Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Die deutschen Kolonisten an der Wolga Geregelter Ackerbau, nach westeuropäischen Begriffen, ist diesen Kolonisten Was dem Haufen die früher so bequemen Landzuteilungcn besonders Jeder wollte natürlich "Wirt" werden, um sich ein möglichst bequemes Die deutschen Kolonisten an der Wolga Geregelter Ackerbau, nach westeuropäischen Begriffen, ist diesen Kolonisten Was dem Haufen die früher so bequemen Landzuteilungcn besonders Jeder wollte natürlich „Wirt" werden, um sich ein möglichst bequemes <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0522" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226752"/> <fw type="header" place="top"> Die deutschen Kolonisten an der Wolga</fw><lb/> <p xml:id="ID_1273"> Geregelter Ackerbau, nach westeuropäischen Begriffen, ist diesen Kolonisten<lb/> von jeher fremd gewesen und fremd geblieben. Bei ihrer Auswanderung war<lb/> die Landwirtschaft auch in Deutschland noch auf einer sehr niedrigen Stufe,<lb/> und dann machte die außerordentliche Fruchtbarkeit der ihnen überwiesen«» end¬<lb/> losen Flächen eine Wirtschaftsweise mit Viehhaltung und Düngung vollkommen<lb/> überflüssig. Dieser Boden hatte thatsächlich eine Fruchtbarkeit, die den Kolo¬<lb/> nisten erlaubte, auf ein und derselben Stelle dieselbe Getreideart eine lange<lb/> Reihe von Jahren anzusäen, bevor eine Abnahme des Ertrags bemerkbar<lb/> wurde. Geschah das endlich, so ließ mau die bisher benutzte Flüche einfach<lb/> liegen und wandte sich den daneben liegenden Flächen noch unberührten Ur-<lb/> bodens zu, bis auch diese erschöpft waren, worauf man dann wieder weiter<lb/> ging. An diese Art Wirtschaftsbetrieb, die sich in nichts von dem Jahrhunderte<lb/> alten Raubshstem der südrussischen Bauern unterschied, hatte sich die Masse<lb/> der Wolgakolonisten schon nach kurzer Zeit so gewöhnt, daß sie von einer<lb/> andern Wirtschaftsweise schlechterdings nichts mehr wissen wollten. Die ge¬<lb/> wohnte Zuteilung neuer Ackeranteile bei Vermehrung der in einer Familie<lb/> vorhandnen männlichen Köpfe, die Gewißheit, unter allen Umstünden im Besitz<lb/> der nötigsten Existenzmittel zu bleiben und nötigenfalls Zeit seines ganzen<lb/> Lebens auf Kosten der Gemeinde zu schmarotzen, ermöglichten es dem Haufen<lb/> in gesetzlicher Weise ein reines Luderleben zu führen, und das glauben die<lb/> Auswandrer jetzt in Sibirien wieder zu finden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1274"> Was dem Haufen die früher so bequemen Landzuteilungcn besonders<lb/> wertvoll machte, war der schon erwähnte Umstand, daß ohne die Genehmigung<lb/> des Oberhaupts oder des Wirts eine Wirtschaft überhaupt nicht geteilt werden<lb/> konnte. Diese Bestimmung ermöglichte den Herren Vätern mit vierzig Jahren<lb/> oder noch früher den Rentier zu spielen und sich zur Ruhe zu setzen, wenn<lb/> sie nur das Glück hatten, recht viel Jungen zu haben. Um möglichst sichere<lb/> und dabei unbezahlte Arbeitskräfte zu schaffen, wurden deshalb die Herren<lb/> Söhne schon mit achtzehn Jahren zum Heiraten gewissermaßen gezwungen,<lb/> wobei sie aber in der Regel mit ihrem Nachwuchs im väterlichen Hause blieben,<lb/> sodaß in einem derartigen Hause — sehr oft in ein und demselben Zimmer —<lb/> vier bis fünf, ja noch mehr Ehepaare mit einem Haufen von Kindern zusammen<lb/> wohnten, der nach Dutzenden zählte. Die heranwachsenden Kinder wurden<lb/> dann dazu angehalten, die empfangner Landanteile in der gewohnten Weise<lb/> zu bearbeiten und den Herren Vätern das Leben möglichst leicht zu machen.<lb/> Bei Lichte betrachtet, war diese Einrichtung weniger eine Versorgung der<lb/> Kinder als der Herren Väter.</p><lb/> <p xml:id="ID_1275" next="#ID_1276"> Jeder wollte natürlich „Wirt" werden, um sich ein möglichst bequemes<lb/> Leben zu verschaffen. Hätte nicht die Bestimmung bestanden, daß Wirtschaften<lb/> nicht willkürlich geteilt werden dürften, so hätten sich die Söhne meist sofort<lb/> nach ihrer Verheiratung und nach dem Empfang ihres Landanteils von den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0522]
Die deutschen Kolonisten an der Wolga
Geregelter Ackerbau, nach westeuropäischen Begriffen, ist diesen Kolonisten
von jeher fremd gewesen und fremd geblieben. Bei ihrer Auswanderung war
die Landwirtschaft auch in Deutschland noch auf einer sehr niedrigen Stufe,
und dann machte die außerordentliche Fruchtbarkeit der ihnen überwiesen«» end¬
losen Flächen eine Wirtschaftsweise mit Viehhaltung und Düngung vollkommen
überflüssig. Dieser Boden hatte thatsächlich eine Fruchtbarkeit, die den Kolo¬
nisten erlaubte, auf ein und derselben Stelle dieselbe Getreideart eine lange
Reihe von Jahren anzusäen, bevor eine Abnahme des Ertrags bemerkbar
wurde. Geschah das endlich, so ließ mau die bisher benutzte Flüche einfach
liegen und wandte sich den daneben liegenden Flächen noch unberührten Ur-
bodens zu, bis auch diese erschöpft waren, worauf man dann wieder weiter
ging. An diese Art Wirtschaftsbetrieb, die sich in nichts von dem Jahrhunderte
alten Raubshstem der südrussischen Bauern unterschied, hatte sich die Masse
der Wolgakolonisten schon nach kurzer Zeit so gewöhnt, daß sie von einer
andern Wirtschaftsweise schlechterdings nichts mehr wissen wollten. Die ge¬
wohnte Zuteilung neuer Ackeranteile bei Vermehrung der in einer Familie
vorhandnen männlichen Köpfe, die Gewißheit, unter allen Umstünden im Besitz
der nötigsten Existenzmittel zu bleiben und nötigenfalls Zeit seines ganzen
Lebens auf Kosten der Gemeinde zu schmarotzen, ermöglichten es dem Haufen
in gesetzlicher Weise ein reines Luderleben zu führen, und das glauben die
Auswandrer jetzt in Sibirien wieder zu finden.
Was dem Haufen die früher so bequemen Landzuteilungcn besonders
wertvoll machte, war der schon erwähnte Umstand, daß ohne die Genehmigung
des Oberhaupts oder des Wirts eine Wirtschaft überhaupt nicht geteilt werden
konnte. Diese Bestimmung ermöglichte den Herren Vätern mit vierzig Jahren
oder noch früher den Rentier zu spielen und sich zur Ruhe zu setzen, wenn
sie nur das Glück hatten, recht viel Jungen zu haben. Um möglichst sichere
und dabei unbezahlte Arbeitskräfte zu schaffen, wurden deshalb die Herren
Söhne schon mit achtzehn Jahren zum Heiraten gewissermaßen gezwungen,
wobei sie aber in der Regel mit ihrem Nachwuchs im väterlichen Hause blieben,
sodaß in einem derartigen Hause — sehr oft in ein und demselben Zimmer —
vier bis fünf, ja noch mehr Ehepaare mit einem Haufen von Kindern zusammen
wohnten, der nach Dutzenden zählte. Die heranwachsenden Kinder wurden
dann dazu angehalten, die empfangner Landanteile in der gewohnten Weise
zu bearbeiten und den Herren Vätern das Leben möglichst leicht zu machen.
Bei Lichte betrachtet, war diese Einrichtung weniger eine Versorgung der
Kinder als der Herren Väter.
Jeder wollte natürlich „Wirt" werden, um sich ein möglichst bequemes
Leben zu verschaffen. Hätte nicht die Bestimmung bestanden, daß Wirtschaften
nicht willkürlich geteilt werden dürften, so hätten sich die Söhne meist sofort
nach ihrer Verheiratung und nach dem Empfang ihres Landanteils von den
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