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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane

jüngern Jahrgängen wird sie zusagen. Aufmerksamere Leser werden sehr bald
den Eindruck bekommen, daß es sich ungeachtet aller historischen Einkleidung
bei der Entwicklung des Titelhelden doch um ein allgemein menschliches
Problem handelt. Martin entwächst der Autorität, die ja vielerlei Gestalt
hat; er glaubt nicht mehr an Hexen, und seine vertraute Freundin wird ein
gichtbrüchiges, hilfreiches Kräuterweibleinz er disputirt gegen seine geistlichen
Vorgesetzten und hält es in der Moral oftmals mit den Unehrlichen und Aus¬
gestoßenen. Ehe er zum Pfarrer bestellt wird, hat er schon oft den Seelsorger
gemacht und seine eigne Seele gestärkt, sodaß er nun ein geläuterter, klar em¬
pfindender Mann geworden ist. Nach unsrer Meinung hätte wohl der etwas
simpelhafte Eindruck, den Martin infolge der humoristischen Behandlung des
Verfassers auf uns macht, gegen das Ende hin durch kräftigere Striche der
Charakterzeichnung zurückgedrängt werden können. Er hätte dann etwas mehr
von einem Helden bekommen, was ihm als Hauptperson wohl anstand. So
bleibt er in seiner passiven Natur immer nur der Resonanzboden für die kräf¬
tigern Äußerungen seiner Umgebung, ähnlich wie die Jean Parischen Helden,
die man zu belächeln, aber nicht zu bewundern pflegt. Aber mit dem weichen und
kränklichen Humor Jean Pauls hat der des Verfassers innerlich keine Ähnlich¬
keit. Wir sehen deutlich eine praktische Welt vor uns und hören eine Auf¬
fassung verkündigen, die in ihrem letzten Grunde christlich fromm, sogar kirchlich
fromm zu nennen ist. Wir haben die Überzeugung, daß das ausgezeichnete
Buch um seines vielseitigen Inhalts willen sehr verschiedenartigen Lesern zu¬
sagen wird.

In eine längst vergangne Zeit sind auch die Geschichten verlegt, die
Heinrich Steinhausen unter dem Titel Entsagen und Finden als Buch
herausgegeben hat (Stuttgart, Bonz u. Comp,); die eine, Geschichte des Remi-
gius von Aseuberg, spielt sogar im elften Jahrhundert. Ihr, wie der ersten
(Schwarzbärbels Bräuterei) liegt das Thema einer unter Kriegslänfeu und
andern Hemmungen endlich zu glücklichem Ziel gelangten Liebschaft zu Grunde,
während die mittlere (Magister Cölestin) etwas tiefer angelegt ist. Anstatt
seinen Stil aus dem lebendigen Dialekt irgend eines von jeher hochdeutschen
Sprachgebiets zu färben, zieht der Verfasser, der Niederdeutscher ist, vor, sich
eine kanzleiartig altertümelnde Schreibweise mit sehr langen, vielfach schleppenden
Sätzen und einer nicht selten falschen Grammatik (z. B. "daß ich einen offen-
barlichen Hader unter ihnen nicht ferne zu sein vermerkte," "desto baß" und
ähnliches) selbst zu bilden, die unbefangnen und kenntnislosen Lesern wohl
einigermaßen echt vorkommen mag, die aber, wenn sie nicht mit großer Kunst
angewendet wird, auf die Dauer sehr ermüdet. Diese Gefahr hat der Verfasser
einmal glücklich vermieden, in feiner mit Recht beliebt gewordnen "Jrmela,"
einer Erzählung, die aber auch dem Inhalte nach viel mehr bedeutet als diese
drei. Sie sind wohlgemeint und brav und unschädlich, aber es fehlt ihnen
alles tiefere "Etwas" und vor allem der poetische Schimmer, der nus auch


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jüngern Jahrgängen wird sie zusagen. Aufmerksamere Leser werden sehr bald
den Eindruck bekommen, daß es sich ungeachtet aller historischen Einkleidung
bei der Entwicklung des Titelhelden doch um ein allgemein menschliches
Problem handelt. Martin entwächst der Autorität, die ja vielerlei Gestalt
hat; er glaubt nicht mehr an Hexen, und seine vertraute Freundin wird ein
gichtbrüchiges, hilfreiches Kräuterweibleinz er disputirt gegen seine geistlichen
Vorgesetzten und hält es in der Moral oftmals mit den Unehrlichen und Aus¬
gestoßenen. Ehe er zum Pfarrer bestellt wird, hat er schon oft den Seelsorger
gemacht und seine eigne Seele gestärkt, sodaß er nun ein geläuterter, klar em¬
pfindender Mann geworden ist. Nach unsrer Meinung hätte wohl der etwas
simpelhafte Eindruck, den Martin infolge der humoristischen Behandlung des
Verfassers auf uns macht, gegen das Ende hin durch kräftigere Striche der
Charakterzeichnung zurückgedrängt werden können. Er hätte dann etwas mehr
von einem Helden bekommen, was ihm als Hauptperson wohl anstand. So
bleibt er in seiner passiven Natur immer nur der Resonanzboden für die kräf¬
tigern Äußerungen seiner Umgebung, ähnlich wie die Jean Parischen Helden,
die man zu belächeln, aber nicht zu bewundern pflegt. Aber mit dem weichen und
kränklichen Humor Jean Pauls hat der des Verfassers innerlich keine Ähnlich¬
keit. Wir sehen deutlich eine praktische Welt vor uns und hören eine Auf¬
fassung verkündigen, die in ihrem letzten Grunde christlich fromm, sogar kirchlich
fromm zu nennen ist. Wir haben die Überzeugung, daß das ausgezeichnete
Buch um seines vielseitigen Inhalts willen sehr verschiedenartigen Lesern zu¬
sagen wird.

In eine längst vergangne Zeit sind auch die Geschichten verlegt, die
Heinrich Steinhausen unter dem Titel Entsagen und Finden als Buch
herausgegeben hat (Stuttgart, Bonz u. Comp,); die eine, Geschichte des Remi-
gius von Aseuberg, spielt sogar im elften Jahrhundert. Ihr, wie der ersten
(Schwarzbärbels Bräuterei) liegt das Thema einer unter Kriegslänfeu und
andern Hemmungen endlich zu glücklichem Ziel gelangten Liebschaft zu Grunde,
während die mittlere (Magister Cölestin) etwas tiefer angelegt ist. Anstatt
seinen Stil aus dem lebendigen Dialekt irgend eines von jeher hochdeutschen
Sprachgebiets zu färben, zieht der Verfasser, der Niederdeutscher ist, vor, sich
eine kanzleiartig altertümelnde Schreibweise mit sehr langen, vielfach schleppenden
Sätzen und einer nicht selten falschen Grammatik (z. B. „daß ich einen offen-
barlichen Hader unter ihnen nicht ferne zu sein vermerkte," „desto baß" und
ähnliches) selbst zu bilden, die unbefangnen und kenntnislosen Lesern wohl
einigermaßen echt vorkommen mag, die aber, wenn sie nicht mit großer Kunst
angewendet wird, auf die Dauer sehr ermüdet. Diese Gefahr hat der Verfasser
einmal glücklich vermieden, in feiner mit Recht beliebt gewordnen „Jrmela,"
einer Erzählung, die aber auch dem Inhalte nach viel mehr bedeutet als diese
drei. Sie sind wohlgemeint und brav und unschädlich, aber es fehlt ihnen
alles tiefere „Etwas" und vor allem der poetische Schimmer, der nus auch


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[0497] Neue Romane jüngern Jahrgängen wird sie zusagen. Aufmerksamere Leser werden sehr bald den Eindruck bekommen, daß es sich ungeachtet aller historischen Einkleidung bei der Entwicklung des Titelhelden doch um ein allgemein menschliches Problem handelt. Martin entwächst der Autorität, die ja vielerlei Gestalt hat; er glaubt nicht mehr an Hexen, und seine vertraute Freundin wird ein gichtbrüchiges, hilfreiches Kräuterweibleinz er disputirt gegen seine geistlichen Vorgesetzten und hält es in der Moral oftmals mit den Unehrlichen und Aus¬ gestoßenen. Ehe er zum Pfarrer bestellt wird, hat er schon oft den Seelsorger gemacht und seine eigne Seele gestärkt, sodaß er nun ein geläuterter, klar em¬ pfindender Mann geworden ist. Nach unsrer Meinung hätte wohl der etwas simpelhafte Eindruck, den Martin infolge der humoristischen Behandlung des Verfassers auf uns macht, gegen das Ende hin durch kräftigere Striche der Charakterzeichnung zurückgedrängt werden können. Er hätte dann etwas mehr von einem Helden bekommen, was ihm als Hauptperson wohl anstand. So bleibt er in seiner passiven Natur immer nur der Resonanzboden für die kräf¬ tigern Äußerungen seiner Umgebung, ähnlich wie die Jean Parischen Helden, die man zu belächeln, aber nicht zu bewundern pflegt. Aber mit dem weichen und kränklichen Humor Jean Pauls hat der des Verfassers innerlich keine Ähnlich¬ keit. Wir sehen deutlich eine praktische Welt vor uns und hören eine Auf¬ fassung verkündigen, die in ihrem letzten Grunde christlich fromm, sogar kirchlich fromm zu nennen ist. Wir haben die Überzeugung, daß das ausgezeichnete Buch um seines vielseitigen Inhalts willen sehr verschiedenartigen Lesern zu¬ sagen wird. In eine längst vergangne Zeit sind auch die Geschichten verlegt, die Heinrich Steinhausen unter dem Titel Entsagen und Finden als Buch herausgegeben hat (Stuttgart, Bonz u. Comp,); die eine, Geschichte des Remi- gius von Aseuberg, spielt sogar im elften Jahrhundert. Ihr, wie der ersten (Schwarzbärbels Bräuterei) liegt das Thema einer unter Kriegslänfeu und andern Hemmungen endlich zu glücklichem Ziel gelangten Liebschaft zu Grunde, während die mittlere (Magister Cölestin) etwas tiefer angelegt ist. Anstatt seinen Stil aus dem lebendigen Dialekt irgend eines von jeher hochdeutschen Sprachgebiets zu färben, zieht der Verfasser, der Niederdeutscher ist, vor, sich eine kanzleiartig altertümelnde Schreibweise mit sehr langen, vielfach schleppenden Sätzen und einer nicht selten falschen Grammatik (z. B. „daß ich einen offen- barlichen Hader unter ihnen nicht ferne zu sein vermerkte," „desto baß" und ähnliches) selbst zu bilden, die unbefangnen und kenntnislosen Lesern wohl einigermaßen echt vorkommen mag, die aber, wenn sie nicht mit großer Kunst angewendet wird, auf die Dauer sehr ermüdet. Diese Gefahr hat der Verfasser einmal glücklich vermieden, in feiner mit Recht beliebt gewordnen „Jrmela," einer Erzählung, die aber auch dem Inhalte nach viel mehr bedeutet als diese drei. Sie sind wohlgemeint und brav und unschädlich, aber es fehlt ihnen alles tiefere „Etwas" und vor allem der poetische Schimmer, der nus auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/497>, abgerufen am 26.06.2024.