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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

anbetrifft, so würde es schwierig, ja unmöglich sein, auch nur anzugeben,
worin eigentlich die Vervollkommnung zu bestehen hätte. Können Homer und
Sophokles, Plato und Alexander, Moses und Jesajas übertroffen werden?
Zudem wissen wir ohnehin heute schon keine Verwendung mehr für unsre
Intelligenzen, und was die moralischen Eigenschaften oder Triebe anlangt, so
läßt sich nachweisen, daß jede Steigerung einer solchen über das allezeit vor-
handue Mittelmaß, wenn sie verallgemeinert wird, die Gesellschaft auflöst:
allgemein gesteigerte Wohlthätigkeit schwächt die Arbeitsenergie, allgemeiner
Gerechtigkeitseifer verleitet zu der Politik: justMg,, xersat muuäus,
allgemein verbreitete Selbständigkeit des Charakters "ut Unbeugsamkeit der
Überzeugung hat notwendig die Anarchie zur Folge usw. Sogar Darwin,
der Freund des Gedankens einer endlosen Entwicklung zum Vollkommnern,
findet, daß sich die Menschheit seit zweitausend Jahren nicht weiter vervoll¬
kommnet habe. Ammon will das freilich nicht zugeben und führt nach
Wiedersheim eine Anzahl kleiner anatomischer Veränderungen an, die noch
jetzt im Menschenleibe vor sich gehen sollen, und die teils gleichgiltiger Art,
teils Rückbildungen, teils Fortschritte seien; der wichtigste unter den Fort¬
schritten würde, wenn er sich nicht etwa auf Einbildung und Vermutungen
beschränkt, die Rückbildung des Wurmfortsatzes des Blinddarms sein, dessen
einziger bekannter Zweck darin besteht, daß er manchmal zum Sitz einer töt-
lichen Erkrankung wird. Eine sehr bescheidne Vervollkommnung!

Aber andrerseits urteilt Ammon über das Ziel der Entwicklung durchaus
Pessimistisch.*) Die Langschädel, in denen er die Idealmenschen sieht, ver¬
schwinden. Im Mittelalter, wo sie den Adel bildeten, sind sie teils durch
Fehden aufgerieben worden, teils als Geistliche und Mönche ohne Nachkommen
gestorben. Jetzt zieht die Stadt die auf dem Dorfe noch übrig gebliebner
Langschüdel an sich, um sie vollends aufzureiben. Ja er führt, ohne Ein¬
wendungen dagegen, eine Stelle aus Lapouge an, worin es heißt, man solle sich
doch den aus mannichfachen Mischungen hervorgegangnen häßlichen Straßen¬
köter ansehen, das sei das Ideal, dem die Entwicklung des Menschengeschlechts
zustrebe; die fortgesetzte Mischung verbinde Eigenschaften, die nicht zu einander
-Päßler, und erzeuge so Karikaturen. Und nicht genug, daß die Stadt die
Langschüdel aufreibt, sie frißt überhaupt ihre Bewohner. Ammon schildert
wiederholt, wie das städtische Leben die Entwicklung des Geschlechtstriebes



Auch bei Ratzel finden sich hie und da pessimistische Betrachtungen, so auf S, 469 des
ersten Bandes. Obwohl er im allgemeinen die Ansicht derer nicht teilt, die jede Mischung für
eine Verschlechterung halten, meint er doch in Beziehung auf Amerika: "In diesem Schmelz¬
tiegel ^fortwährender Verschmelzung und Aufsaugung^ werden sich sämtliche Mcnschenrnssen mit
einander vermischen. Die Geschichte wird die Meinung prüfen, die Kulturstufe bleibe unberührt,
während das Blut der höher zimlisirten sich mit denen der niedriger stehenden Nasse mischt,
und sie wird ihr widersprechen." ,
Grenzboten IV lM7 in
Anthropologische Fragen

anbetrifft, so würde es schwierig, ja unmöglich sein, auch nur anzugeben,
worin eigentlich die Vervollkommnung zu bestehen hätte. Können Homer und
Sophokles, Plato und Alexander, Moses und Jesajas übertroffen werden?
Zudem wissen wir ohnehin heute schon keine Verwendung mehr für unsre
Intelligenzen, und was die moralischen Eigenschaften oder Triebe anlangt, so
läßt sich nachweisen, daß jede Steigerung einer solchen über das allezeit vor-
handue Mittelmaß, wenn sie verallgemeinert wird, die Gesellschaft auflöst:
allgemein gesteigerte Wohlthätigkeit schwächt die Arbeitsenergie, allgemeiner
Gerechtigkeitseifer verleitet zu der Politik: justMg,, xersat muuäus,
allgemein verbreitete Selbständigkeit des Charakters »ut Unbeugsamkeit der
Überzeugung hat notwendig die Anarchie zur Folge usw. Sogar Darwin,
der Freund des Gedankens einer endlosen Entwicklung zum Vollkommnern,
findet, daß sich die Menschheit seit zweitausend Jahren nicht weiter vervoll¬
kommnet habe. Ammon will das freilich nicht zugeben und führt nach
Wiedersheim eine Anzahl kleiner anatomischer Veränderungen an, die noch
jetzt im Menschenleibe vor sich gehen sollen, und die teils gleichgiltiger Art,
teils Rückbildungen, teils Fortschritte seien; der wichtigste unter den Fort¬
schritten würde, wenn er sich nicht etwa auf Einbildung und Vermutungen
beschränkt, die Rückbildung des Wurmfortsatzes des Blinddarms sein, dessen
einziger bekannter Zweck darin besteht, daß er manchmal zum Sitz einer töt-
lichen Erkrankung wird. Eine sehr bescheidne Vervollkommnung!

Aber andrerseits urteilt Ammon über das Ziel der Entwicklung durchaus
Pessimistisch.*) Die Langschädel, in denen er die Idealmenschen sieht, ver¬
schwinden. Im Mittelalter, wo sie den Adel bildeten, sind sie teils durch
Fehden aufgerieben worden, teils als Geistliche und Mönche ohne Nachkommen
gestorben. Jetzt zieht die Stadt die auf dem Dorfe noch übrig gebliebner
Langschüdel an sich, um sie vollends aufzureiben. Ja er führt, ohne Ein¬
wendungen dagegen, eine Stelle aus Lapouge an, worin es heißt, man solle sich
doch den aus mannichfachen Mischungen hervorgegangnen häßlichen Straßen¬
köter ansehen, das sei das Ideal, dem die Entwicklung des Menschengeschlechts
zustrebe; die fortgesetzte Mischung verbinde Eigenschaften, die nicht zu einander
-Päßler, und erzeuge so Karikaturen. Und nicht genug, daß die Stadt die
Langschüdel aufreibt, sie frißt überhaupt ihre Bewohner. Ammon schildert
wiederholt, wie das städtische Leben die Entwicklung des Geschlechtstriebes



Auch bei Ratzel finden sich hie und da pessimistische Betrachtungen, so auf S, 469 des
ersten Bandes. Obwohl er im allgemeinen die Ansicht derer nicht teilt, die jede Mischung für
eine Verschlechterung halten, meint er doch in Beziehung auf Amerika: „In diesem Schmelz¬
tiegel ^fortwährender Verschmelzung und Aufsaugung^ werden sich sämtliche Mcnschenrnssen mit
einander vermischen. Die Geschichte wird die Meinung prüfen, die Kulturstufe bleibe unberührt,
während das Blut der höher zimlisirten sich mit denen der niedriger stehenden Nasse mischt,
und sie wird ihr widersprechen." ,
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[0491] Anthropologische Fragen anbetrifft, so würde es schwierig, ja unmöglich sein, auch nur anzugeben, worin eigentlich die Vervollkommnung zu bestehen hätte. Können Homer und Sophokles, Plato und Alexander, Moses und Jesajas übertroffen werden? Zudem wissen wir ohnehin heute schon keine Verwendung mehr für unsre Intelligenzen, und was die moralischen Eigenschaften oder Triebe anlangt, so läßt sich nachweisen, daß jede Steigerung einer solchen über das allezeit vor- handue Mittelmaß, wenn sie verallgemeinert wird, die Gesellschaft auflöst: allgemein gesteigerte Wohlthätigkeit schwächt die Arbeitsenergie, allgemeiner Gerechtigkeitseifer verleitet zu der Politik: justMg,, xersat muuäus, allgemein verbreitete Selbständigkeit des Charakters »ut Unbeugsamkeit der Überzeugung hat notwendig die Anarchie zur Folge usw. Sogar Darwin, der Freund des Gedankens einer endlosen Entwicklung zum Vollkommnern, findet, daß sich die Menschheit seit zweitausend Jahren nicht weiter vervoll¬ kommnet habe. Ammon will das freilich nicht zugeben und führt nach Wiedersheim eine Anzahl kleiner anatomischer Veränderungen an, die noch jetzt im Menschenleibe vor sich gehen sollen, und die teils gleichgiltiger Art, teils Rückbildungen, teils Fortschritte seien; der wichtigste unter den Fort¬ schritten würde, wenn er sich nicht etwa auf Einbildung und Vermutungen beschränkt, die Rückbildung des Wurmfortsatzes des Blinddarms sein, dessen einziger bekannter Zweck darin besteht, daß er manchmal zum Sitz einer töt- lichen Erkrankung wird. Eine sehr bescheidne Vervollkommnung! Aber andrerseits urteilt Ammon über das Ziel der Entwicklung durchaus Pessimistisch.*) Die Langschädel, in denen er die Idealmenschen sieht, ver¬ schwinden. Im Mittelalter, wo sie den Adel bildeten, sind sie teils durch Fehden aufgerieben worden, teils als Geistliche und Mönche ohne Nachkommen gestorben. Jetzt zieht die Stadt die auf dem Dorfe noch übrig gebliebner Langschüdel an sich, um sie vollends aufzureiben. Ja er führt, ohne Ein¬ wendungen dagegen, eine Stelle aus Lapouge an, worin es heißt, man solle sich doch den aus mannichfachen Mischungen hervorgegangnen häßlichen Straßen¬ köter ansehen, das sei das Ideal, dem die Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebe; die fortgesetzte Mischung verbinde Eigenschaften, die nicht zu einander -Päßler, und erzeuge so Karikaturen. Und nicht genug, daß die Stadt die Langschüdel aufreibt, sie frißt überhaupt ihre Bewohner. Ammon schildert wiederholt, wie das städtische Leben die Entwicklung des Geschlechtstriebes Auch bei Ratzel finden sich hie und da pessimistische Betrachtungen, so auf S, 469 des ersten Bandes. Obwohl er im allgemeinen die Ansicht derer nicht teilt, die jede Mischung für eine Verschlechterung halten, meint er doch in Beziehung auf Amerika: „In diesem Schmelz¬ tiegel ^fortwährender Verschmelzung und Aufsaugung^ werden sich sämtliche Mcnschenrnssen mit einander vermischen. Die Geschichte wird die Meinung prüfen, die Kulturstufe bleibe unberührt, während das Blut der höher zimlisirten sich mit denen der niedriger stehenden Nasse mischt, und sie wird ihr widersprechen." , Grenzboten IV lM7 in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/491>, abgerufen am 26.06.2024.