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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Kolonisten an der tvolga

user, dem heutigen Gouvernement Ssamara, gemacht worden, aber infolge der
fortwährenden Überfälle durch die Kirgisen sah sich die Bevölkerung gezwungen,
an das rechte Ufer überzusiedeln. Am linken Ufer, dem jetzigen Ssaratow gegen¬
über, blieb nur die Kosakenstaniza Pokrowsk (deutsch Kosakenstadt) bestehen, zu
deren Schutz noch eine Reihe von Dörfern mit kleinrussischen Kosaken, Kachollen,
etwas weiter östlich in der Steppe angelegt worden war. Zu beiden Seiten
dieser Kosakenansiedlungen, die gegenwärtig ziemlich in der Mitte der deutschen
Kolonien liegen, wurden diese längs dem Fluß in einer ziemlich dichten Reihe
angelegt. Das geschah einesteils, damit sich die Kolonisten bei etwaigen
Überfüllen der Kirgisen leichter gegenseitig Hilfe leisten konnten, andernteils,
um ihnen die Vorteile der Nähe des großen Flusses zu verschaffen. Nur
einige der ersten oder Stammkolonien wurden an dem aus der Steppe kommenden
Nebenflüsse, dem großen Karaman weiter östlich von der Wolga, angelegt, aber
diese haben von den Raubzügen der Kirgisen in den ersten Jahrzehnten auch
schwer zu leiden gehabt. Das nötige Feld wurde den einzelnen Kolonien in
die Steppe hinein in einem geschlossenen Komplex zugemessen; in welchem Maße
das geschehen ist, ergiebt sich daraus, daß die Stammkolonien Areale von
20--50000 Deßjatinenalso eine Fläche haben, die manches kleine deutsche
Fürstentum an Umfang übertrifft. Dazu kam die außerordentliche Fruchtbarkeit
des Bodens. Nach den eignen Angaben alter Kolonisten wurden auf solchem
Urboden, selbst bei der oberflächlichsten Bearbeitung, eine Reihe von Jahren das
Vierzig- bis Funfzigfache der Aussaat erzielt. Die Folge dieser Fruchtbarkeit,
dazu die scheinbar unendliche Ausdehnung neuen Ackers, den die Steppe weiter
nach dem Osten zu bot, war eine erstaunliche Vermehrung der Kolonisten und
sodann, daß sie sich so gut wie ausschließlich mit dem Anbau von Weizen
(daneben in beschränktem Maße auch mit dem Urpflanzen von Tabak) und mit
Handel beschäftigten, denn von einigen Ölmühlen abgesehen hat keine eigentliche
Industrie auf dieser Seite des Flusses Boden gewinnen können. Die Menschen
hatten hier eben nicht nötig, zu Handwerken und andern Beschäftigungen zu
greifen, die gleichmüßige oder fortwährende Anstrengungen verlangen, da der
Boden ein Jahrhundert lang bei geringer Anstrengung Brot und Existenzmittel
im Überfluß gab. Die Folgen treten uns auf jedem Schritt entgegen.

Anders hat sich die Lage der Dinge in den Kolonien gestaltet, die am
rechten Ufer der Wolga, der Bergseite, in dem jetzigen Gouvernement Ssaratow
angelegt wurden. Solange der Boden die Raubwirtschaft erlaubte, beschränkte
sich die Masse auch hier auf Weizenbau und Handel; erst später, als es mit
diesen allein nicht mehr gehen wollte, griff man in einzelnen Kolonien zu
Handwerken und Gewerben, hauptsächlich zur Weberei, später zum Bau von
landwirtschaftlichen Maschinen, zur Fabrikation von Tabakspfeifen usw. Aber



5000 Deßjatinen sind eine deutsche Quadratmeile,
Die deutschen Kolonisten an der tvolga

user, dem heutigen Gouvernement Ssamara, gemacht worden, aber infolge der
fortwährenden Überfälle durch die Kirgisen sah sich die Bevölkerung gezwungen,
an das rechte Ufer überzusiedeln. Am linken Ufer, dem jetzigen Ssaratow gegen¬
über, blieb nur die Kosakenstaniza Pokrowsk (deutsch Kosakenstadt) bestehen, zu
deren Schutz noch eine Reihe von Dörfern mit kleinrussischen Kosaken, Kachollen,
etwas weiter östlich in der Steppe angelegt worden war. Zu beiden Seiten
dieser Kosakenansiedlungen, die gegenwärtig ziemlich in der Mitte der deutschen
Kolonien liegen, wurden diese längs dem Fluß in einer ziemlich dichten Reihe
angelegt. Das geschah einesteils, damit sich die Kolonisten bei etwaigen
Überfüllen der Kirgisen leichter gegenseitig Hilfe leisten konnten, andernteils,
um ihnen die Vorteile der Nähe des großen Flusses zu verschaffen. Nur
einige der ersten oder Stammkolonien wurden an dem aus der Steppe kommenden
Nebenflüsse, dem großen Karaman weiter östlich von der Wolga, angelegt, aber
diese haben von den Raubzügen der Kirgisen in den ersten Jahrzehnten auch
schwer zu leiden gehabt. Das nötige Feld wurde den einzelnen Kolonien in
die Steppe hinein in einem geschlossenen Komplex zugemessen; in welchem Maße
das geschehen ist, ergiebt sich daraus, daß die Stammkolonien Areale von
20—50000 Deßjatinenalso eine Fläche haben, die manches kleine deutsche
Fürstentum an Umfang übertrifft. Dazu kam die außerordentliche Fruchtbarkeit
des Bodens. Nach den eignen Angaben alter Kolonisten wurden auf solchem
Urboden, selbst bei der oberflächlichsten Bearbeitung, eine Reihe von Jahren das
Vierzig- bis Funfzigfache der Aussaat erzielt. Die Folge dieser Fruchtbarkeit,
dazu die scheinbar unendliche Ausdehnung neuen Ackers, den die Steppe weiter
nach dem Osten zu bot, war eine erstaunliche Vermehrung der Kolonisten und
sodann, daß sie sich so gut wie ausschließlich mit dem Anbau von Weizen
(daneben in beschränktem Maße auch mit dem Urpflanzen von Tabak) und mit
Handel beschäftigten, denn von einigen Ölmühlen abgesehen hat keine eigentliche
Industrie auf dieser Seite des Flusses Boden gewinnen können. Die Menschen
hatten hier eben nicht nötig, zu Handwerken und andern Beschäftigungen zu
greifen, die gleichmüßige oder fortwährende Anstrengungen verlangen, da der
Boden ein Jahrhundert lang bei geringer Anstrengung Brot und Existenzmittel
im Überfluß gab. Die Folgen treten uns auf jedem Schritt entgegen.

Anders hat sich die Lage der Dinge in den Kolonien gestaltet, die am
rechten Ufer der Wolga, der Bergseite, in dem jetzigen Gouvernement Ssaratow
angelegt wurden. Solange der Boden die Raubwirtschaft erlaubte, beschränkte
sich die Masse auch hier auf Weizenbau und Handel; erst später, als es mit
diesen allein nicht mehr gehen wollte, griff man in einzelnen Kolonien zu
Handwerken und Gewerben, hauptsächlich zur Weberei, später zum Bau von
landwirtschaftlichen Maschinen, zur Fabrikation von Tabakspfeifen usw. Aber



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[0520] Die deutschen Kolonisten an der tvolga user, dem heutigen Gouvernement Ssamara, gemacht worden, aber infolge der fortwährenden Überfälle durch die Kirgisen sah sich die Bevölkerung gezwungen, an das rechte Ufer überzusiedeln. Am linken Ufer, dem jetzigen Ssaratow gegen¬ über, blieb nur die Kosakenstaniza Pokrowsk (deutsch Kosakenstadt) bestehen, zu deren Schutz noch eine Reihe von Dörfern mit kleinrussischen Kosaken, Kachollen, etwas weiter östlich in der Steppe angelegt worden war. Zu beiden Seiten dieser Kosakenansiedlungen, die gegenwärtig ziemlich in der Mitte der deutschen Kolonien liegen, wurden diese längs dem Fluß in einer ziemlich dichten Reihe angelegt. Das geschah einesteils, damit sich die Kolonisten bei etwaigen Überfüllen der Kirgisen leichter gegenseitig Hilfe leisten konnten, andernteils, um ihnen die Vorteile der Nähe des großen Flusses zu verschaffen. Nur einige der ersten oder Stammkolonien wurden an dem aus der Steppe kommenden Nebenflüsse, dem großen Karaman weiter östlich von der Wolga, angelegt, aber diese haben von den Raubzügen der Kirgisen in den ersten Jahrzehnten auch schwer zu leiden gehabt. Das nötige Feld wurde den einzelnen Kolonien in die Steppe hinein in einem geschlossenen Komplex zugemessen; in welchem Maße das geschehen ist, ergiebt sich daraus, daß die Stammkolonien Areale von 20—50000 Deßjatinenalso eine Fläche haben, die manches kleine deutsche Fürstentum an Umfang übertrifft. Dazu kam die außerordentliche Fruchtbarkeit des Bodens. Nach den eignen Angaben alter Kolonisten wurden auf solchem Urboden, selbst bei der oberflächlichsten Bearbeitung, eine Reihe von Jahren das Vierzig- bis Funfzigfache der Aussaat erzielt. Die Folge dieser Fruchtbarkeit, dazu die scheinbar unendliche Ausdehnung neuen Ackers, den die Steppe weiter nach dem Osten zu bot, war eine erstaunliche Vermehrung der Kolonisten und sodann, daß sie sich so gut wie ausschließlich mit dem Anbau von Weizen (daneben in beschränktem Maße auch mit dem Urpflanzen von Tabak) und mit Handel beschäftigten, denn von einigen Ölmühlen abgesehen hat keine eigentliche Industrie auf dieser Seite des Flusses Boden gewinnen können. Die Menschen hatten hier eben nicht nötig, zu Handwerken und andern Beschäftigungen zu greifen, die gleichmüßige oder fortwährende Anstrengungen verlangen, da der Boden ein Jahrhundert lang bei geringer Anstrengung Brot und Existenzmittel im Überfluß gab. Die Folgen treten uns auf jedem Schritt entgegen. Anders hat sich die Lage der Dinge in den Kolonien gestaltet, die am rechten Ufer der Wolga, der Bergseite, in dem jetzigen Gouvernement Ssaratow angelegt wurden. Solange der Boden die Raubwirtschaft erlaubte, beschränkte sich die Masse auch hier auf Weizenbau und Handel; erst später, als es mit diesen allein nicht mehr gehen wollte, griff man in einzelnen Kolonien zu Handwerken und Gewerben, hauptsächlich zur Weberei, später zum Bau von landwirtschaftlichen Maschinen, zur Fabrikation von Tabakspfeifen usw. Aber 5000 Deßjatinen sind eine deutsche Quadratmeile,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/520>, abgerufen am 26.06.2024.