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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane

Schwester Vroni, ein prächtiges, energisches Geschöpf, und den Schmied im
Dorf, ders im Anfang der Erzählung ebenso im kleinen treibt, wie der Purt-
scheller im großen, bis ihn die Vroni für einen echten Lumpen erklärt, was
er sich dann so zu Herzen nimmt, daß er am Ende unsers Romans
ihrer würdig geworden ist. Was nun diese einfachen Hergange unsrer Teil¬
nahme so nahe bringt, ist das Ereignis, das der Titel ausdrückt. Ein lang¬
sam sich vorbereitender Bergrutsch, der schon ganz oben ein Stück von des
Purtschcllers Wald umgerissen hat, droht das Hans der Eltern von Matthes
und Vroni zu zerstören, und nur der unsäglich mühevollen Arbeit der kleinen
Familie und des Schmieds, der sich hier aufs beste bewährt, gelingt es, das
Schlimmste abzuwenden. Was aber oben durch ernste Sorge gerettet und er¬
halten bleibt, das geht zu derselben Zeit unten aus dem Purtschellerhofe durch
Leichtsinn verloren. Dieser Gegensatz giebt der Erzählung ein spannendes
Interesse. Sie ist in der Hauptsache ernst, aber doch auch wieder sehr reich
an komischen Zügen. Sie ist nicht zu lang in der Schilderung und dabei
außerordentlich munter und treffend im Dialog. Man möchte nichts anders
haben, als wie es geraten ist; mit dem Gegebnen ist die Aufgabe gerade zu
Ende gebracht. Der Abschluß, die Doppclheirat, wird nur angedeutet. Schrift¬
steller von Beruf könnten an diesem Kunstwerke noch manches einzelne lernen,
z. B. das Gleichgewicht zwischen Komik und Tiefsinn an der Figur des alten
Handelsjuden Rafael oder die Stellen, wo des Matthes alter Vater in den
Stunden der Not die vorgeschriebnen Gebete durch eigne ersetzt oder ergänzt.
Wie stark hätte da vielleicht ein andrer aufgetragen, und mit wie wenig
Strichen wirkt der Künstler!

Ein eigentümlich schönes Buch -- Roman mochten wir es nicht nennen,
aber auch nicht, wie es selbst sich bezeichnet: "Ein Lebens- und Zeitbild aus
dem siebzehnten Jahrhundert," denn dieser Nebentitel läßt einen der üblichen
Professorenromane vermuten, und das Buch ist viel besser -- ist Martin
Bötzinger von I. H. Löffler. Zwei Bände (Leipzig, Grnnow), von denen
wir dem Leser eine ganz schiefe Vorstellung geben würden, wollten wir sagen,
es sei ein historischer Roman. Der Verfasser ist in den Besitz kurzer Auf¬
zeichnungen gekommen, worin der wirkliche Martin Bötzinger von den Drang¬
salen erzählt, die er in den Jahren 1631 bis 1647 als evangelischer Pfarrer
im Koburgischen von den kaiserlichen Kriegsvölkern hat erleiden müssen. Sie
sind traurig und ergreifend, aber es giebt Mitteilungen aus jener Zeit, die
uns doch noch unmittelbarer packen. Anstatt das, was hieran fehlt, aus eignen
Mitteln hinzuzuthun, hat der Verfasser vorgezogen, seinen Helden ganz neu zu
dichten und sein Leben von frühester Jugend an bis dahin, wo er die erste
Pfarre bekommt (1627), zu schildern, wobei er begreiflicherweise jene Notizen
nicht unmittelbar benutzen konnte. Sie geben nur den Schauplatz für seine
Erzählung, Südthüringen und Franken bis nach Würzburg, namentlich das


Neue Romane

Schwester Vroni, ein prächtiges, energisches Geschöpf, und den Schmied im
Dorf, ders im Anfang der Erzählung ebenso im kleinen treibt, wie der Purt-
scheller im großen, bis ihn die Vroni für einen echten Lumpen erklärt, was
er sich dann so zu Herzen nimmt, daß er am Ende unsers Romans
ihrer würdig geworden ist. Was nun diese einfachen Hergange unsrer Teil¬
nahme so nahe bringt, ist das Ereignis, das der Titel ausdrückt. Ein lang¬
sam sich vorbereitender Bergrutsch, der schon ganz oben ein Stück von des
Purtschcllers Wald umgerissen hat, droht das Hans der Eltern von Matthes
und Vroni zu zerstören, und nur der unsäglich mühevollen Arbeit der kleinen
Familie und des Schmieds, der sich hier aufs beste bewährt, gelingt es, das
Schlimmste abzuwenden. Was aber oben durch ernste Sorge gerettet und er¬
halten bleibt, das geht zu derselben Zeit unten aus dem Purtschellerhofe durch
Leichtsinn verloren. Dieser Gegensatz giebt der Erzählung ein spannendes
Interesse. Sie ist in der Hauptsache ernst, aber doch auch wieder sehr reich
an komischen Zügen. Sie ist nicht zu lang in der Schilderung und dabei
außerordentlich munter und treffend im Dialog. Man möchte nichts anders
haben, als wie es geraten ist; mit dem Gegebnen ist die Aufgabe gerade zu
Ende gebracht. Der Abschluß, die Doppclheirat, wird nur angedeutet. Schrift¬
steller von Beruf könnten an diesem Kunstwerke noch manches einzelne lernen,
z. B. das Gleichgewicht zwischen Komik und Tiefsinn an der Figur des alten
Handelsjuden Rafael oder die Stellen, wo des Matthes alter Vater in den
Stunden der Not die vorgeschriebnen Gebete durch eigne ersetzt oder ergänzt.
Wie stark hätte da vielleicht ein andrer aufgetragen, und mit wie wenig
Strichen wirkt der Künstler!

Ein eigentümlich schönes Buch — Roman mochten wir es nicht nennen,
aber auch nicht, wie es selbst sich bezeichnet: „Ein Lebens- und Zeitbild aus
dem siebzehnten Jahrhundert," denn dieser Nebentitel läßt einen der üblichen
Professorenromane vermuten, und das Buch ist viel besser — ist Martin
Bötzinger von I. H. Löffler. Zwei Bände (Leipzig, Grnnow), von denen
wir dem Leser eine ganz schiefe Vorstellung geben würden, wollten wir sagen,
es sei ein historischer Roman. Der Verfasser ist in den Besitz kurzer Auf¬
zeichnungen gekommen, worin der wirkliche Martin Bötzinger von den Drang¬
salen erzählt, die er in den Jahren 1631 bis 1647 als evangelischer Pfarrer
im Koburgischen von den kaiserlichen Kriegsvölkern hat erleiden müssen. Sie
sind traurig und ergreifend, aber es giebt Mitteilungen aus jener Zeit, die
uns doch noch unmittelbarer packen. Anstatt das, was hieran fehlt, aus eignen
Mitteln hinzuzuthun, hat der Verfasser vorgezogen, seinen Helden ganz neu zu
dichten und sein Leben von frühester Jugend an bis dahin, wo er die erste
Pfarre bekommt (1627), zu schildern, wobei er begreiflicherweise jene Notizen
nicht unmittelbar benutzen konnte. Sie geben nur den Schauplatz für seine
Erzählung, Südthüringen und Franken bis nach Würzburg, namentlich das


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[0494] Neue Romane Schwester Vroni, ein prächtiges, energisches Geschöpf, und den Schmied im Dorf, ders im Anfang der Erzählung ebenso im kleinen treibt, wie der Purt- scheller im großen, bis ihn die Vroni für einen echten Lumpen erklärt, was er sich dann so zu Herzen nimmt, daß er am Ende unsers Romans ihrer würdig geworden ist. Was nun diese einfachen Hergange unsrer Teil¬ nahme so nahe bringt, ist das Ereignis, das der Titel ausdrückt. Ein lang¬ sam sich vorbereitender Bergrutsch, der schon ganz oben ein Stück von des Purtschcllers Wald umgerissen hat, droht das Hans der Eltern von Matthes und Vroni zu zerstören, und nur der unsäglich mühevollen Arbeit der kleinen Familie und des Schmieds, der sich hier aufs beste bewährt, gelingt es, das Schlimmste abzuwenden. Was aber oben durch ernste Sorge gerettet und er¬ halten bleibt, das geht zu derselben Zeit unten aus dem Purtschellerhofe durch Leichtsinn verloren. Dieser Gegensatz giebt der Erzählung ein spannendes Interesse. Sie ist in der Hauptsache ernst, aber doch auch wieder sehr reich an komischen Zügen. Sie ist nicht zu lang in der Schilderung und dabei außerordentlich munter und treffend im Dialog. Man möchte nichts anders haben, als wie es geraten ist; mit dem Gegebnen ist die Aufgabe gerade zu Ende gebracht. Der Abschluß, die Doppclheirat, wird nur angedeutet. Schrift¬ steller von Beruf könnten an diesem Kunstwerke noch manches einzelne lernen, z. B. das Gleichgewicht zwischen Komik und Tiefsinn an der Figur des alten Handelsjuden Rafael oder die Stellen, wo des Matthes alter Vater in den Stunden der Not die vorgeschriebnen Gebete durch eigne ersetzt oder ergänzt. Wie stark hätte da vielleicht ein andrer aufgetragen, und mit wie wenig Strichen wirkt der Künstler! Ein eigentümlich schönes Buch — Roman mochten wir es nicht nennen, aber auch nicht, wie es selbst sich bezeichnet: „Ein Lebens- und Zeitbild aus dem siebzehnten Jahrhundert," denn dieser Nebentitel läßt einen der üblichen Professorenromane vermuten, und das Buch ist viel besser — ist Martin Bötzinger von I. H. Löffler. Zwei Bände (Leipzig, Grnnow), von denen wir dem Leser eine ganz schiefe Vorstellung geben würden, wollten wir sagen, es sei ein historischer Roman. Der Verfasser ist in den Besitz kurzer Auf¬ zeichnungen gekommen, worin der wirkliche Martin Bötzinger von den Drang¬ salen erzählt, die er in den Jahren 1631 bis 1647 als evangelischer Pfarrer im Koburgischen von den kaiserlichen Kriegsvölkern hat erleiden müssen. Sie sind traurig und ergreifend, aber es giebt Mitteilungen aus jener Zeit, die uns doch noch unmittelbarer packen. Anstatt das, was hieran fehlt, aus eignen Mitteln hinzuzuthun, hat der Verfasser vorgezogen, seinen Helden ganz neu zu dichten und sein Leben von frühester Jugend an bis dahin, wo er die erste Pfarre bekommt (1627), zu schildern, wobei er begreiflicherweise jene Notizen nicht unmittelbar benutzen konnte. Sie geben nur den Schauplatz für seine Erzählung, Südthüringen und Franken bis nach Würzburg, namentlich das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/494>, abgerufen am 26.06.2024.