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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Uicio-tschaii

hingewiesen hat, daß er "für die Erhaltung der Ehre des Reichs nach cinßen"
seinen "einzigen Bruder einzusetzen nicht gezögert habe," hätten wahrhaftig
etwas Besseres verdient als das kühle Schweigen des hohen Hauses und die
altkluge, taktlose Krittelei gewisser, selbst nationaler Blätter. Es ist doch ein
zwingender Beweis für den schweren Ernst des gefaßten Entschlusses und
zugleich für die Wichtigkeit, die mau der Sache beimißt, wenn ein königlicher
Prinz persönlich dafür eintritt. Nicht als ob es sich dabei um eigentliche
Kriegsgefahr handelte, obwohl doch auch das niemand voraussehen kann,
sondern weil sich dadurch Deutschland so sehr engagirt, daß es gar nicht mehr
zurückkann. Und das will es auch nicht. Das verkünden klar und deutlich
die mannhaften Worte des neuen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
von Bülow am 6. Dezember, Deutschland wolle keiner andern Macht vor die
Sonne treten, aber es wolle auch selbst in der Sonne stehen; die Zeit, da
wir dem einen unsrer Nachbarn die Erde, dem zweiten das Meer überließen
und uns selbst den Himmel reservirten, die Zeit der reinen Doktrin sei vorüber.
Solche erfrischende Worte hat mau seit langer Zeit nicht mehr vom Regierungs¬
tische gehört; sie bedeuten: wir beanspruchen dieselben Rechte wie alle andern
Großmächte, wir sind in Kiao-dschau und werden dort bleiben. Die ganze
Nation, soweit sie politisch denkt, steht dabei hinter der Regierung.

Und höchst glücklich scheint die Stelle und der Augenblick unsers Vor¬
gehens gewühlt zu sein. Die Bucht von Kiao-dschau bildet ein fast ganz
geschlossenes, also leicht zu verteidigendes, teilweise sehr tiefes und meist eis¬
freies Wasserbecken von 480 Quadratkilometer Flächeninhalt; die im Hinter¬
grunde liegende Stadt Kiao-dschau ist früher ein bedeutender Handelsplatz
gewesen und erst zurückgegangen, seitdem Tschifu an der Nordküste von Schan-
kung Vertragshafen geworden ist, und in kurzer Entfernung finden sich be¬
deutende Kohlenlager. Strategisch aber liegt Kiao-dschau mitten zwischen dem
Golfe von Petschili, Korea und Japan, ist also eine ausgezeichnete Position
für die Beobachtung und Beherrschung dieser Gewässer. Mit dieser Bucht hat
Deutschland endlich das gewonnen, was seit Jahren mit steigender Bestimmtheit
gefordert worden ist, einen festen Punkt in Ostasien, wie ihn England, Frank¬
reich und Rußland längst haben. Zugleich ist die Besetzung ein Akt der
großen Weltpolitik und nur in ihrem Zusammenhange zu verstehen. Rußlands
gegenwärtige Politik geht gar nicht mehr darauf aus, die Türkei zu erobern;
nach den schlimmen Erfahrungen dieser Bestrebungen während der letzten beiden
Jahrzehnte ist dieses Ziel, wenigstens vorläufig, aufgegeben worden; ja Nußland
ist geradezu der Beschützer der Türkei geworden und will deshalb keine weitern
Abbröckelungen ihres Besitzstandes dulden. Daran vor allem ist Griechenland
gescheitert, und deshalb haben die unglücklichen Armenier vergeblich geblutet.
Die Ziele Rußlands liegen jetzt in Asien, wo sich ihm ungeheure Kolonisations¬
und Absatzgebiete für seine Volkskraft und seine wachsende Industrie eröffnen.
Es hat sich Turkestan bis an den Rand des iranischen Hochlands unterworfen,


Uicio-tschaii

hingewiesen hat, daß er „für die Erhaltung der Ehre des Reichs nach cinßen"
seinen „einzigen Bruder einzusetzen nicht gezögert habe," hätten wahrhaftig
etwas Besseres verdient als das kühle Schweigen des hohen Hauses und die
altkluge, taktlose Krittelei gewisser, selbst nationaler Blätter. Es ist doch ein
zwingender Beweis für den schweren Ernst des gefaßten Entschlusses und
zugleich für die Wichtigkeit, die mau der Sache beimißt, wenn ein königlicher
Prinz persönlich dafür eintritt. Nicht als ob es sich dabei um eigentliche
Kriegsgefahr handelte, obwohl doch auch das niemand voraussehen kann,
sondern weil sich dadurch Deutschland so sehr engagirt, daß es gar nicht mehr
zurückkann. Und das will es auch nicht. Das verkünden klar und deutlich
die mannhaften Worte des neuen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
von Bülow am 6. Dezember, Deutschland wolle keiner andern Macht vor die
Sonne treten, aber es wolle auch selbst in der Sonne stehen; die Zeit, da
wir dem einen unsrer Nachbarn die Erde, dem zweiten das Meer überließen
und uns selbst den Himmel reservirten, die Zeit der reinen Doktrin sei vorüber.
Solche erfrischende Worte hat mau seit langer Zeit nicht mehr vom Regierungs¬
tische gehört; sie bedeuten: wir beanspruchen dieselben Rechte wie alle andern
Großmächte, wir sind in Kiao-dschau und werden dort bleiben. Die ganze
Nation, soweit sie politisch denkt, steht dabei hinter der Regierung.

Und höchst glücklich scheint die Stelle und der Augenblick unsers Vor¬
gehens gewühlt zu sein. Die Bucht von Kiao-dschau bildet ein fast ganz
geschlossenes, also leicht zu verteidigendes, teilweise sehr tiefes und meist eis¬
freies Wasserbecken von 480 Quadratkilometer Flächeninhalt; die im Hinter¬
grunde liegende Stadt Kiao-dschau ist früher ein bedeutender Handelsplatz
gewesen und erst zurückgegangen, seitdem Tschifu an der Nordküste von Schan-
kung Vertragshafen geworden ist, und in kurzer Entfernung finden sich be¬
deutende Kohlenlager. Strategisch aber liegt Kiao-dschau mitten zwischen dem
Golfe von Petschili, Korea und Japan, ist also eine ausgezeichnete Position
für die Beobachtung und Beherrschung dieser Gewässer. Mit dieser Bucht hat
Deutschland endlich das gewonnen, was seit Jahren mit steigender Bestimmtheit
gefordert worden ist, einen festen Punkt in Ostasien, wie ihn England, Frank¬
reich und Rußland längst haben. Zugleich ist die Besetzung ein Akt der
großen Weltpolitik und nur in ihrem Zusammenhange zu verstehen. Rußlands
gegenwärtige Politik geht gar nicht mehr darauf aus, die Türkei zu erobern;
nach den schlimmen Erfahrungen dieser Bestrebungen während der letzten beiden
Jahrzehnte ist dieses Ziel, wenigstens vorläufig, aufgegeben worden; ja Nußland
ist geradezu der Beschützer der Türkei geworden und will deshalb keine weitern
Abbröckelungen ihres Besitzstandes dulden. Daran vor allem ist Griechenland
gescheitert, und deshalb haben die unglücklichen Armenier vergeblich geblutet.
Die Ziele Rußlands liegen jetzt in Asien, wo sich ihm ungeheure Kolonisations¬
und Absatzgebiete für seine Volkskraft und seine wachsende Industrie eröffnen.
Es hat sich Turkestan bis an den Rand des iranischen Hochlands unterworfen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/508>, abgerufen am 22.07.2024.