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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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der Jusep und ich -- gelt du, Juseppchen? -- wir thun mit einander auf¬
erstehen; der da oben (er berührt die Stirn des Kindes), ich hier innen (er
schlägt sich auf die Brust). Wir brauchen einander!" Jede dieser Erzählungen
ist ihrem persönlichen Inhalte nach anmutig und weckt Interesse, und dabei
sind sie der Einkleidung nach alle gleich treu und, wenngleich bisweilen etwas
derb, doch auch daneben wieder zart und fein. So die "Schuldige," die ihren
Dienst verlassen hat bei dem Bauern, um dessen Sohn nicht bloßzustellen, und
die dann mit ihrem neugebornen Kinde in einer Höhle wohnt. Die Bauer-
kinder glauben steif und fest, es sei die Genovefa, und sogar der Herr Staats¬
anwalt aus der Stadt, der im Wirtshausgarten des Dorfs davon gehört und
sich in den Wald hinauf begeben hat, um das Wunder zu ergründen, glaubt
im ersten Augenblick ein überirdisches Wesen vor sich zu haben, wenn seine
Phantasie auch nicht so stark ist wie die der Dorfbuben, die auch die Hirsch¬
kuh zu den Füßen der Frau gesehen haben wollen. Das ist eine Art darzu¬
stellen, womit sich märchenhaftes wirklich machen läßt. So einfach die Grund¬
züge sind, so überzeugend ist das Ergebnis. Der Verfasser lenkt dann seineu
Gegenstand von diesem Gebiet allmählich hinweg und läßt daraus eine Kriminal¬
geschichte werden, aber auch sie ist wieder ungewöhnlich in der Darstellung.
Mu" spricht jetzt viel von einer Kunstwirkung dnrch die allereinfachste Natur.
Biebigs "Kinder der Eifel" sind dazu ein gutes Beispiel.

Ganz in unser heutiges Leben und mitten in die soziale Frage führt uns
ein dreibändiger Roman: Tönendes Erz und klingende Schelle von
Luise Maß (Berlin, Otto Zanke). Der Assessor Oldenhoven. der Bruder
des leitenden Ministers in einem kleinem thüringischen Staate, giebt seinen
Dienst auf, weil er nach seinen sozialen Anschauungen ein freieres Arbeitsfeld
braucht, und wird Journalist in einer nahegelegnen größern preußischen Stadt,
Rasenburg benannt. Bisher hat er viel mit Adel und Grundbesitz zu thun
gehabt, er besitzt selbst ein kleines verfallnes Gut auf dem Thüringer Walde,
nun kommt er unter Handwerker, Fabrikanten und vor allem unter Zeitungs¬
schreiber. Denn außer dem nationalliberalen Tageblatt, dessen Besitzer ihn
gewonnen hat, damit er etwas Feuer hinter die trägen Besitzenden bringe,
giebt es noch Zeitungen verschiedner Farbe dort, bis herab zu einem neuen
sozialdemokratischen Blättchen, an dessen Erscheinen noch vor kurzem keiner der
ruheliebenden Nasenbnrger hatte glauben mögen, und ein ganzes Hans, in das
auch der Assessor einzieht, steckt voll von Zeituugsschreibern, die einander mit
der Feder bekriegen und daneben ihren gemeinsamen friedlichen Mittagstisch
haben. Oldenhoven wächst sich nur zum Entsetzen seines Gönners zu einem
kleinen Naumann ans, sieht aber auch selbst ein, daß er etwas positives auf
diesem Wege nicht schaffen könne, wird endlich des "tönenden Erzes und der
klingenden Schelle" müde und geht wieder in das Leben der Thaten über.
Er wird Landrat eines andern thüringischen Staates und verbindet sich mit


Grenzboten IV 1897 "2
Neue Romane

der Jusep und ich — gelt du, Juseppchen? — wir thun mit einander auf¬
erstehen; der da oben (er berührt die Stirn des Kindes), ich hier innen (er
schlägt sich auf die Brust). Wir brauchen einander!" Jede dieser Erzählungen
ist ihrem persönlichen Inhalte nach anmutig und weckt Interesse, und dabei
sind sie der Einkleidung nach alle gleich treu und, wenngleich bisweilen etwas
derb, doch auch daneben wieder zart und fein. So die „Schuldige," die ihren
Dienst verlassen hat bei dem Bauern, um dessen Sohn nicht bloßzustellen, und
die dann mit ihrem neugebornen Kinde in einer Höhle wohnt. Die Bauer-
kinder glauben steif und fest, es sei die Genovefa, und sogar der Herr Staats¬
anwalt aus der Stadt, der im Wirtshausgarten des Dorfs davon gehört und
sich in den Wald hinauf begeben hat, um das Wunder zu ergründen, glaubt
im ersten Augenblick ein überirdisches Wesen vor sich zu haben, wenn seine
Phantasie auch nicht so stark ist wie die der Dorfbuben, die auch die Hirsch¬
kuh zu den Füßen der Frau gesehen haben wollen. Das ist eine Art darzu¬
stellen, womit sich märchenhaftes wirklich machen läßt. So einfach die Grund¬
züge sind, so überzeugend ist das Ergebnis. Der Verfasser lenkt dann seineu
Gegenstand von diesem Gebiet allmählich hinweg und läßt daraus eine Kriminal¬
geschichte werden, aber auch sie ist wieder ungewöhnlich in der Darstellung.
Mu» spricht jetzt viel von einer Kunstwirkung dnrch die allereinfachste Natur.
Biebigs „Kinder der Eifel" sind dazu ein gutes Beispiel.

Ganz in unser heutiges Leben und mitten in die soziale Frage führt uns
ein dreibändiger Roman: Tönendes Erz und klingende Schelle von
Luise Maß (Berlin, Otto Zanke). Der Assessor Oldenhoven. der Bruder
des leitenden Ministers in einem kleinem thüringischen Staate, giebt seinen
Dienst auf, weil er nach seinen sozialen Anschauungen ein freieres Arbeitsfeld
braucht, und wird Journalist in einer nahegelegnen größern preußischen Stadt,
Rasenburg benannt. Bisher hat er viel mit Adel und Grundbesitz zu thun
gehabt, er besitzt selbst ein kleines verfallnes Gut auf dem Thüringer Walde,
nun kommt er unter Handwerker, Fabrikanten und vor allem unter Zeitungs¬
schreiber. Denn außer dem nationalliberalen Tageblatt, dessen Besitzer ihn
gewonnen hat, damit er etwas Feuer hinter die trägen Besitzenden bringe,
giebt es noch Zeitungen verschiedner Farbe dort, bis herab zu einem neuen
sozialdemokratischen Blättchen, an dessen Erscheinen noch vor kurzem keiner der
ruheliebenden Nasenbnrger hatte glauben mögen, und ein ganzes Hans, in das
auch der Assessor einzieht, steckt voll von Zeituugsschreibern, die einander mit
der Feder bekriegen und daneben ihren gemeinsamen friedlichen Mittagstisch
haben. Oldenhoven wächst sich nur zum Entsetzen seines Gönners zu einem
kleinen Naumann ans, sieht aber auch selbst ein, daß er etwas positives auf
diesem Wege nicht schaffen könne, wird endlich des „tönenden Erzes und der
klingenden Schelle" müde und geht wieder in das Leben der Thaten über.
Er wird Landrat eines andern thüringischen Staates und verbindet sich mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/499>, abgerufen am 26.06.2024.