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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

treibhausartig beschleunigt, den Jüngling vor dem zwanzigsten Jahre zur
Mmineshöhe emporzuschießen zwingt, dafür seinen Brustnmsang verringert
und endlich den Mann vorzeitig im Konkurrenzkampfe aufreibt. Die Städte
für sich allein, meint er, würden aussterben ohne den Zufluß vom Lande, der
zu versiegen beginne. Der Ansicht vieler Soziologen, daß die Seuchen-
bckämpfnng dem Ausleseprozeß entgegenwirke, weil sie viel Schwaches und
Ungesundes aufpäppelt, was besser vor dem Heiratsalter gestorben wäre,
pflichtet auch er bei. Wir fragen noch einmal, wie kann man für die wohl¬
thätigen Wirkungen der angeblichen natürlichen Auslese schwärmen und vor
künstlichen Eingriffen in sie warnen, wenn sie der Vernichtung der Besten und
schließlich der des ganzen Menschengeschlechts zustrebt? Jene Entwicklung, die
Ammon unberechtigterweise auf den Begriff der Auslese einschränkt, durch eine
künstliche Züchtung ersetzen zu wollen, das wäre natürlich ejn durchaus ver¬
werflicher Gedanke. Abgesehen davon, daß weder das vom Schöpfer gesetzte
Endziel der Entwicklung ermittelt, noch eine Einigung der Menschen über ein
von ihnen selbst zu setzendes Ziel herbeigeführt werden könnte, würde jeder
einzelne Versuch von Menschenzüchtung Wahnsinn und Frevel sein. Wollte
man z. B. alle schwächlichen und zu kleinen Kinder umbringen, so würde man
das Menschengeschlecht einer Fülle sittlicher, intellektueller und ästhetischer
Kräfte und nicht weniger Genies berauben; weder ein Adolf Menzel würde
heranwachsen können, noch ein Alexander von Humboldt, der als Knabe
nicht allein schwächlich und kränklich war, sondern auch von seinen Lehrern
für unfähig erklärt wurde. Möglicherweise würde man durch Kunstzüchtung
einen Olymp pausbäckiger Hausknechte zustande bringen, wie es Konstantin
Rvßler einmal genannt hat, vielleicht auch das nicht einmal. Aber rein passiv
darf der Mensch, als ein vernünftiges Wesen, dem Natnrprozeß umso weniger
gegenüberstehen, als in dem, was die Soziologen natürliche Auslese nennen,
schon sehr viel absichtsvolles menschliches Walten steckt. Damit kommen wir
auf den später zu erörternden Umstand, der uns eigentlich zu einer Kritik von
Ammons Schriften veranlaßt hat; denn wenn er nicht auf der Unterlage seiner
naturwissenschaftlichen Hypothese" ein soziologisches System errichtet hätte,
das des Beifalls einflußreicher Kreise gewiß sein darf, fo würde sich eine ein¬
gehende Prüfung seiner Schrulle nicht lohnen; als eine solche darf wohl der
Einfall bezeichnet werden, den Reichtum der historischen Erscheinungen auf einen
Ausleseprozeß zurückzuführen, zu dem zwei oder drei Urrassen das Material
geliefert haben sollen.




Anthropologische Fragen

treibhausartig beschleunigt, den Jüngling vor dem zwanzigsten Jahre zur
Mmineshöhe emporzuschießen zwingt, dafür seinen Brustnmsang verringert
und endlich den Mann vorzeitig im Konkurrenzkampfe aufreibt. Die Städte
für sich allein, meint er, würden aussterben ohne den Zufluß vom Lande, der
zu versiegen beginne. Der Ansicht vieler Soziologen, daß die Seuchen-
bckämpfnng dem Ausleseprozeß entgegenwirke, weil sie viel Schwaches und
Ungesundes aufpäppelt, was besser vor dem Heiratsalter gestorben wäre,
pflichtet auch er bei. Wir fragen noch einmal, wie kann man für die wohl¬
thätigen Wirkungen der angeblichen natürlichen Auslese schwärmen und vor
künstlichen Eingriffen in sie warnen, wenn sie der Vernichtung der Besten und
schließlich der des ganzen Menschengeschlechts zustrebt? Jene Entwicklung, die
Ammon unberechtigterweise auf den Begriff der Auslese einschränkt, durch eine
künstliche Züchtung ersetzen zu wollen, das wäre natürlich ejn durchaus ver¬
werflicher Gedanke. Abgesehen davon, daß weder das vom Schöpfer gesetzte
Endziel der Entwicklung ermittelt, noch eine Einigung der Menschen über ein
von ihnen selbst zu setzendes Ziel herbeigeführt werden könnte, würde jeder
einzelne Versuch von Menschenzüchtung Wahnsinn und Frevel sein. Wollte
man z. B. alle schwächlichen und zu kleinen Kinder umbringen, so würde man
das Menschengeschlecht einer Fülle sittlicher, intellektueller und ästhetischer
Kräfte und nicht weniger Genies berauben; weder ein Adolf Menzel würde
heranwachsen können, noch ein Alexander von Humboldt, der als Knabe
nicht allein schwächlich und kränklich war, sondern auch von seinen Lehrern
für unfähig erklärt wurde. Möglicherweise würde man durch Kunstzüchtung
einen Olymp pausbäckiger Hausknechte zustande bringen, wie es Konstantin
Rvßler einmal genannt hat, vielleicht auch das nicht einmal. Aber rein passiv
darf der Mensch, als ein vernünftiges Wesen, dem Natnrprozeß umso weniger
gegenüberstehen, als in dem, was die Soziologen natürliche Auslese nennen,
schon sehr viel absichtsvolles menschliches Walten steckt. Damit kommen wir
auf den später zu erörternden Umstand, der uns eigentlich zu einer Kritik von
Ammons Schriften veranlaßt hat; denn wenn er nicht auf der Unterlage seiner
naturwissenschaftlichen Hypothese» ein soziologisches System errichtet hätte,
das des Beifalls einflußreicher Kreise gewiß sein darf, fo würde sich eine ein¬
gehende Prüfung seiner Schrulle nicht lohnen; als eine solche darf wohl der
Einfall bezeichnet werden, den Reichtum der historischen Erscheinungen auf einen
Ausleseprozeß zurückzuführen, zu dem zwei oder drei Urrassen das Material
geliefert haben sollen.




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[0492] Anthropologische Fragen treibhausartig beschleunigt, den Jüngling vor dem zwanzigsten Jahre zur Mmineshöhe emporzuschießen zwingt, dafür seinen Brustnmsang verringert und endlich den Mann vorzeitig im Konkurrenzkampfe aufreibt. Die Städte für sich allein, meint er, würden aussterben ohne den Zufluß vom Lande, der zu versiegen beginne. Der Ansicht vieler Soziologen, daß die Seuchen- bckämpfnng dem Ausleseprozeß entgegenwirke, weil sie viel Schwaches und Ungesundes aufpäppelt, was besser vor dem Heiratsalter gestorben wäre, pflichtet auch er bei. Wir fragen noch einmal, wie kann man für die wohl¬ thätigen Wirkungen der angeblichen natürlichen Auslese schwärmen und vor künstlichen Eingriffen in sie warnen, wenn sie der Vernichtung der Besten und schließlich der des ganzen Menschengeschlechts zustrebt? Jene Entwicklung, die Ammon unberechtigterweise auf den Begriff der Auslese einschränkt, durch eine künstliche Züchtung ersetzen zu wollen, das wäre natürlich ejn durchaus ver¬ werflicher Gedanke. Abgesehen davon, daß weder das vom Schöpfer gesetzte Endziel der Entwicklung ermittelt, noch eine Einigung der Menschen über ein von ihnen selbst zu setzendes Ziel herbeigeführt werden könnte, würde jeder einzelne Versuch von Menschenzüchtung Wahnsinn und Frevel sein. Wollte man z. B. alle schwächlichen und zu kleinen Kinder umbringen, so würde man das Menschengeschlecht einer Fülle sittlicher, intellektueller und ästhetischer Kräfte und nicht weniger Genies berauben; weder ein Adolf Menzel würde heranwachsen können, noch ein Alexander von Humboldt, der als Knabe nicht allein schwächlich und kränklich war, sondern auch von seinen Lehrern für unfähig erklärt wurde. Möglicherweise würde man durch Kunstzüchtung einen Olymp pausbäckiger Hausknechte zustande bringen, wie es Konstantin Rvßler einmal genannt hat, vielleicht auch das nicht einmal. Aber rein passiv darf der Mensch, als ein vernünftiges Wesen, dem Natnrprozeß umso weniger gegenüberstehen, als in dem, was die Soziologen natürliche Auslese nennen, schon sehr viel absichtsvolles menschliches Walten steckt. Damit kommen wir auf den später zu erörternden Umstand, der uns eigentlich zu einer Kritik von Ammons Schriften veranlaßt hat; denn wenn er nicht auf der Unterlage seiner naturwissenschaftlichen Hypothese» ein soziologisches System errichtet hätte, das des Beifalls einflußreicher Kreise gewiß sein darf, fo würde sich eine ein¬ gehende Prüfung seiner Schrulle nicht lohnen; als eine solche darf wohl der Einfall bezeichnet werden, den Reichtum der historischen Erscheinungen auf einen Ausleseprozeß zurückzuführen, zu dem zwei oder drei Urrassen das Material geliefert haben sollen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/492>, abgerufen am 26.06.2024.