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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Vie deutschen Kolonisten an der Wolga

und den Staat verlaßt. Ist es nicht ganz natürlich, wenn die zu Gunsten
des Haufens Vergewaltigten schließlich erklärten: Man bringt uns mit Gewalt
dahin, jedes ernste Streben ferner entweder ganz zu unterlassen oder auszu¬
wandern und auf Stellen zu gehen, wo wir nicht fortwährend für Faulenzer
arbeiten müssen, die im Sommer im Schatten und im Winter aus dem Ofen
liegen? Die Mehrzahl der russischen Beamten hat allerdings Gewissen und Ge¬
rechtigkeitsgefühl genug, sich solche Gewaltstreiche nicht zu schulden kommen zu
lassen, aber es giebt mehr als genug, die bei dem Bestreben, sich bei ihren
Vorgesetzten und dem großen Haufen lieb Kind zu machen und zu zeigen, wie
glatt sich alle Geschäfte in ihrem Bezirke abwickeln lassen, welche Ordnung
und Pünktlichkeit darin herrscht, dem Volke und der Autorität des Staats
mehr Schaden als Nutzen bringen.

Der bekannteste Vorwurf, den die Sozialdemokratrie der heutigen Gesell¬
schaftsordnung macht, besteht bekanntlich darin, daß der Kapitalismus auf
Kosten der Arbeit der untern Klassen bestehe und vorwärtskomme. Es sällt
uns nicht ein, zu leugnen, daß Ausschreitungen vorkommen, aber es fragt sich,
wer es am gründlichsten versteht, auf fremde Kosten zu leben, der Kapitalismus
oder die hernntergekvmmne Masse, wenn sie ihren bequemen Instinkten frei
folgen kann, und wo diese widerliche Erscheinung am auffälligsten zu Tage tritt.

Beim Kapitalismus besteht doch immer noch eine Gegenleistung, Zahlung
von Löhnen, wenn von fremder Arbeitskraft und fremdem Eigentum Gebrauch
gemacht wird; man sehe sich aber einmal die Handlungsweise des verbummelten
Haufens an, wenn dieser die Möglichkeit hat, sich auf Kosten der übrigen in
der Gemeinde Vorteile zu machen. So beschränkt dieser Haufe ist, wenn es
sich darum handelt, Mittel und Wege zu finden, auf ehrliche und thätige Weise
vorwärtszukommen, so raffinirt ist er, wenn es gilt, sich auf Kosten der
"Reichen" oder der "Gemeinde" usw. Mittel zum Schnaps oder zu ähnlichen
Dingen zu verschaffen. Dem Gutsbesitzer die Felder abzuweiden oder die
Wälder auszuhauen, um mit dem gestohlnen Holze nötigenfalls ganz offen
Handel zu treiben, verstehen die russischen Bauern ebenso gut, wie das
Gutsvieh absichtlich auf ihre Felder zu treiben, um sich dann durch das Pfänder
Geld zu machen, und hundert andre Kniffe. Und ebenso erfahren ist darin die
heruntergekvmmne Musse der Kolonisten.

Wer die Sache nicht aus Erfahrung kennt, ist nicht imstande, sich eine
Vorstellung davon zu machen, welche Verwirrung der Begriffe in Bezug auf
Mein und Dein ein längeres Leben im kommunistischen Gemeindebesitz in
den Köpfen der Masse erzeugt. Anderwärts weiß der letzte Bauer, daß Ge¬
meindeeigentum, Kirchenvermögen usw. etwas andres sind als Privateigentum
oder sein eignes geringes Vermögen, aber es ist keine Möglichkeit, diese Begriffe
der regierenden Masse in Dörfern mit kommunistischer Agrarverfassung klar zu
machen. Dort hat der verkommenste Lump, der noch nie einen Kopeken zum


Vie deutschen Kolonisten an der Wolga

und den Staat verlaßt. Ist es nicht ganz natürlich, wenn die zu Gunsten
des Haufens Vergewaltigten schließlich erklärten: Man bringt uns mit Gewalt
dahin, jedes ernste Streben ferner entweder ganz zu unterlassen oder auszu¬
wandern und auf Stellen zu gehen, wo wir nicht fortwährend für Faulenzer
arbeiten müssen, die im Sommer im Schatten und im Winter aus dem Ofen
liegen? Die Mehrzahl der russischen Beamten hat allerdings Gewissen und Ge¬
rechtigkeitsgefühl genug, sich solche Gewaltstreiche nicht zu schulden kommen zu
lassen, aber es giebt mehr als genug, die bei dem Bestreben, sich bei ihren
Vorgesetzten und dem großen Haufen lieb Kind zu machen und zu zeigen, wie
glatt sich alle Geschäfte in ihrem Bezirke abwickeln lassen, welche Ordnung
und Pünktlichkeit darin herrscht, dem Volke und der Autorität des Staats
mehr Schaden als Nutzen bringen.

Der bekannteste Vorwurf, den die Sozialdemokratrie der heutigen Gesell¬
schaftsordnung macht, besteht bekanntlich darin, daß der Kapitalismus auf
Kosten der Arbeit der untern Klassen bestehe und vorwärtskomme. Es sällt
uns nicht ein, zu leugnen, daß Ausschreitungen vorkommen, aber es fragt sich,
wer es am gründlichsten versteht, auf fremde Kosten zu leben, der Kapitalismus
oder die hernntergekvmmne Masse, wenn sie ihren bequemen Instinkten frei
folgen kann, und wo diese widerliche Erscheinung am auffälligsten zu Tage tritt.

Beim Kapitalismus besteht doch immer noch eine Gegenleistung, Zahlung
von Löhnen, wenn von fremder Arbeitskraft und fremdem Eigentum Gebrauch
gemacht wird; man sehe sich aber einmal die Handlungsweise des verbummelten
Haufens an, wenn dieser die Möglichkeit hat, sich auf Kosten der übrigen in
der Gemeinde Vorteile zu machen. So beschränkt dieser Haufe ist, wenn es
sich darum handelt, Mittel und Wege zu finden, auf ehrliche und thätige Weise
vorwärtszukommen, so raffinirt ist er, wenn es gilt, sich auf Kosten der
„Reichen" oder der „Gemeinde" usw. Mittel zum Schnaps oder zu ähnlichen
Dingen zu verschaffen. Dem Gutsbesitzer die Felder abzuweiden oder die
Wälder auszuhauen, um mit dem gestohlnen Holze nötigenfalls ganz offen
Handel zu treiben, verstehen die russischen Bauern ebenso gut, wie das
Gutsvieh absichtlich auf ihre Felder zu treiben, um sich dann durch das Pfänder
Geld zu machen, und hundert andre Kniffe. Und ebenso erfahren ist darin die
heruntergekvmmne Musse der Kolonisten.

Wer die Sache nicht aus Erfahrung kennt, ist nicht imstande, sich eine
Vorstellung davon zu machen, welche Verwirrung der Begriffe in Bezug auf
Mein und Dein ein längeres Leben im kommunistischen Gemeindebesitz in
den Köpfen der Masse erzeugt. Anderwärts weiß der letzte Bauer, daß Ge¬
meindeeigentum, Kirchenvermögen usw. etwas andres sind als Privateigentum
oder sein eignes geringes Vermögen, aber es ist keine Möglichkeit, diese Begriffe
der regierenden Masse in Dörfern mit kommunistischer Agrarverfassung klar zu
machen. Dort hat der verkommenste Lump, der noch nie einen Kopeken zum


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[0526] Vie deutschen Kolonisten an der Wolga und den Staat verlaßt. Ist es nicht ganz natürlich, wenn die zu Gunsten des Haufens Vergewaltigten schließlich erklärten: Man bringt uns mit Gewalt dahin, jedes ernste Streben ferner entweder ganz zu unterlassen oder auszu¬ wandern und auf Stellen zu gehen, wo wir nicht fortwährend für Faulenzer arbeiten müssen, die im Sommer im Schatten und im Winter aus dem Ofen liegen? Die Mehrzahl der russischen Beamten hat allerdings Gewissen und Ge¬ rechtigkeitsgefühl genug, sich solche Gewaltstreiche nicht zu schulden kommen zu lassen, aber es giebt mehr als genug, die bei dem Bestreben, sich bei ihren Vorgesetzten und dem großen Haufen lieb Kind zu machen und zu zeigen, wie glatt sich alle Geschäfte in ihrem Bezirke abwickeln lassen, welche Ordnung und Pünktlichkeit darin herrscht, dem Volke und der Autorität des Staats mehr Schaden als Nutzen bringen. Der bekannteste Vorwurf, den die Sozialdemokratrie der heutigen Gesell¬ schaftsordnung macht, besteht bekanntlich darin, daß der Kapitalismus auf Kosten der Arbeit der untern Klassen bestehe und vorwärtskomme. Es sällt uns nicht ein, zu leugnen, daß Ausschreitungen vorkommen, aber es fragt sich, wer es am gründlichsten versteht, auf fremde Kosten zu leben, der Kapitalismus oder die hernntergekvmmne Masse, wenn sie ihren bequemen Instinkten frei folgen kann, und wo diese widerliche Erscheinung am auffälligsten zu Tage tritt. Beim Kapitalismus besteht doch immer noch eine Gegenleistung, Zahlung von Löhnen, wenn von fremder Arbeitskraft und fremdem Eigentum Gebrauch gemacht wird; man sehe sich aber einmal die Handlungsweise des verbummelten Haufens an, wenn dieser die Möglichkeit hat, sich auf Kosten der übrigen in der Gemeinde Vorteile zu machen. So beschränkt dieser Haufe ist, wenn es sich darum handelt, Mittel und Wege zu finden, auf ehrliche und thätige Weise vorwärtszukommen, so raffinirt ist er, wenn es gilt, sich auf Kosten der „Reichen" oder der „Gemeinde" usw. Mittel zum Schnaps oder zu ähnlichen Dingen zu verschaffen. Dem Gutsbesitzer die Felder abzuweiden oder die Wälder auszuhauen, um mit dem gestohlnen Holze nötigenfalls ganz offen Handel zu treiben, verstehen die russischen Bauern ebenso gut, wie das Gutsvieh absichtlich auf ihre Felder zu treiben, um sich dann durch das Pfänder Geld zu machen, und hundert andre Kniffe. Und ebenso erfahren ist darin die heruntergekvmmne Musse der Kolonisten. Wer die Sache nicht aus Erfahrung kennt, ist nicht imstande, sich eine Vorstellung davon zu machen, welche Verwirrung der Begriffe in Bezug auf Mein und Dein ein längeres Leben im kommunistischen Gemeindebesitz in den Köpfen der Masse erzeugt. Anderwärts weiß der letzte Bauer, daß Ge¬ meindeeigentum, Kirchenvermögen usw. etwas andres sind als Privateigentum oder sein eignes geringes Vermögen, aber es ist keine Möglichkeit, diese Begriffe der regierenden Masse in Dörfern mit kommunistischer Agrarverfassung klar zu machen. Dort hat der verkommenste Lump, der noch nie einen Kopeken zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/526>, abgerufen am 26.06.2024.