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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane

oder ihr Hochzcitsspruch:

Auch in die Zukunft sehen bei ihm die Vögel, und durch ihren Mund läßt
er manches Urteil über unser Zeitalter kund werden. Dies Hereinspielen der
Tierwelt in das Leben der Meuscheu zieht sich durch das ganze Buch, es ist
ja ein alter deutscher Zug, alles das persönlich lebendig werden zu lassen,
aber nicht jeder versteht ihn so glücklich wieder anzuwenden.

Wenn man alle romanartigen Bücher in zwei Klassen teilen kann, je nach
dem das Interesse an den erzählten Thatsachen überwiegt, oder das an dem
Inhalt der Gedanken, die von den dargestellten Personen ausgehen: so wird
schon nach diesen wenigen Bemerkungen unsern Lesern klar sein, daß "Martin
Bötzinger" zu der zweiten Klasse gehört. Die Handlung spannt nur selten,
meistens schreitet'sie dazu nicht schnell genug sort, sie muß sich vielfache Hem¬
mungen gefallen lassen, Schilderungen, Betrachtungen, aber auch Nebenhand¬
lungen. Wir gehen behaglich daneben her, wir befinden uns unter Leuten,
die sich ausführlich über alles auszusprechen lieben; sie haben Zeit, das
heimelt an, nichts drängt. Oft wird uns ganz friedlich und beschaulich und
sonntäglich ums Herz, wie beim Pfarrer Paul Wolf in Bischleben im sechsten
Kapitel oder so oft sich uns bei einem Besuche die Thür des Ratsschösfen
Böhm in Heldburg aufthut. Der Dialekt ist in der Unterhaltung vorzüglich
behandelt und nach den Personen gut abgestuft; die Erzählung findet von da
aus leicht ihren einfachen Ton, der bisweilen durch altertümliches Kanzlei¬
deutsch noch etwas steifer gemacht wird. Außer dem Titelhelden kommen noch
verschiedne Personen vor, an denen wir ein tiefergehendes psychologisches Inter¬
esse nehmen. "Und des Menschen Leid und Elend, heißt es im fünfundzwan-
zigsten Kapitel, ist grenzenlos. Und die friedliche, liebe Natur? Wirf dich
ihr in die Arme! -- Täuschung! Ihr Busen ist seelenlos. Für die geüng-
stigte Seele liegt Heil nur in der Siegesmacht einer gelüuterteu Heidenseele.
Und nur wenn frei von Fluch und Haß, frei von trennenden Egoismus
Seele in Seele rinnt, keimet Seligkeit." Bis Martins Seele diese Ruhe
findet, braucht es lange Zeit und ganze zwei Bände. Äußerlich betrachtet,
sind es nur kleine Erlebnisse und oft solche, bei denen er eine komische und
kümmerliche Figur abgiebt. Dann tritt er hinter ansehnlichere Gestalten zurück,
und wir vergessen eine Weile, daß wir es mit dem Leben des armen Theo-
logus zu thun haben; uus erscheint dafür das Bild der ganzen Zeit, Theo¬
logengezänk, Volksfeste, auch Zeichen des nahen Krieges. Einmal erhalten
wir eine ganz realistische Schilderung eines Vogelfangs mit Netzen oben auf
dem Thüringer Wald in einer Herbstnachst vor Sonnenaufgang, ein Pracht¬
stück von Anschaulichkeit und Naturstimmung. Die Beschreibung der Studenten-
narrheiten in Jena ist für unsern Geschmack zu ausführlich ausgefallen, aber


Neue Romane

oder ihr Hochzcitsspruch:

Auch in die Zukunft sehen bei ihm die Vögel, und durch ihren Mund läßt
er manches Urteil über unser Zeitalter kund werden. Dies Hereinspielen der
Tierwelt in das Leben der Meuscheu zieht sich durch das ganze Buch, es ist
ja ein alter deutscher Zug, alles das persönlich lebendig werden zu lassen,
aber nicht jeder versteht ihn so glücklich wieder anzuwenden.

Wenn man alle romanartigen Bücher in zwei Klassen teilen kann, je nach
dem das Interesse an den erzählten Thatsachen überwiegt, oder das an dem
Inhalt der Gedanken, die von den dargestellten Personen ausgehen: so wird
schon nach diesen wenigen Bemerkungen unsern Lesern klar sein, daß „Martin
Bötzinger" zu der zweiten Klasse gehört. Die Handlung spannt nur selten,
meistens schreitet'sie dazu nicht schnell genug sort, sie muß sich vielfache Hem¬
mungen gefallen lassen, Schilderungen, Betrachtungen, aber auch Nebenhand¬
lungen. Wir gehen behaglich daneben her, wir befinden uns unter Leuten,
die sich ausführlich über alles auszusprechen lieben; sie haben Zeit, das
heimelt an, nichts drängt. Oft wird uns ganz friedlich und beschaulich und
sonntäglich ums Herz, wie beim Pfarrer Paul Wolf in Bischleben im sechsten
Kapitel oder so oft sich uns bei einem Besuche die Thür des Ratsschösfen
Böhm in Heldburg aufthut. Der Dialekt ist in der Unterhaltung vorzüglich
behandelt und nach den Personen gut abgestuft; die Erzählung findet von da
aus leicht ihren einfachen Ton, der bisweilen durch altertümliches Kanzlei¬
deutsch noch etwas steifer gemacht wird. Außer dem Titelhelden kommen noch
verschiedne Personen vor, an denen wir ein tiefergehendes psychologisches Inter¬
esse nehmen. „Und des Menschen Leid und Elend, heißt es im fünfundzwan-
zigsten Kapitel, ist grenzenlos. Und die friedliche, liebe Natur? Wirf dich
ihr in die Arme! — Täuschung! Ihr Busen ist seelenlos. Für die geüng-
stigte Seele liegt Heil nur in der Siegesmacht einer gelüuterteu Heidenseele.
Und nur wenn frei von Fluch und Haß, frei von trennenden Egoismus
Seele in Seele rinnt, keimet Seligkeit." Bis Martins Seele diese Ruhe
findet, braucht es lange Zeit und ganze zwei Bände. Äußerlich betrachtet,
sind es nur kleine Erlebnisse und oft solche, bei denen er eine komische und
kümmerliche Figur abgiebt. Dann tritt er hinter ansehnlichere Gestalten zurück,
und wir vergessen eine Weile, daß wir es mit dem Leben des armen Theo-
logus zu thun haben; uus erscheint dafür das Bild der ganzen Zeit, Theo¬
logengezänk, Volksfeste, auch Zeichen des nahen Krieges. Einmal erhalten
wir eine ganz realistische Schilderung eines Vogelfangs mit Netzen oben auf
dem Thüringer Wald in einer Herbstnachst vor Sonnenaufgang, ein Pracht¬
stück von Anschaulichkeit und Naturstimmung. Die Beschreibung der Studenten-
narrheiten in Jena ist für unsern Geschmack zu ausführlich ausgefallen, aber


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[0496] Neue Romane oder ihr Hochzcitsspruch: Auch in die Zukunft sehen bei ihm die Vögel, und durch ihren Mund läßt er manches Urteil über unser Zeitalter kund werden. Dies Hereinspielen der Tierwelt in das Leben der Meuscheu zieht sich durch das ganze Buch, es ist ja ein alter deutscher Zug, alles das persönlich lebendig werden zu lassen, aber nicht jeder versteht ihn so glücklich wieder anzuwenden. Wenn man alle romanartigen Bücher in zwei Klassen teilen kann, je nach dem das Interesse an den erzählten Thatsachen überwiegt, oder das an dem Inhalt der Gedanken, die von den dargestellten Personen ausgehen: so wird schon nach diesen wenigen Bemerkungen unsern Lesern klar sein, daß „Martin Bötzinger" zu der zweiten Klasse gehört. Die Handlung spannt nur selten, meistens schreitet'sie dazu nicht schnell genug sort, sie muß sich vielfache Hem¬ mungen gefallen lassen, Schilderungen, Betrachtungen, aber auch Nebenhand¬ lungen. Wir gehen behaglich daneben her, wir befinden uns unter Leuten, die sich ausführlich über alles auszusprechen lieben; sie haben Zeit, das heimelt an, nichts drängt. Oft wird uns ganz friedlich und beschaulich und sonntäglich ums Herz, wie beim Pfarrer Paul Wolf in Bischleben im sechsten Kapitel oder so oft sich uns bei einem Besuche die Thür des Ratsschösfen Böhm in Heldburg aufthut. Der Dialekt ist in der Unterhaltung vorzüglich behandelt und nach den Personen gut abgestuft; die Erzählung findet von da aus leicht ihren einfachen Ton, der bisweilen durch altertümliches Kanzlei¬ deutsch noch etwas steifer gemacht wird. Außer dem Titelhelden kommen noch verschiedne Personen vor, an denen wir ein tiefergehendes psychologisches Inter¬ esse nehmen. „Und des Menschen Leid und Elend, heißt es im fünfundzwan- zigsten Kapitel, ist grenzenlos. Und die friedliche, liebe Natur? Wirf dich ihr in die Arme! — Täuschung! Ihr Busen ist seelenlos. Für die geüng- stigte Seele liegt Heil nur in der Siegesmacht einer gelüuterteu Heidenseele. Und nur wenn frei von Fluch und Haß, frei von trennenden Egoismus Seele in Seele rinnt, keimet Seligkeit." Bis Martins Seele diese Ruhe findet, braucht es lange Zeit und ganze zwei Bände. Äußerlich betrachtet, sind es nur kleine Erlebnisse und oft solche, bei denen er eine komische und kümmerliche Figur abgiebt. Dann tritt er hinter ansehnlichere Gestalten zurück, und wir vergessen eine Weile, daß wir es mit dem Leben des armen Theo- logus zu thun haben; uus erscheint dafür das Bild der ganzen Zeit, Theo¬ logengezänk, Volksfeste, auch Zeichen des nahen Krieges. Einmal erhalten wir eine ganz realistische Schilderung eines Vogelfangs mit Netzen oben auf dem Thüringer Wald in einer Herbstnachst vor Sonnenaufgang, ein Pracht¬ stück von Anschaulichkeit und Naturstimmung. Die Beschreibung der Studenten- narrheiten in Jena ist für unsern Geschmack zu ausführlich ausgefallen, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/496>, abgerufen am 26.06.2024.