haben: Fleiß und Thätigkeit werden eben in Rußland nicht so wie im westlichen Europa geachtet. Wer „arbeitete," war verachtet, und deshalb wurde die Arbeiterklasse nicht nach ihren Eigenschaften, sondern einfach nach ihrer Zahl geschätzt. Man ver¬ langte von den einzelnen Köpfen die gleichen Leistungen und Zahlungen und gab deshalb auch an Grund und Boden usw. jedem genau dasselbe, ohne dabei nach den sittlichen und sonstigen Eigenschaften der Empfänger zu fragen. Einfach und bequem war die Sache allerdings, aber man darf sich nicht wundern, daß der Haufe auch jetzt noch, wo er vollständig frei ist, Thätigkeit und Sparsamkeit verachtet, denselben Anspruch auf Besitz und Leben wie der Tüchtigste und Sparsamste erhebt. Nur der liederliche Haufe hat von den Schenkungen und Gaben der Kaiser wirklichen Nutzen gehabt. Die von Alexander II. und Alexander III. erlassenen Steuerrückstände sind fast ausschließlich ihm zu gute gekommen. Er bezahlte in dem Vertrauen, daß man ihm die Steuerrückstände eines schönen Tages erlassen würde, einfach weder Schulden noch Steuern, war also, als sie wirklich gestrichen wurden, gerade so weit wie die, die ihren Verpflichtungen jedes Jahr pünktlich nachgekommen waren. Alexander II. hatte den leibeignen Bauern die Freiheit gegeben und ihnen zugleich etwa 25000 deutsche Quadratmeilen oder etwa 500 Millionen preußische Morgen Land zumessen lassen. Das genügte aber weder den Bauern, noch deren Freunden, die am liebsten den Adel und die Gutsbesitzer ganz aus der Welt geschafft hätten. Die Treibereien zu Gunsten der Bauern begannen, um die Regierung zu nötigen, mit allem, was nicht Bauer hieß, aufzuräumen. Als das aber damals nicht geschah, rechneten die Leute darauf, daß ihnen Alexander III. bei seiner Krönung den Gefallen thun würde. Aber der Kaiser hielt am 21. Mai 1883 den Bauerndelegirten seine bekannte Rede, die in allen Kirchen verlesen wurde und alle Hoffnungen der Bauern und ihrer Freunde zerstörte. Es war also wieder nichts. Man tröstete sich damit, daß man sagte: „Wir müssen warten, bis der Thronfolger (der jetzige Kaiser) zur Ne¬ gierung kommt; der liebt den Adel nicht und giebt uns das noch übrige Land ganz bestimmt." Aber auch Nikolaus II. wurde gekrönt, ohne daß den Bauern das noch übrige Gntsland geschenkt worden wäre. Man vertröstete sich nun bis zur nächsten „Revision" (Volkszählung), wo die Zuteilung von weiteren Lande, der Vermehrung der männlichen Köpse entsprechend, dann ohne Frage wie in frühern Zeiten erfolgen müßte. Die Volkszählung ist aber vorübergegangen, ohne die erwünschten Geschenke zu bringen, und jetzt fragt man sich wieder: Wann werden wir denn eigentlich das noch übrige Land erhalten? Die Ver¬ nünftigen haben sich nun allerdings schon lauge gesagt, daß aus den Wünschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/528
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/528>, abgerufen am 26.06.2024.