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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Vätern getrennt, um solange als möglich -- genau wie die Väter -- die
Landanteile und die Arbeitskraft ihrer Kinder zum eignen Vorteil auszunutzen,
worauf dasselbe dann von diesen wieder nach Möglichkeit fortgesetzt worden
wäre. Die ganze sittliche und Naturordnung war rein auf den Kopf gestellt,
und der Haufe lebte im Vertrauen auf den ewigen Bestand dieser Dinge im
vollsten Sinne des Wortes in den Tag hinein.

Es gab nun freilich Leute, die klar erkannten, daß diese Zustände die
Gesamtheit der Kolonisten zu Grunde richten müßten. Zwei Parteien standen
sich schon von allem Anfang an schroff gegenüber. Auf der einen Seite
standen die, die dem möglichst zu steuern suchten, auf der andern Seite war
aber die Masse der Kolonisten, die sich jeder Änderung der bestehenden Ordnung
hartnäckig widersetzte. An der Spitze der ersten Partei, die anfangs nur
aus wenigen Köpfen bestand und infolge dessen vollkommen machtlos war,
standen die Geistlichen, deren Verdienst es für alle Zeiten bleiben wird, daß
es nicht zum äußersten gekommen ist. Fast durchweg aus Gebieten stammend,
wo streng geordnete Zustände herrschten ^ aus Deutschland, den Ostsee-
Provinzen, Finnland, den deutschen Kolonien Rußlands mit unteilbaren Hof¬
besitz usw. --, erkannten sie sofort, was unbedingt eintreten mußte, wenn man
die Dinge noch ferner so weitergehen ließ. Mit Wort und Schrift, in der
Kirche wie in der Schule, haben sich diese Männer seit langen Jahren die
größte Mühe gegeben, der zunehmenden Verwüstung der zugeteilten Felder
und Wälder und der Verwilderung der Sitten zu steuern, aber ihre An¬
strengungen waren bis vor kurzem so gut wie erfolglos, wenigstens war es
ihnen nicht möglich, größeres Unheil zu verhüten.

Schon vor dreißig bis vierzig Jahren ist von den Geistlichen erkannt
worden, daß der schwerste Schaden die fortwährenden rein willkürlichen und
fast jedes Jahr vorgenommenen Teilungen des Gemeindebesitzes waren. Ganz
nach der Laune des Haufens wurde ohne Achtung der Rechte, die z. B. durch
Verbesserungen, wie Aufpflügen der Felder im Herbst, und ähnliches erworben
waren, das eben erst ungelenke Feld aus nichtigen Gründen wieder ungeteilt;
häufig in der Hoffnung, daß man bei der Verlosung der Parzellen, vielleicht
die verbesserten Stellen erhalten und hierdurch mühelos zu einem Vorteil
kommen könnte. Man scheute nicht offnen Rechtsbruch. Wenn sich jemand
hatte verleiten lassen, Obstgärten auf Gemeindeland anzulegen, so nahm man
sie trotz aller vorherigen Abmachungen mit der saubern Motivirung gewaltsam
weg: "Die han nun lange genug Äpfel gegessen, jetzt wollen wir aach amol
welche han."

Daß unter solchen Verhältnissen jede Verbesserung auf Grund und Boden,
wo der Haufe überhaupt etwas zu sagen hatte, rein zur Unmöglichkeit wurde,
versteht sich von selbst, und deshalb gaben sich auch die Geistlichen in Ver¬
bindung mit dem einsichtigen und thätigen Teil der Kolonisten schon längst


Grenzboten IV 1897 W
Die deutschen Kolonisten an der Wolga

Vätern getrennt, um solange als möglich — genau wie die Väter — die
Landanteile und die Arbeitskraft ihrer Kinder zum eignen Vorteil auszunutzen,
worauf dasselbe dann von diesen wieder nach Möglichkeit fortgesetzt worden
wäre. Die ganze sittliche und Naturordnung war rein auf den Kopf gestellt,
und der Haufe lebte im Vertrauen auf den ewigen Bestand dieser Dinge im
vollsten Sinne des Wortes in den Tag hinein.

Es gab nun freilich Leute, die klar erkannten, daß diese Zustände die
Gesamtheit der Kolonisten zu Grunde richten müßten. Zwei Parteien standen
sich schon von allem Anfang an schroff gegenüber. Auf der einen Seite
standen die, die dem möglichst zu steuern suchten, auf der andern Seite war
aber die Masse der Kolonisten, die sich jeder Änderung der bestehenden Ordnung
hartnäckig widersetzte. An der Spitze der ersten Partei, die anfangs nur
aus wenigen Köpfen bestand und infolge dessen vollkommen machtlos war,
standen die Geistlichen, deren Verdienst es für alle Zeiten bleiben wird, daß
es nicht zum äußersten gekommen ist. Fast durchweg aus Gebieten stammend,
wo streng geordnete Zustände herrschten ^ aus Deutschland, den Ostsee-
Provinzen, Finnland, den deutschen Kolonien Rußlands mit unteilbaren Hof¬
besitz usw. —, erkannten sie sofort, was unbedingt eintreten mußte, wenn man
die Dinge noch ferner so weitergehen ließ. Mit Wort und Schrift, in der
Kirche wie in der Schule, haben sich diese Männer seit langen Jahren die
größte Mühe gegeben, der zunehmenden Verwüstung der zugeteilten Felder
und Wälder und der Verwilderung der Sitten zu steuern, aber ihre An¬
strengungen waren bis vor kurzem so gut wie erfolglos, wenigstens war es
ihnen nicht möglich, größeres Unheil zu verhüten.

Schon vor dreißig bis vierzig Jahren ist von den Geistlichen erkannt
worden, daß der schwerste Schaden die fortwährenden rein willkürlichen und
fast jedes Jahr vorgenommenen Teilungen des Gemeindebesitzes waren. Ganz
nach der Laune des Haufens wurde ohne Achtung der Rechte, die z. B. durch
Verbesserungen, wie Aufpflügen der Felder im Herbst, und ähnliches erworben
waren, das eben erst ungelenke Feld aus nichtigen Gründen wieder ungeteilt;
häufig in der Hoffnung, daß man bei der Verlosung der Parzellen, vielleicht
die verbesserten Stellen erhalten und hierdurch mühelos zu einem Vorteil
kommen könnte. Man scheute nicht offnen Rechtsbruch. Wenn sich jemand
hatte verleiten lassen, Obstgärten auf Gemeindeland anzulegen, so nahm man
sie trotz aller vorherigen Abmachungen mit der saubern Motivirung gewaltsam
weg: „Die han nun lange genug Äpfel gegessen, jetzt wollen wir aach amol
welche han."

Daß unter solchen Verhältnissen jede Verbesserung auf Grund und Boden,
wo der Haufe überhaupt etwas zu sagen hatte, rein zur Unmöglichkeit wurde,
versteht sich von selbst, und deshalb gaben sich auch die Geistlichen in Ver¬
bindung mit dem einsichtigen und thätigen Teil der Kolonisten schon längst


Grenzboten IV 1897 W
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[0523] Die deutschen Kolonisten an der Wolga Vätern getrennt, um solange als möglich — genau wie die Väter — die Landanteile und die Arbeitskraft ihrer Kinder zum eignen Vorteil auszunutzen, worauf dasselbe dann von diesen wieder nach Möglichkeit fortgesetzt worden wäre. Die ganze sittliche und Naturordnung war rein auf den Kopf gestellt, und der Haufe lebte im Vertrauen auf den ewigen Bestand dieser Dinge im vollsten Sinne des Wortes in den Tag hinein. Es gab nun freilich Leute, die klar erkannten, daß diese Zustände die Gesamtheit der Kolonisten zu Grunde richten müßten. Zwei Parteien standen sich schon von allem Anfang an schroff gegenüber. Auf der einen Seite standen die, die dem möglichst zu steuern suchten, auf der andern Seite war aber die Masse der Kolonisten, die sich jeder Änderung der bestehenden Ordnung hartnäckig widersetzte. An der Spitze der ersten Partei, die anfangs nur aus wenigen Köpfen bestand und infolge dessen vollkommen machtlos war, standen die Geistlichen, deren Verdienst es für alle Zeiten bleiben wird, daß es nicht zum äußersten gekommen ist. Fast durchweg aus Gebieten stammend, wo streng geordnete Zustände herrschten ^ aus Deutschland, den Ostsee- Provinzen, Finnland, den deutschen Kolonien Rußlands mit unteilbaren Hof¬ besitz usw. —, erkannten sie sofort, was unbedingt eintreten mußte, wenn man die Dinge noch ferner so weitergehen ließ. Mit Wort und Schrift, in der Kirche wie in der Schule, haben sich diese Männer seit langen Jahren die größte Mühe gegeben, der zunehmenden Verwüstung der zugeteilten Felder und Wälder und der Verwilderung der Sitten zu steuern, aber ihre An¬ strengungen waren bis vor kurzem so gut wie erfolglos, wenigstens war es ihnen nicht möglich, größeres Unheil zu verhüten. Schon vor dreißig bis vierzig Jahren ist von den Geistlichen erkannt worden, daß der schwerste Schaden die fortwährenden rein willkürlichen und fast jedes Jahr vorgenommenen Teilungen des Gemeindebesitzes waren. Ganz nach der Laune des Haufens wurde ohne Achtung der Rechte, die z. B. durch Verbesserungen, wie Aufpflügen der Felder im Herbst, und ähnliches erworben waren, das eben erst ungelenke Feld aus nichtigen Gründen wieder ungeteilt; häufig in der Hoffnung, daß man bei der Verlosung der Parzellen, vielleicht die verbesserten Stellen erhalten und hierdurch mühelos zu einem Vorteil kommen könnte. Man scheute nicht offnen Rechtsbruch. Wenn sich jemand hatte verleiten lassen, Obstgärten auf Gemeindeland anzulegen, so nahm man sie trotz aller vorherigen Abmachungen mit der saubern Motivirung gewaltsam weg: „Die han nun lange genug Äpfel gegessen, jetzt wollen wir aach amol welche han." Daß unter solchen Verhältnissen jede Verbesserung auf Grund und Boden, wo der Haufe überhaupt etwas zu sagen hatte, rein zur Unmöglichkeit wurde, versteht sich von selbst, und deshalb gaben sich auch die Geistlichen in Ver¬ bindung mit dem einsichtigen und thätigen Teil der Kolonisten schon längst Grenzboten IV 1897 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/523>, abgerufen am 26.06.2024.