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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche" Aolonisten an der Wolga

Gemeinde- oder Kirchenvermögen usw. beigesteuert hat, doch die Überzeugung,
daß alles, was in der Gemeinde vorhanden ist, Gemeinde- oder Kirchengelder,
Gebäude, Felder, Wülder usw. auch sein persönliches Eigentum sei, über das
er, unter Umständen in Verbindung mit einem hinreichenden Haufen Gleich¬
gesinnter, ohne weiteres verfügen könne. Und der Haufe hat auch von dem
Recht, über das Gemeindevermögen ganz nach Belieben zu verfügen, solange
ungenirt Gebrauch gemacht, als ihm die bestehenden Gesetze die Möglichkeit
verschafften. Er verkaufte und vertrank, ohne sich nur um die Proteste der
andern zu kümmern, ebenso die Getreidebestünde im Gemeindemagcizin, die für
Notstandsjahre als eisernes Kapital dienen sollten, wie das Saatgetreide; es
wurden schulde" auf Gemeiuderechnung gemacht, daß noch Generationen zu
zahlen haben werden, wenn sie die Folgen der leichtsinnigen Wirtschaft ihrer
Väter beseitigen wollen.

Als in den Jahren 1391 und 1892 während der Notstandszeit die Masse die
gesammelten Gaben nicht in die Hand erhielt, und Maßregeln getroffen wurden,
jeden Mißbrauch des Haufens mit den eingegangnen Gaben zu verhindern,
machte er natürlich den größten Lärm. Seine Anmaßung ging soweit, daß die
Leute deu Mitgliedern der Notstandskomitees, dnrch die überhaupt erst Unter¬
stützungen herbeigeschafft worden waren, das Recht bestritten, Bestimmungen
über die Verwendung der Gaben zu treffen oder sie nach den Bestimmungen
der Geber zu verwenden. Es wurde frech behauptet, daß niemand ein Recht
hätte, mit "ihrem" Gelde zu wirtschaften, daß sie schon selber wüßten, was
sie damit zu machen hätten. Da sich Gemeindevorstünde weigerten, die
Forderung des herrschenden Haufens zu erfüllen, das noch vorhandne Ge¬
meindeeigentum zu versetzen und das Geld auf die Zahl der Köpfe zu ver¬
teilen, das -- wie immer -- in wenig Tagen vertrunken worden würe,
kam es zu offnem Aufstande, der durch Militär niedergeschlagen werden mußte.

Bei den russischen Bauern wurde, solange die Leibeigenschaft dauerte,
noch einigermaßen Ordnung gehalten, da es nötigenfalls Hiebe setzte, wenn
das Volk durchaus nicht arbeiten wollte; seitdem aber derartiges nicht mehr
zu befürchten war, wurde die Zahl derer, die das Betteln bequemer fanden als
das Arbeiten, mit jedem Jahre größer. Und ebenso war es bei den Wolga¬
kolonisten. In früherer Zeit galt das Betteln unter ihnen immer noch als eine
Schande; seit der Verleihung der Selbstverwaltung aber gab es immer mehr
Leute, die das Betteln als ein ebenso ehrsames Handwerk wie jedes andre be¬
trachteten. Man nimmt ja nur, was die andern freiwillig geben, und das der
Gemeinde zugeteilte Land trägt natürlich genug, um den Faulenzer mit den
Seinen durchzubringen. Auf Besserung ist nicht zu rechnen, ehe den Leuten
zum Bewußtsein gebracht worden ist, daß Faulheit und Liederlichkeit nicht
weiter darauf zu rechnen haben, auf Rechnung andrer erhalten und durchge¬
füttert zu werden. Aber es wird noch lauge Zeit vergehen, ehe das erreicht


Die deutsche» Aolonisten an der Wolga

Gemeinde- oder Kirchenvermögen usw. beigesteuert hat, doch die Überzeugung,
daß alles, was in der Gemeinde vorhanden ist, Gemeinde- oder Kirchengelder,
Gebäude, Felder, Wülder usw. auch sein persönliches Eigentum sei, über das
er, unter Umständen in Verbindung mit einem hinreichenden Haufen Gleich¬
gesinnter, ohne weiteres verfügen könne. Und der Haufe hat auch von dem
Recht, über das Gemeindevermögen ganz nach Belieben zu verfügen, solange
ungenirt Gebrauch gemacht, als ihm die bestehenden Gesetze die Möglichkeit
verschafften. Er verkaufte und vertrank, ohne sich nur um die Proteste der
andern zu kümmern, ebenso die Getreidebestünde im Gemeindemagcizin, die für
Notstandsjahre als eisernes Kapital dienen sollten, wie das Saatgetreide; es
wurden schulde» auf Gemeiuderechnung gemacht, daß noch Generationen zu
zahlen haben werden, wenn sie die Folgen der leichtsinnigen Wirtschaft ihrer
Väter beseitigen wollen.

Als in den Jahren 1391 und 1892 während der Notstandszeit die Masse die
gesammelten Gaben nicht in die Hand erhielt, und Maßregeln getroffen wurden,
jeden Mißbrauch des Haufens mit den eingegangnen Gaben zu verhindern,
machte er natürlich den größten Lärm. Seine Anmaßung ging soweit, daß die
Leute deu Mitgliedern der Notstandskomitees, dnrch die überhaupt erst Unter¬
stützungen herbeigeschafft worden waren, das Recht bestritten, Bestimmungen
über die Verwendung der Gaben zu treffen oder sie nach den Bestimmungen
der Geber zu verwenden. Es wurde frech behauptet, daß niemand ein Recht
hätte, mit „ihrem" Gelde zu wirtschaften, daß sie schon selber wüßten, was
sie damit zu machen hätten. Da sich Gemeindevorstünde weigerten, die
Forderung des herrschenden Haufens zu erfüllen, das noch vorhandne Ge¬
meindeeigentum zu versetzen und das Geld auf die Zahl der Köpfe zu ver¬
teilen, das — wie immer — in wenig Tagen vertrunken worden würe,
kam es zu offnem Aufstande, der durch Militär niedergeschlagen werden mußte.

Bei den russischen Bauern wurde, solange die Leibeigenschaft dauerte,
noch einigermaßen Ordnung gehalten, da es nötigenfalls Hiebe setzte, wenn
das Volk durchaus nicht arbeiten wollte; seitdem aber derartiges nicht mehr
zu befürchten war, wurde die Zahl derer, die das Betteln bequemer fanden als
das Arbeiten, mit jedem Jahre größer. Und ebenso war es bei den Wolga¬
kolonisten. In früherer Zeit galt das Betteln unter ihnen immer noch als eine
Schande; seit der Verleihung der Selbstverwaltung aber gab es immer mehr
Leute, die das Betteln als ein ebenso ehrsames Handwerk wie jedes andre be¬
trachteten. Man nimmt ja nur, was die andern freiwillig geben, und das der
Gemeinde zugeteilte Land trägt natürlich genug, um den Faulenzer mit den
Seinen durchzubringen. Auf Besserung ist nicht zu rechnen, ehe den Leuten
zum Bewußtsein gebracht worden ist, daß Faulheit und Liederlichkeit nicht
weiter darauf zu rechnen haben, auf Rechnung andrer erhalten und durchge¬
füttert zu werden. Aber es wird noch lauge Zeit vergehen, ehe das erreicht


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[0527] Die deutsche» Aolonisten an der Wolga Gemeinde- oder Kirchenvermögen usw. beigesteuert hat, doch die Überzeugung, daß alles, was in der Gemeinde vorhanden ist, Gemeinde- oder Kirchengelder, Gebäude, Felder, Wülder usw. auch sein persönliches Eigentum sei, über das er, unter Umständen in Verbindung mit einem hinreichenden Haufen Gleich¬ gesinnter, ohne weiteres verfügen könne. Und der Haufe hat auch von dem Recht, über das Gemeindevermögen ganz nach Belieben zu verfügen, solange ungenirt Gebrauch gemacht, als ihm die bestehenden Gesetze die Möglichkeit verschafften. Er verkaufte und vertrank, ohne sich nur um die Proteste der andern zu kümmern, ebenso die Getreidebestünde im Gemeindemagcizin, die für Notstandsjahre als eisernes Kapital dienen sollten, wie das Saatgetreide; es wurden schulde» auf Gemeiuderechnung gemacht, daß noch Generationen zu zahlen haben werden, wenn sie die Folgen der leichtsinnigen Wirtschaft ihrer Väter beseitigen wollen. Als in den Jahren 1391 und 1892 während der Notstandszeit die Masse die gesammelten Gaben nicht in die Hand erhielt, und Maßregeln getroffen wurden, jeden Mißbrauch des Haufens mit den eingegangnen Gaben zu verhindern, machte er natürlich den größten Lärm. Seine Anmaßung ging soweit, daß die Leute deu Mitgliedern der Notstandskomitees, dnrch die überhaupt erst Unter¬ stützungen herbeigeschafft worden waren, das Recht bestritten, Bestimmungen über die Verwendung der Gaben zu treffen oder sie nach den Bestimmungen der Geber zu verwenden. Es wurde frech behauptet, daß niemand ein Recht hätte, mit „ihrem" Gelde zu wirtschaften, daß sie schon selber wüßten, was sie damit zu machen hätten. Da sich Gemeindevorstünde weigerten, die Forderung des herrschenden Haufens zu erfüllen, das noch vorhandne Ge¬ meindeeigentum zu versetzen und das Geld auf die Zahl der Köpfe zu ver¬ teilen, das — wie immer — in wenig Tagen vertrunken worden würe, kam es zu offnem Aufstande, der durch Militär niedergeschlagen werden mußte. Bei den russischen Bauern wurde, solange die Leibeigenschaft dauerte, noch einigermaßen Ordnung gehalten, da es nötigenfalls Hiebe setzte, wenn das Volk durchaus nicht arbeiten wollte; seitdem aber derartiges nicht mehr zu befürchten war, wurde die Zahl derer, die das Betteln bequemer fanden als das Arbeiten, mit jedem Jahre größer. Und ebenso war es bei den Wolga¬ kolonisten. In früherer Zeit galt das Betteln unter ihnen immer noch als eine Schande; seit der Verleihung der Selbstverwaltung aber gab es immer mehr Leute, die das Betteln als ein ebenso ehrsames Handwerk wie jedes andre be¬ trachteten. Man nimmt ja nur, was die andern freiwillig geben, und das der Gemeinde zugeteilte Land trägt natürlich genug, um den Faulenzer mit den Seinen durchzubringen. Auf Besserung ist nicht zu rechnen, ehe den Leuten zum Bewußtsein gebracht worden ist, daß Faulheit und Liederlichkeit nicht weiter darauf zu rechnen haben, auf Rechnung andrer erhalten und durchge¬ füttert zu werden. Aber es wird noch lauge Zeit vergehen, ehe das erreicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/527>, abgerufen am 26.06.2024.