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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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entfernt sind. Diesem Verhältnis entspricht die Beurteilung des deutschen Vor¬
gehens in der Presse: die französische und russische äußerte sich nicht nur nicht feind¬
lich, sondern zustimmend, ja das ^ouiniil ass Debets sah schon die Möglichkeit
voraus, daß Deutsche und Franzosen in China einander gelegentlich Beistand
leisten würden; die englischen Zeitungen aber verbargen kaum ihre peinliche
Überraschung und ihren Neid und suchten in der Erkenntnis der Jsolirung
Englands kläglicherweise sogar Rußlands Argwohn gegen uns zu erregen und
angebliche ältere Rechte Rußlands auf Kiao-dschau gegen uns auszuspielen.
Ob nun wirklich das Eingreifen Deutschlands das Zeichen zur "Aufteilung"
Chinas geben wird oder nicht (nach unsrer Ansicht ist dieser Augenblick noch
sehr weit entfernt), wir haben strategisch und politisch unsre Position genommen,
die uns einen bestimmenden Anteil an den künftigen Geschicken Ostasiens
sichern wird.

Wer hier von Abenteuern und persönlichen Gelüsten spricht, der möge in
großen politischen Fragen künftig lieber den Mund halten, denn er versteht
davon nicht einmal das ABC. Wenn wir früher in Afrika und Australien,
jetzt in Ostasten Fuß gefaßt haben, so entspringt das einer unwiderstehlichen
politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit, der wir uns nicht entziehen
können, deren Folgerungen wir vielmehr ziehen müssen, wenn wir den uns
gebührenden Anteil an der Massenaristokratie der arischen Nasse gewinnen
wollen, die sich den Erdball unterwirft, d. h. wenn wir im nächsten Jahr¬
hundert noch zu den großen Völkern zählen und nicht in eine untergeordnete
Stellung zurücktreten wollen, wie die einst weltbeherrschenden Holländer.
Dahin drängt auch unsre ganze wirtschaftliche Lage. Riesig ist in dem
Vierteljahrhundert, das unser Reich besteht, unsre Menschenzahl und unsre
Volkswirtschaft gewachsen. Eine seit 1885 jährlich um mindestens eine
halbe Million zunehmende Bevölkerung kann nicht mehr von dem engen
Boden leben, den das deutsche Reich umschließt, sie muß den Überschuß
in die Ferne schicken oder dafür sorgen, daß die Einkünfte genügend wachsen,
um ihn daheim ernähren zu können. Nun ist unsre Auswanderung in rascher
Abnahme -- beiläufig doch wohl ein Beweis dafür, daß es trotz alles
Räsonnirens in Deutschland auszuhalten sein muß ---, sie betrug 1871/75 im
Jahresdurchschnitt 78842 Köpfe, schwoll 1881/85 auf jährlich 171368 an
und ist seitdem beständig gefallen, sodaß sie 1396 nur noch 33824 Menschen ent¬
führte bei einer Bevölkerung von über 52 Millionen. Gleichzeitig aber ist der
Teil, der sich mit Landwirtschaft beschäftigt, 1882/1895 von 42,5 Prozent
auf 35,7 herabgegangen, fast zwei Drittel des deutschen Volkes sind auf die
Thätigkeit in Handel und Industrie angewiesen. Man mag diese Wandlung
beklagen und mit Schaudern zusehen, daß wir englischen Zustünden zutreiben,
man mag eine Vergrößerung unsers Ackerbodens und die Erhaltung einer
zahlreichen und kräftigen landwirtschaftlichen Bevölkerung für notwendig halten,
wie wir es thun: soviel steht doch fest, daß jene Erweiterung sehr schwer, in


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entfernt sind. Diesem Verhältnis entspricht die Beurteilung des deutschen Vor¬
gehens in der Presse: die französische und russische äußerte sich nicht nur nicht feind¬
lich, sondern zustimmend, ja das ^ouiniil ass Debets sah schon die Möglichkeit
voraus, daß Deutsche und Franzosen in China einander gelegentlich Beistand
leisten würden; die englischen Zeitungen aber verbargen kaum ihre peinliche
Überraschung und ihren Neid und suchten in der Erkenntnis der Jsolirung
Englands kläglicherweise sogar Rußlands Argwohn gegen uns zu erregen und
angebliche ältere Rechte Rußlands auf Kiao-dschau gegen uns auszuspielen.
Ob nun wirklich das Eingreifen Deutschlands das Zeichen zur „Aufteilung"
Chinas geben wird oder nicht (nach unsrer Ansicht ist dieser Augenblick noch
sehr weit entfernt), wir haben strategisch und politisch unsre Position genommen,
die uns einen bestimmenden Anteil an den künftigen Geschicken Ostasiens
sichern wird.

Wer hier von Abenteuern und persönlichen Gelüsten spricht, der möge in
großen politischen Fragen künftig lieber den Mund halten, denn er versteht
davon nicht einmal das ABC. Wenn wir früher in Afrika und Australien,
jetzt in Ostasten Fuß gefaßt haben, so entspringt das einer unwiderstehlichen
politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit, der wir uns nicht entziehen
können, deren Folgerungen wir vielmehr ziehen müssen, wenn wir den uns
gebührenden Anteil an der Massenaristokratie der arischen Nasse gewinnen
wollen, die sich den Erdball unterwirft, d. h. wenn wir im nächsten Jahr¬
hundert noch zu den großen Völkern zählen und nicht in eine untergeordnete
Stellung zurücktreten wollen, wie die einst weltbeherrschenden Holländer.
Dahin drängt auch unsre ganze wirtschaftliche Lage. Riesig ist in dem
Vierteljahrhundert, das unser Reich besteht, unsre Menschenzahl und unsre
Volkswirtschaft gewachsen. Eine seit 1885 jährlich um mindestens eine
halbe Million zunehmende Bevölkerung kann nicht mehr von dem engen
Boden leben, den das deutsche Reich umschließt, sie muß den Überschuß
in die Ferne schicken oder dafür sorgen, daß die Einkünfte genügend wachsen,
um ihn daheim ernähren zu können. Nun ist unsre Auswanderung in rascher
Abnahme — beiläufig doch wohl ein Beweis dafür, daß es trotz alles
Räsonnirens in Deutschland auszuhalten sein muß -—, sie betrug 1871/75 im
Jahresdurchschnitt 78842 Köpfe, schwoll 1881/85 auf jährlich 171368 an
und ist seitdem beständig gefallen, sodaß sie 1396 nur noch 33824 Menschen ent¬
führte bei einer Bevölkerung von über 52 Millionen. Gleichzeitig aber ist der
Teil, der sich mit Landwirtschaft beschäftigt, 1882/1895 von 42,5 Prozent
auf 35,7 herabgegangen, fast zwei Drittel des deutschen Volkes sind auf die
Thätigkeit in Handel und Industrie angewiesen. Man mag diese Wandlung
beklagen und mit Schaudern zusehen, daß wir englischen Zustünden zutreiben,
man mag eine Vergrößerung unsers Ackerbodens und die Erhaltung einer
zahlreichen und kräftigen landwirtschaftlichen Bevölkerung für notwendig halten,
wie wir es thun: soviel steht doch fest, daß jene Erweiterung sehr schwer, in


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[0510] Aiao - dschau entfernt sind. Diesem Verhältnis entspricht die Beurteilung des deutschen Vor¬ gehens in der Presse: die französische und russische äußerte sich nicht nur nicht feind¬ lich, sondern zustimmend, ja das ^ouiniil ass Debets sah schon die Möglichkeit voraus, daß Deutsche und Franzosen in China einander gelegentlich Beistand leisten würden; die englischen Zeitungen aber verbargen kaum ihre peinliche Überraschung und ihren Neid und suchten in der Erkenntnis der Jsolirung Englands kläglicherweise sogar Rußlands Argwohn gegen uns zu erregen und angebliche ältere Rechte Rußlands auf Kiao-dschau gegen uns auszuspielen. Ob nun wirklich das Eingreifen Deutschlands das Zeichen zur „Aufteilung" Chinas geben wird oder nicht (nach unsrer Ansicht ist dieser Augenblick noch sehr weit entfernt), wir haben strategisch und politisch unsre Position genommen, die uns einen bestimmenden Anteil an den künftigen Geschicken Ostasiens sichern wird. Wer hier von Abenteuern und persönlichen Gelüsten spricht, der möge in großen politischen Fragen künftig lieber den Mund halten, denn er versteht davon nicht einmal das ABC. Wenn wir früher in Afrika und Australien, jetzt in Ostasten Fuß gefaßt haben, so entspringt das einer unwiderstehlichen politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit, der wir uns nicht entziehen können, deren Folgerungen wir vielmehr ziehen müssen, wenn wir den uns gebührenden Anteil an der Massenaristokratie der arischen Nasse gewinnen wollen, die sich den Erdball unterwirft, d. h. wenn wir im nächsten Jahr¬ hundert noch zu den großen Völkern zählen und nicht in eine untergeordnete Stellung zurücktreten wollen, wie die einst weltbeherrschenden Holländer. Dahin drängt auch unsre ganze wirtschaftliche Lage. Riesig ist in dem Vierteljahrhundert, das unser Reich besteht, unsre Menschenzahl und unsre Volkswirtschaft gewachsen. Eine seit 1885 jährlich um mindestens eine halbe Million zunehmende Bevölkerung kann nicht mehr von dem engen Boden leben, den das deutsche Reich umschließt, sie muß den Überschuß in die Ferne schicken oder dafür sorgen, daß die Einkünfte genügend wachsen, um ihn daheim ernähren zu können. Nun ist unsre Auswanderung in rascher Abnahme — beiläufig doch wohl ein Beweis dafür, daß es trotz alles Räsonnirens in Deutschland auszuhalten sein muß -—, sie betrug 1871/75 im Jahresdurchschnitt 78842 Köpfe, schwoll 1881/85 auf jährlich 171368 an und ist seitdem beständig gefallen, sodaß sie 1396 nur noch 33824 Menschen ent¬ führte bei einer Bevölkerung von über 52 Millionen. Gleichzeitig aber ist der Teil, der sich mit Landwirtschaft beschäftigt, 1882/1895 von 42,5 Prozent auf 35,7 herabgegangen, fast zwei Drittel des deutschen Volkes sind auf die Thätigkeit in Handel und Industrie angewiesen. Man mag diese Wandlung beklagen und mit Schaudern zusehen, daß wir englischen Zustünden zutreiben, man mag eine Vergrößerung unsers Ackerbodens und die Erhaltung einer zahlreichen und kräftigen landwirtschaftlichen Bevölkerung für notwendig halten, wie wir es thun: soviel steht doch fest, daß jene Erweiterung sehr schwer, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/510>, abgerufen am 26.06.2024.