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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Kiao-dschau

und seine Vorposten stehen auf dem Pamir, dem "Dache der Welt," wenige
hundert Kilometer von der Nordwestgrenze des englischen Ostindiens, es baut
die sibirische Bahn, den längsten Schienenweg der Erde, um sich eine rasche
und ganz sichere Verbindung mit dem Großen Ozean zu schaffen, und wird
mit ihr die chinesische Mandschurei beherrschen; es ringt mit Japan in stillem
Kampfe um die Herrschaft über Korea. Da hier überall England sein Gegner
ist, so sucht die russische Politik dieses zu isoliren. Deshalb hat sie mit Frank¬
reich angeknüpft, nicht, um den Franzosen Elsaß-Lothringen wieder erobern zu
helfen, sondern um einen sichern, ergebner und mächtigen Bundesgenossen zu
gewinnen; deshalb tritt Rußland im Bunde mit Frankreich von Abessynien aus
dem Vordringen Englands nach dem obern Nil entgegen, wohin zugleich die
Franzosen vom Kongo her streben. Deshalb liegt ihm sehr viel an einem
guten Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn, denn hat es sich mit Öster¬
reich über die Balkanhalbinsel verständigt, wie es geschehen ist, so bleibt dort
alles ruhig, und steht es mit Deutschland in gutem Einvernehmen, so hat es
in Europa einen ernsten Angriff nicht zu befürchten. Daher die krampfhaften
Bemühungen Englands, in der Türkei Unruhe" zu stiften, um Rußland von
Asien abzuziehen. Beide Nebenbuhler haben in der Levante ihre Rollen ver¬
tauscht, und indem Rußland den Khalifen schützt, sichert es sich die Treue der
vielen Millionen mohammedanischer Unterthauen in Asien, während sich England
seine mohammedanischen Inder mehr und mehr entfremdet. Wenn je eine
weitschnuende, weltumspannende Politik glänzende Erfolge aufzuweisen gehabt
hat, so ist es diese russische Kaiser Nikolaus des Zweiten.

In diesen Weltverhältnisfen hat Deutschland seine Stellung zu nehmen
und hat sie seit drei Jahren mit ruhiger Festigkeit und klarer Entschlossenheit
genommen. Immer mehr ist unser wirtschaftlicher Gegensatz zu England hervor¬
getreten, seitdem unsre "Vettern" jenseits des Kanals in Deutschland ihren
stärksten und gefährlichsten Nebenbuhler auf dem Weltmarkte erkannt haben;
Österreich ist gebrechlich, und Italien schwach, auch von England zu abhängig.
Unser einziger starker Bundesgenosse ist Rußland, durch ihn fesseln wir zugleich
Frankreich, und feindliche Gegensätze, die uns von Rußland trennen könnten,
bestehen gar nicht, im Gegenteil, Rußlands größter Gegner ist auf wirtschaft¬
lichem Gebiete auch der unsre. Deshalb war es ein Akt kluger und weit¬
vorausschauender Politik, wenn Deutschland mit Rußland und Frankreich zu¬
sammen dem siegreichen Japan in den Arm fiel und es verhinderte, sich an
der Küste des ostasiatischen Festlandes festzusetzen, und diese Politik ist jetzt
in jedermanns Augen glänzend gerechtfertigt, denn nur im Einvernehmen mit
Nußland und Frankreich ist die Besetzung und Behauptung von Kiao-dschau
möglich, und Prinz Heinrich, der Schwager des Zaren, ginge sicherlich nicht
dahin, wenn Deutschland mit Rußland nicht einig wäre. So stehen jetzt im
fernen Osten die drei großen europäischen Kontinentalmächte den Engländern
und Japanern gegenüber, die beide von einer Verständigung noch sehr weit


Kiao-dschau

und seine Vorposten stehen auf dem Pamir, dem „Dache der Welt," wenige
hundert Kilometer von der Nordwestgrenze des englischen Ostindiens, es baut
die sibirische Bahn, den längsten Schienenweg der Erde, um sich eine rasche
und ganz sichere Verbindung mit dem Großen Ozean zu schaffen, und wird
mit ihr die chinesische Mandschurei beherrschen; es ringt mit Japan in stillem
Kampfe um die Herrschaft über Korea. Da hier überall England sein Gegner
ist, so sucht die russische Politik dieses zu isoliren. Deshalb hat sie mit Frank¬
reich angeknüpft, nicht, um den Franzosen Elsaß-Lothringen wieder erobern zu
helfen, sondern um einen sichern, ergebner und mächtigen Bundesgenossen zu
gewinnen; deshalb tritt Rußland im Bunde mit Frankreich von Abessynien aus
dem Vordringen Englands nach dem obern Nil entgegen, wohin zugleich die
Franzosen vom Kongo her streben. Deshalb liegt ihm sehr viel an einem
guten Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn, denn hat es sich mit Öster¬
reich über die Balkanhalbinsel verständigt, wie es geschehen ist, so bleibt dort
alles ruhig, und steht es mit Deutschland in gutem Einvernehmen, so hat es
in Europa einen ernsten Angriff nicht zu befürchten. Daher die krampfhaften
Bemühungen Englands, in der Türkei Unruhe» zu stiften, um Rußland von
Asien abzuziehen. Beide Nebenbuhler haben in der Levante ihre Rollen ver¬
tauscht, und indem Rußland den Khalifen schützt, sichert es sich die Treue der
vielen Millionen mohammedanischer Unterthauen in Asien, während sich England
seine mohammedanischen Inder mehr und mehr entfremdet. Wenn je eine
weitschnuende, weltumspannende Politik glänzende Erfolge aufzuweisen gehabt
hat, so ist es diese russische Kaiser Nikolaus des Zweiten.

In diesen Weltverhältnisfen hat Deutschland seine Stellung zu nehmen
und hat sie seit drei Jahren mit ruhiger Festigkeit und klarer Entschlossenheit
genommen. Immer mehr ist unser wirtschaftlicher Gegensatz zu England hervor¬
getreten, seitdem unsre „Vettern" jenseits des Kanals in Deutschland ihren
stärksten und gefährlichsten Nebenbuhler auf dem Weltmarkte erkannt haben;
Österreich ist gebrechlich, und Italien schwach, auch von England zu abhängig.
Unser einziger starker Bundesgenosse ist Rußland, durch ihn fesseln wir zugleich
Frankreich, und feindliche Gegensätze, die uns von Rußland trennen könnten,
bestehen gar nicht, im Gegenteil, Rußlands größter Gegner ist auf wirtschaft¬
lichem Gebiete auch der unsre. Deshalb war es ein Akt kluger und weit¬
vorausschauender Politik, wenn Deutschland mit Rußland und Frankreich zu¬
sammen dem siegreichen Japan in den Arm fiel und es verhinderte, sich an
der Küste des ostasiatischen Festlandes festzusetzen, und diese Politik ist jetzt
in jedermanns Augen glänzend gerechtfertigt, denn nur im Einvernehmen mit
Nußland und Frankreich ist die Besetzung und Behauptung von Kiao-dschau
möglich, und Prinz Heinrich, der Schwager des Zaren, ginge sicherlich nicht
dahin, wenn Deutschland mit Rußland nicht einig wäre. So stehen jetzt im
fernen Osten die drei großen europäischen Kontinentalmächte den Engländern
und Japanern gegenüber, die beide von einer Verständigung noch sehr weit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/509>, abgerufen am 26.06.2024.