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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Jahre leicht überwunden und im ganzen auch wenig empfunden. Damals
wurde noch dafür gesorgt, daß der untere Haufe nicht die Oberhand bekam;
mit dem Verschwinden jener Behörde und der Selbstverwaltung aber waren
die zuverlässigen Leute, auf denen von jeher überhaupt die Existenz und
das Vorwärtskommen der Kolonien beruht hatte, vollständig auf die Seite
geschoben und jeder Willkür des Haufens preisgegeben.

Gerade nach den Erfahrungen, die man mit dem kommunistischen Ge¬
meindebesitz in den deutschen Wolgakolonien gemacht hat, würde das fürchter¬
lichste Unglück, das die Menschheit treffen könnte, die Verwirklichung der
wahnsinnigen Ideen der Sozialdemokratie sein.

Keine andre Verirrung des menschlichen Geistes käme wohl der Ver¬
blendung gleich, die in der Annahme liegt, daß man der Masse nur das
Nötige zu geben brauche, sorglos zu leben, um alle Verbrechen, alles Böse
aus der Welt zu schaffen. Hat es der Masse der Wolgakolonisten etwa an
irgend etwas gefehlt, was es ihnen wie so vielen andern, die heute reich und
angesehen sind, möglich gemacht hätte, emporzukommen, wenn sie nur thätig
und sparsam hätten sein wollen? Alle ohne Ausnahme wurden sie bei der
Zuteilung der Existenzmittel vollkommen gleich behandelt; wer trägt also die
Schuld daran, daß ihre Mehrheit immer weiter zurückgekommen ist und ihr
Heil nur noch im Auswandern sieht? Hat sie irgend jemand daran gehindert,
dieselben Wege wie die Kolonisten zu gehen, die entschlossen auf ihr eignes
Risiko lebten und wirtschafteten und es dann auch zum sehr großen Teil zu
bedeutendem Reichtum und hohem Ansehen brachten und neben den Geist¬
lichen die alleinigen Erhalter der Kolonien gewesen sind? Daß hier schon vor
Jahrzehnten alles aus Rand und Band gegangen wäre, und Tausende trotz
der zugeteilten riesigen Landflächen Hütten verhungern müssen, wenn nicht dieser
wirklich solide Teil gewesen wäre, weiß alle Welt; aber trotz der fürchter¬
lichsten Erfahrungen ist doch erst ein geringer Teil der Masse zu der Erkenntnis
gekommen, daß andre Wege als die bisherigen eingeschlagen werden müssen,
wenn nicht schließlich alle untergehen sollen.

Das gefährlichste bei kommunistischen Gemeindebesitz und solidarischer
Haftbarkeit in einer vollkommen freien Bevölkerung mit Selbstverwaltung, wo
der Haufe das Regiment ausschließlich in den Händen hält, ist von jeher die
bodenlose Korruption gewesen, die alle Kreise ergreift, und daß es gewissenlose
Beamte giebt, die, anstatt den Thätigen und sparsamen zu schütze", jedes
Recht mit Füßen treten und aus Bequemlichkeit oder aus andern Gründen
gemeinschaftliche Sache mit dem verlotterten Haufen machen. Es ist freilich
bequemer, das Nötige bei denen in der Gemeinde zu nehmen, wo etwas zum
Nehmen vorhanden ist, als sich mit der Menge der thatsächlichen Schuldner
herumzuärgern. Ein solches Verfahren muß aber schließlich die ganze Ge¬
meinde zu Lumpengesindel machen, das sich zu seiner Erhaltung auf andre


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Jahre leicht überwunden und im ganzen auch wenig empfunden. Damals
wurde noch dafür gesorgt, daß der untere Haufe nicht die Oberhand bekam;
mit dem Verschwinden jener Behörde und der Selbstverwaltung aber waren
die zuverlässigen Leute, auf denen von jeher überhaupt die Existenz und
das Vorwärtskommen der Kolonien beruht hatte, vollständig auf die Seite
geschoben und jeder Willkür des Haufens preisgegeben.

Gerade nach den Erfahrungen, die man mit dem kommunistischen Ge¬
meindebesitz in den deutschen Wolgakolonien gemacht hat, würde das fürchter¬
lichste Unglück, das die Menschheit treffen könnte, die Verwirklichung der
wahnsinnigen Ideen der Sozialdemokratie sein.

Keine andre Verirrung des menschlichen Geistes käme wohl der Ver¬
blendung gleich, die in der Annahme liegt, daß man der Masse nur das
Nötige zu geben brauche, sorglos zu leben, um alle Verbrechen, alles Böse
aus der Welt zu schaffen. Hat es der Masse der Wolgakolonisten etwa an
irgend etwas gefehlt, was es ihnen wie so vielen andern, die heute reich und
angesehen sind, möglich gemacht hätte, emporzukommen, wenn sie nur thätig
und sparsam hätten sein wollen? Alle ohne Ausnahme wurden sie bei der
Zuteilung der Existenzmittel vollkommen gleich behandelt; wer trägt also die
Schuld daran, daß ihre Mehrheit immer weiter zurückgekommen ist und ihr
Heil nur noch im Auswandern sieht? Hat sie irgend jemand daran gehindert,
dieselben Wege wie die Kolonisten zu gehen, die entschlossen auf ihr eignes
Risiko lebten und wirtschafteten und es dann auch zum sehr großen Teil zu
bedeutendem Reichtum und hohem Ansehen brachten und neben den Geist¬
lichen die alleinigen Erhalter der Kolonien gewesen sind? Daß hier schon vor
Jahrzehnten alles aus Rand und Band gegangen wäre, und Tausende trotz
der zugeteilten riesigen Landflächen Hütten verhungern müssen, wenn nicht dieser
wirklich solide Teil gewesen wäre, weiß alle Welt; aber trotz der fürchter¬
lichsten Erfahrungen ist doch erst ein geringer Teil der Masse zu der Erkenntnis
gekommen, daß andre Wege als die bisherigen eingeschlagen werden müssen,
wenn nicht schließlich alle untergehen sollen.

Das gefährlichste bei kommunistischen Gemeindebesitz und solidarischer
Haftbarkeit in einer vollkommen freien Bevölkerung mit Selbstverwaltung, wo
der Haufe das Regiment ausschließlich in den Händen hält, ist von jeher die
bodenlose Korruption gewesen, die alle Kreise ergreift, und daß es gewissenlose
Beamte giebt, die, anstatt den Thätigen und sparsamen zu schütze», jedes
Recht mit Füßen treten und aus Bequemlichkeit oder aus andern Gründen
gemeinschaftliche Sache mit dem verlotterten Haufen machen. Es ist freilich
bequemer, das Nötige bei denen in der Gemeinde zu nehmen, wo etwas zum
Nehmen vorhanden ist, als sich mit der Menge der thatsächlichen Schuldner
herumzuärgern. Ein solches Verfahren muß aber schließlich die ganze Ge¬
meinde zu Lumpengesindel machen, das sich zu seiner Erhaltung auf andre


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[0525] Die deutschen Kolonisten an der Wolga Jahre leicht überwunden und im ganzen auch wenig empfunden. Damals wurde noch dafür gesorgt, daß der untere Haufe nicht die Oberhand bekam; mit dem Verschwinden jener Behörde und der Selbstverwaltung aber waren die zuverlässigen Leute, auf denen von jeher überhaupt die Existenz und das Vorwärtskommen der Kolonien beruht hatte, vollständig auf die Seite geschoben und jeder Willkür des Haufens preisgegeben. Gerade nach den Erfahrungen, die man mit dem kommunistischen Ge¬ meindebesitz in den deutschen Wolgakolonien gemacht hat, würde das fürchter¬ lichste Unglück, das die Menschheit treffen könnte, die Verwirklichung der wahnsinnigen Ideen der Sozialdemokratie sein. Keine andre Verirrung des menschlichen Geistes käme wohl der Ver¬ blendung gleich, die in der Annahme liegt, daß man der Masse nur das Nötige zu geben brauche, sorglos zu leben, um alle Verbrechen, alles Böse aus der Welt zu schaffen. Hat es der Masse der Wolgakolonisten etwa an irgend etwas gefehlt, was es ihnen wie so vielen andern, die heute reich und angesehen sind, möglich gemacht hätte, emporzukommen, wenn sie nur thätig und sparsam hätten sein wollen? Alle ohne Ausnahme wurden sie bei der Zuteilung der Existenzmittel vollkommen gleich behandelt; wer trägt also die Schuld daran, daß ihre Mehrheit immer weiter zurückgekommen ist und ihr Heil nur noch im Auswandern sieht? Hat sie irgend jemand daran gehindert, dieselben Wege wie die Kolonisten zu gehen, die entschlossen auf ihr eignes Risiko lebten und wirtschafteten und es dann auch zum sehr großen Teil zu bedeutendem Reichtum und hohem Ansehen brachten und neben den Geist¬ lichen die alleinigen Erhalter der Kolonien gewesen sind? Daß hier schon vor Jahrzehnten alles aus Rand und Band gegangen wäre, und Tausende trotz der zugeteilten riesigen Landflächen Hütten verhungern müssen, wenn nicht dieser wirklich solide Teil gewesen wäre, weiß alle Welt; aber trotz der fürchter¬ lichsten Erfahrungen ist doch erst ein geringer Teil der Masse zu der Erkenntnis gekommen, daß andre Wege als die bisherigen eingeschlagen werden müssen, wenn nicht schließlich alle untergehen sollen. Das gefährlichste bei kommunistischen Gemeindebesitz und solidarischer Haftbarkeit in einer vollkommen freien Bevölkerung mit Selbstverwaltung, wo der Haufe das Regiment ausschließlich in den Händen hält, ist von jeher die bodenlose Korruption gewesen, die alle Kreise ergreift, und daß es gewissenlose Beamte giebt, die, anstatt den Thätigen und sparsamen zu schütze», jedes Recht mit Füßen treten und aus Bequemlichkeit oder aus andern Gründen gemeinschaftliche Sache mit dem verlotterten Haufen machen. Es ist freilich bequemer, das Nötige bei denen in der Gemeinde zu nehmen, wo etwas zum Nehmen vorhanden ist, als sich mit der Menge der thatsächlichen Schuldner herumzuärgern. Ein solches Verfahren muß aber schließlich die ganze Ge¬ meinde zu Lumpengesindel machen, das sich zu seiner Erhaltung auf andre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/525>, abgerufen am 26.06.2024.