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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

alle Mühe, wenigstens die Anleitungen unmöglich zu machen und den Gemeinde¬
besitz wenigstens in nicht weiter teilbare Parzellen überzuführen. Alle der¬
artigen Absichten scheiterten aber so lange an dem Widerstande der Massen,
als diese überhaupt etwas zu sagen hatten, und das war bis vor etwa dreißig
Jahren der Fall. Welche Verluste hierdurch der Gesamtheit zugefügt wurden,
darüber nur das Folgende.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, mit der die Kolonisten allerdings
unmittelbar nichts zu thun hatten, ging das Streben der Regierung dahin,
sowohl die russischen Bauern wie die Kolonisten zu Eigentümern des bisher nur
benutzten Landes zu machen. Sie schlug den Kolonisten vor, das den Kolonien
zugemessene Land zu dem Preise von 8, sage acht Rubeln Kredit für die Deßjatine
-- den preußischen Morgen also zu weniger als zwei Rubeln -- erd- und
eigentümlich zu erwerben. Trotz der so außerordentlich günstigen Bedingungen
und trotz alles Zuredens sowohl der Geistlichen wie des einsichtigen Teils der
Kolonisten lehnte die Masse den Vorschlag der Regierung mit der Begrün¬
dung ab: "Wir brauchen Neuland (Urboden), aber nicht schon ausgeraubtes
Land, das uns nichts nützen kann. Können wir kein Neuland erhalten, so
bleibt uns nichts übrig, als auszuwandern." Das war anfang der sechziger
Jahre; wie viele schon damals nach dem Kaukasus, namentlich dem Kuban,
nach Brasilien usw. ausgewandert sind, weiß noch jeder Wolgakolonist.
Damals begann auch das Jammern und Klagen über "die unerschwinglichen
Zahlungen," den Mangel an Land, obgleich mehr als die Hälfte des zugeteilten
Landes vollkommen unbearbeitet lag, das Verwüster der letzten Waldanpflan¬
zungen, das Umpflügen aller, auch selbst steiler Abhänge an Schluchten und
Flüssen, nur um frisches Land zu haben, das hierdurch herbeigeführte Ver¬
härten und die Verschüttung der Thäler und Flußbetten mit Geröll und Steinen,
und schließlich das Verpachten und Versetzen der letzten noch nicht ausgemergelten
Stellen an Kapitalisten, nur um auf einige Wochen Geld zu erhalten, über¬
haupt die Zeit rapiden Verfalls und steigender Armut, die während der
Jahre 1891 und 1892 in der allgemeinen Hungersnot den höchsten Grad
erreichte.

Was Mißernten in den Gebieten der untern Wolga zu bedeuten haben,
weiß jeder, der mit den dortigen Verhältnissen bekannt ist, gut genug; die Gesamt-
lage der Kolonien hätte aber in jenem Jahre nicht eine so grauenhafte Gestalt
annehmen können, wenn den Mißernten nicht eine dreißig Jahre dauernde
Mißwirtschaft vorausgegangen wäre. Nur durch sie war es soweit gekommen,
daß fast alle Kolonien, verschuldet bis über die Ohren, ohne alle Hilfsmittel
dastanden und nur durch Hilfe von außen vor einer fürchterlichen Kata¬
strophe -- dem Verhungen von vielen Tausenden -- bewahrt werden konnten.
Mißernten waren auch früher schon vorgekommen, aber solange die Masse
unter der Kontrolle der Oberbehördc in Ssaratow stand, wurden derartige


Die deutschen Kolonisten an der Wolga

alle Mühe, wenigstens die Anleitungen unmöglich zu machen und den Gemeinde¬
besitz wenigstens in nicht weiter teilbare Parzellen überzuführen. Alle der¬
artigen Absichten scheiterten aber so lange an dem Widerstande der Massen,
als diese überhaupt etwas zu sagen hatten, und das war bis vor etwa dreißig
Jahren der Fall. Welche Verluste hierdurch der Gesamtheit zugefügt wurden,
darüber nur das Folgende.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, mit der die Kolonisten allerdings
unmittelbar nichts zu thun hatten, ging das Streben der Regierung dahin,
sowohl die russischen Bauern wie die Kolonisten zu Eigentümern des bisher nur
benutzten Landes zu machen. Sie schlug den Kolonisten vor, das den Kolonien
zugemessene Land zu dem Preise von 8, sage acht Rubeln Kredit für die Deßjatine
— den preußischen Morgen also zu weniger als zwei Rubeln — erd- und
eigentümlich zu erwerben. Trotz der so außerordentlich günstigen Bedingungen
und trotz alles Zuredens sowohl der Geistlichen wie des einsichtigen Teils der
Kolonisten lehnte die Masse den Vorschlag der Regierung mit der Begrün¬
dung ab: „Wir brauchen Neuland (Urboden), aber nicht schon ausgeraubtes
Land, das uns nichts nützen kann. Können wir kein Neuland erhalten, so
bleibt uns nichts übrig, als auszuwandern." Das war anfang der sechziger
Jahre; wie viele schon damals nach dem Kaukasus, namentlich dem Kuban,
nach Brasilien usw. ausgewandert sind, weiß noch jeder Wolgakolonist.
Damals begann auch das Jammern und Klagen über „die unerschwinglichen
Zahlungen," den Mangel an Land, obgleich mehr als die Hälfte des zugeteilten
Landes vollkommen unbearbeitet lag, das Verwüster der letzten Waldanpflan¬
zungen, das Umpflügen aller, auch selbst steiler Abhänge an Schluchten und
Flüssen, nur um frisches Land zu haben, das hierdurch herbeigeführte Ver¬
härten und die Verschüttung der Thäler und Flußbetten mit Geröll und Steinen,
und schließlich das Verpachten und Versetzen der letzten noch nicht ausgemergelten
Stellen an Kapitalisten, nur um auf einige Wochen Geld zu erhalten, über¬
haupt die Zeit rapiden Verfalls und steigender Armut, die während der
Jahre 1891 und 1892 in der allgemeinen Hungersnot den höchsten Grad
erreichte.

Was Mißernten in den Gebieten der untern Wolga zu bedeuten haben,
weiß jeder, der mit den dortigen Verhältnissen bekannt ist, gut genug; die Gesamt-
lage der Kolonien hätte aber in jenem Jahre nicht eine so grauenhafte Gestalt
annehmen können, wenn den Mißernten nicht eine dreißig Jahre dauernde
Mißwirtschaft vorausgegangen wäre. Nur durch sie war es soweit gekommen,
daß fast alle Kolonien, verschuldet bis über die Ohren, ohne alle Hilfsmittel
dastanden und nur durch Hilfe von außen vor einer fürchterlichen Kata¬
strophe — dem Verhungen von vielen Tausenden — bewahrt werden konnten.
Mißernten waren auch früher schon vorgekommen, aber solange die Masse
unter der Kontrolle der Oberbehördc in Ssaratow stand, wurden derartige


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[0524] Die deutschen Kolonisten an der Wolga alle Mühe, wenigstens die Anleitungen unmöglich zu machen und den Gemeinde¬ besitz wenigstens in nicht weiter teilbare Parzellen überzuführen. Alle der¬ artigen Absichten scheiterten aber so lange an dem Widerstande der Massen, als diese überhaupt etwas zu sagen hatten, und das war bis vor etwa dreißig Jahren der Fall. Welche Verluste hierdurch der Gesamtheit zugefügt wurden, darüber nur das Folgende. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, mit der die Kolonisten allerdings unmittelbar nichts zu thun hatten, ging das Streben der Regierung dahin, sowohl die russischen Bauern wie die Kolonisten zu Eigentümern des bisher nur benutzten Landes zu machen. Sie schlug den Kolonisten vor, das den Kolonien zugemessene Land zu dem Preise von 8, sage acht Rubeln Kredit für die Deßjatine — den preußischen Morgen also zu weniger als zwei Rubeln — erd- und eigentümlich zu erwerben. Trotz der so außerordentlich günstigen Bedingungen und trotz alles Zuredens sowohl der Geistlichen wie des einsichtigen Teils der Kolonisten lehnte die Masse den Vorschlag der Regierung mit der Begrün¬ dung ab: „Wir brauchen Neuland (Urboden), aber nicht schon ausgeraubtes Land, das uns nichts nützen kann. Können wir kein Neuland erhalten, so bleibt uns nichts übrig, als auszuwandern." Das war anfang der sechziger Jahre; wie viele schon damals nach dem Kaukasus, namentlich dem Kuban, nach Brasilien usw. ausgewandert sind, weiß noch jeder Wolgakolonist. Damals begann auch das Jammern und Klagen über „die unerschwinglichen Zahlungen," den Mangel an Land, obgleich mehr als die Hälfte des zugeteilten Landes vollkommen unbearbeitet lag, das Verwüster der letzten Waldanpflan¬ zungen, das Umpflügen aller, auch selbst steiler Abhänge an Schluchten und Flüssen, nur um frisches Land zu haben, das hierdurch herbeigeführte Ver¬ härten und die Verschüttung der Thäler und Flußbetten mit Geröll und Steinen, und schließlich das Verpachten und Versetzen der letzten noch nicht ausgemergelten Stellen an Kapitalisten, nur um auf einige Wochen Geld zu erhalten, über¬ haupt die Zeit rapiden Verfalls und steigender Armut, die während der Jahre 1891 und 1892 in der allgemeinen Hungersnot den höchsten Grad erreichte. Was Mißernten in den Gebieten der untern Wolga zu bedeuten haben, weiß jeder, der mit den dortigen Verhältnissen bekannt ist, gut genug; die Gesamt- lage der Kolonien hätte aber in jenem Jahre nicht eine so grauenhafte Gestalt annehmen können, wenn den Mißernten nicht eine dreißig Jahre dauernde Mißwirtschaft vorausgegangen wäre. Nur durch sie war es soweit gekommen, daß fast alle Kolonien, verschuldet bis über die Ohren, ohne alle Hilfsmittel dastanden und nur durch Hilfe von außen vor einer fürchterlichen Kata¬ strophe — dem Verhungen von vielen Tausenden — bewahrt werden konnten. Mißernten waren auch früher schon vorgekommen, aber solange die Masse unter der Kontrolle der Oberbehördc in Ssaratow stand, wurden derartige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/524>, abgerufen am 26.06.2024.