Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Anthropologische Fragen

sein, deren furchtbare Nöte eine Auslese der mit den edelsten und höchsten
Geistesanlagen ausgestatteten bewirkt hätten. Nun kann zunächst nichts aus-
gelesen werden, was nicht schon vorhanden ist, es konnte also durch die aus-
lesende Kraft der Eiszeit keine neue Rasse entstehen, sondern bestenfalls eben
nur eine Auslese der besten Exemplare einer schon vorhandnen edel" Rasse.
Dann aber sehen wir ja, was nnter der Einwirkung einer Eiszeit entsteht:
die Eskimos, die Samojeden, die Tungusen leben noch heute in der Eiszeit;
diese liest gar nichts ans, sondern verkümmert alle Menschen gleichmäßig, ob¬
wohl sich die Eskimos eines großen Schatzes von natürlicher Spannkraft er¬
freuen, mit der sie der Verkümmerung Widerstand zu leisten und sich einen
bei den Naturvölkern seltnen Grad von Kultur zu bewahren vermocht haben.
Übrigens sind es nicht eben Herrentugenden, die sich bei ihnen entwickelt haben.
Ehrlich, gutmütig und harmlos nennt sie Ratzel. Mutig und ritterlich, sogar
hart und grausam sollen allerdings diese Völker der Eisregion daneben auch
sein, aber den Eindruck von Herrenvölkern machen sie trotzdem nicht, wie sie
auch keine geworden sind. Namentlich die strenge Einehe der Arier soll nach
Ammon der Eiszeit zu verdenken sein. Nun leben die Hyperboreer allerdings
monogam, wie die meisten armen Völker, aber ihre Monogamie bedeutet
keineswegs Keuschheit und eheliche Treue. Ausschweifende Genußsucht gehört
uach Ratzel zu den hervorstechenden Charaktcrzügen der Bewohner der Polar¬
zone.Polygamie ist nur möglich, wo entweder ein kriegerisches Volk
häusig schwächere Nachbarn überfällt, die Männer niedermetzelt und die
Weiber raubt, oder wo bei bedeutenden Vermögensunterschieden die Reichen
in der Lage sind, Weiber des eignen Volks zu kaufen, also auf höhern
Kulturstufen, weshalb, nebenbei gesagt, die Polygamie nicht Durchgangsstufe
zur Monogamie gewesen sein kann. Als die arischen Perser, die bis dahin
einfach gelebt hatten, die Euphratlander unterjocht hatten, nahmen sie die
Sitten der unterworfneu Meder und Babylonier an und darunter auch die
Polygamie. (Bei dieser Gelegenheit eine Frage an die Fachgelehrten: ist
"Arier" ein ethnologisch streng umschriebner Begriff?) Kein Gelehrter von
Bedeutung wird wohl heute mehr die längst erkannte Wahrheit leugnen, daß
höhere Kultur, mit der immer auch Veredelung des Leibes verbunden ist, nur
w Gegenden entstehen kann, wo den Menschen das Leben weder zu leicht noch
An schwer" wird, wo die Natur deu Menschen zu energischer Thätigkeit zwingt
und aufmuntert, ohne ihn durch ein Übermaß von Schwierigkeiten zu ent¬
mutigen und zu lahmen. Also das Ziel der Rassenbildung und Umbildung
lst der jedesmalige Zustand jeder einzelnen Generation von Menschen, und
wir dürfen mit dem gegenwärtigen Zustande, vom ethnographischen Stand-



I, 634 und (W. "Liebe, Branntwein und Hasardspiel zerrütten den Hyperboreer.
Bon allen christlichen Lehren haben die von Keuschheit und Ehe bei den bekehrten Samojeden,
Tungusen usw. all wemgsten Einfluß auf die Lebensgewohnheiten geübt."
Anthropologische Fragen

sein, deren furchtbare Nöte eine Auslese der mit den edelsten und höchsten
Geistesanlagen ausgestatteten bewirkt hätten. Nun kann zunächst nichts aus-
gelesen werden, was nicht schon vorhanden ist, es konnte also durch die aus-
lesende Kraft der Eiszeit keine neue Rasse entstehen, sondern bestenfalls eben
nur eine Auslese der besten Exemplare einer schon vorhandnen edel» Rasse.
Dann aber sehen wir ja, was nnter der Einwirkung einer Eiszeit entsteht:
die Eskimos, die Samojeden, die Tungusen leben noch heute in der Eiszeit;
diese liest gar nichts ans, sondern verkümmert alle Menschen gleichmäßig, ob¬
wohl sich die Eskimos eines großen Schatzes von natürlicher Spannkraft er¬
freuen, mit der sie der Verkümmerung Widerstand zu leisten und sich einen
bei den Naturvölkern seltnen Grad von Kultur zu bewahren vermocht haben.
Übrigens sind es nicht eben Herrentugenden, die sich bei ihnen entwickelt haben.
Ehrlich, gutmütig und harmlos nennt sie Ratzel. Mutig und ritterlich, sogar
hart und grausam sollen allerdings diese Völker der Eisregion daneben auch
sein, aber den Eindruck von Herrenvölkern machen sie trotzdem nicht, wie sie
auch keine geworden sind. Namentlich die strenge Einehe der Arier soll nach
Ammon der Eiszeit zu verdenken sein. Nun leben die Hyperboreer allerdings
monogam, wie die meisten armen Völker, aber ihre Monogamie bedeutet
keineswegs Keuschheit und eheliche Treue. Ausschweifende Genußsucht gehört
uach Ratzel zu den hervorstechenden Charaktcrzügen der Bewohner der Polar¬
zone.Polygamie ist nur möglich, wo entweder ein kriegerisches Volk
häusig schwächere Nachbarn überfällt, die Männer niedermetzelt und die
Weiber raubt, oder wo bei bedeutenden Vermögensunterschieden die Reichen
in der Lage sind, Weiber des eignen Volks zu kaufen, also auf höhern
Kulturstufen, weshalb, nebenbei gesagt, die Polygamie nicht Durchgangsstufe
zur Monogamie gewesen sein kann. Als die arischen Perser, die bis dahin
einfach gelebt hatten, die Euphratlander unterjocht hatten, nahmen sie die
Sitten der unterworfneu Meder und Babylonier an und darunter auch die
Polygamie. (Bei dieser Gelegenheit eine Frage an die Fachgelehrten: ist
„Arier" ein ethnologisch streng umschriebner Begriff?) Kein Gelehrter von
Bedeutung wird wohl heute mehr die längst erkannte Wahrheit leugnen, daß
höhere Kultur, mit der immer auch Veredelung des Leibes verbunden ist, nur
w Gegenden entstehen kann, wo den Menschen das Leben weder zu leicht noch
An schwer« wird, wo die Natur deu Menschen zu energischer Thätigkeit zwingt
und aufmuntert, ohne ihn durch ein Übermaß von Schwierigkeiten zu ent¬
mutigen und zu lahmen. Also das Ziel der Rassenbildung und Umbildung
lst der jedesmalige Zustand jeder einzelnen Generation von Menschen, und
wir dürfen mit dem gegenwärtigen Zustande, vom ethnographischen Stand-



I, 634 und (W. „Liebe, Branntwein und Hasardspiel zerrütten den Hyperboreer.
Bon allen christlichen Lehren haben die von Keuschheit und Ehe bei den bekehrten Samojeden,
Tungusen usw. all wemgsten Einfluß auf die Lebensgewohnheiten geübt."
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0489" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226719"/>
          <fw type="header" place="top"> Anthropologische Fragen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1198" prev="#ID_1197" next="#ID_1199"> sein, deren furchtbare Nöte eine Auslese der mit den edelsten und höchsten<lb/>
Geistesanlagen ausgestatteten bewirkt hätten. Nun kann zunächst nichts aus-<lb/>
gelesen werden, was nicht schon vorhanden ist, es konnte also durch die aus-<lb/>
lesende Kraft der Eiszeit keine neue Rasse entstehen, sondern bestenfalls eben<lb/>
nur eine Auslese der besten Exemplare einer schon vorhandnen edel» Rasse.<lb/>
Dann aber sehen wir ja, was nnter der Einwirkung einer Eiszeit entsteht:<lb/>
die Eskimos, die Samojeden, die Tungusen leben noch heute in der Eiszeit;<lb/>
diese liest gar nichts ans, sondern verkümmert alle Menschen gleichmäßig, ob¬<lb/>
wohl sich die Eskimos eines großen Schatzes von natürlicher Spannkraft er¬<lb/>
freuen, mit der sie der Verkümmerung Widerstand zu leisten und sich einen<lb/>
bei den Naturvölkern seltnen Grad von Kultur zu bewahren vermocht haben.<lb/>
Übrigens sind es nicht eben Herrentugenden, die sich bei ihnen entwickelt haben.<lb/>
Ehrlich, gutmütig und harmlos nennt sie Ratzel. Mutig und ritterlich, sogar<lb/>
hart und grausam sollen allerdings diese Völker der Eisregion daneben auch<lb/>
sein, aber den Eindruck von Herrenvölkern machen sie trotzdem nicht, wie sie<lb/>
auch keine geworden sind. Namentlich die strenge Einehe der Arier soll nach<lb/>
Ammon der Eiszeit zu verdenken sein. Nun leben die Hyperboreer allerdings<lb/>
monogam, wie die meisten armen Völker, aber ihre Monogamie bedeutet<lb/>
keineswegs Keuschheit und eheliche Treue. Ausschweifende Genußsucht gehört<lb/>
uach Ratzel zu den hervorstechenden Charaktcrzügen der Bewohner der Polar¬<lb/>
zone.Polygamie ist nur möglich, wo entweder ein kriegerisches Volk<lb/>
häusig schwächere Nachbarn überfällt, die Männer niedermetzelt und die<lb/>
Weiber raubt, oder wo bei bedeutenden Vermögensunterschieden die Reichen<lb/>
in der Lage sind, Weiber des eignen Volks zu kaufen, also auf höhern<lb/>
Kulturstufen, weshalb, nebenbei gesagt, die Polygamie nicht Durchgangsstufe<lb/>
zur Monogamie gewesen sein kann. Als die arischen Perser, die bis dahin<lb/>
einfach gelebt hatten, die Euphratlander unterjocht hatten, nahmen sie die<lb/>
Sitten der unterworfneu Meder und Babylonier an und darunter auch die<lb/>
Polygamie. (Bei dieser Gelegenheit eine Frage an die Fachgelehrten: ist<lb/>
&#x201E;Arier" ein ethnologisch streng umschriebner Begriff?) Kein Gelehrter von<lb/>
Bedeutung wird wohl heute mehr die längst erkannte Wahrheit leugnen, daß<lb/>
höhere Kultur, mit der immer auch Veredelung des Leibes verbunden ist, nur<lb/>
w Gegenden entstehen kann, wo den Menschen das Leben weder zu leicht noch<lb/>
An schwer« wird, wo die Natur deu Menschen zu energischer Thätigkeit zwingt<lb/>
und aufmuntert, ohne ihn durch ein Übermaß von Schwierigkeiten zu ent¬<lb/>
mutigen und zu lahmen. Also das Ziel der Rassenbildung und Umbildung<lb/>
lst der jedesmalige Zustand jeder einzelnen Generation von Menschen, und<lb/>
wir dürfen mit dem gegenwärtigen Zustande, vom ethnographischen Stand-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_60" place="foot"> I, 634 und (W. &#x201E;Liebe, Branntwein und Hasardspiel zerrütten den Hyperboreer.<lb/>
Bon allen christlichen Lehren haben die von Keuschheit und Ehe bei den bekehrten Samojeden,<lb/>
Tungusen usw. all wemgsten Einfluß auf die Lebensgewohnheiten geübt."</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0489] Anthropologische Fragen sein, deren furchtbare Nöte eine Auslese der mit den edelsten und höchsten Geistesanlagen ausgestatteten bewirkt hätten. Nun kann zunächst nichts aus- gelesen werden, was nicht schon vorhanden ist, es konnte also durch die aus- lesende Kraft der Eiszeit keine neue Rasse entstehen, sondern bestenfalls eben nur eine Auslese der besten Exemplare einer schon vorhandnen edel» Rasse. Dann aber sehen wir ja, was nnter der Einwirkung einer Eiszeit entsteht: die Eskimos, die Samojeden, die Tungusen leben noch heute in der Eiszeit; diese liest gar nichts ans, sondern verkümmert alle Menschen gleichmäßig, ob¬ wohl sich die Eskimos eines großen Schatzes von natürlicher Spannkraft er¬ freuen, mit der sie der Verkümmerung Widerstand zu leisten und sich einen bei den Naturvölkern seltnen Grad von Kultur zu bewahren vermocht haben. Übrigens sind es nicht eben Herrentugenden, die sich bei ihnen entwickelt haben. Ehrlich, gutmütig und harmlos nennt sie Ratzel. Mutig und ritterlich, sogar hart und grausam sollen allerdings diese Völker der Eisregion daneben auch sein, aber den Eindruck von Herrenvölkern machen sie trotzdem nicht, wie sie auch keine geworden sind. Namentlich die strenge Einehe der Arier soll nach Ammon der Eiszeit zu verdenken sein. Nun leben die Hyperboreer allerdings monogam, wie die meisten armen Völker, aber ihre Monogamie bedeutet keineswegs Keuschheit und eheliche Treue. Ausschweifende Genußsucht gehört uach Ratzel zu den hervorstechenden Charaktcrzügen der Bewohner der Polar¬ zone.Polygamie ist nur möglich, wo entweder ein kriegerisches Volk häusig schwächere Nachbarn überfällt, die Männer niedermetzelt und die Weiber raubt, oder wo bei bedeutenden Vermögensunterschieden die Reichen in der Lage sind, Weiber des eignen Volks zu kaufen, also auf höhern Kulturstufen, weshalb, nebenbei gesagt, die Polygamie nicht Durchgangsstufe zur Monogamie gewesen sein kann. Als die arischen Perser, die bis dahin einfach gelebt hatten, die Euphratlander unterjocht hatten, nahmen sie die Sitten der unterworfneu Meder und Babylonier an und darunter auch die Polygamie. (Bei dieser Gelegenheit eine Frage an die Fachgelehrten: ist „Arier" ein ethnologisch streng umschriebner Begriff?) Kein Gelehrter von Bedeutung wird wohl heute mehr die längst erkannte Wahrheit leugnen, daß höhere Kultur, mit der immer auch Veredelung des Leibes verbunden ist, nur w Gegenden entstehen kann, wo den Menschen das Leben weder zu leicht noch An schwer« wird, wo die Natur deu Menschen zu energischer Thätigkeit zwingt und aufmuntert, ohne ihn durch ein Übermaß von Schwierigkeiten zu ent¬ mutigen und zu lahmen. Also das Ziel der Rassenbildung und Umbildung lst der jedesmalige Zustand jeder einzelnen Generation von Menschen, und wir dürfen mit dem gegenwärtigen Zustande, vom ethnographischen Stand- I, 634 und (W. „Liebe, Branntwein und Hasardspiel zerrütten den Hyperboreer. Bon allen christlichen Lehren haben die von Keuschheit und Ehe bei den bekehrten Samojeden, Tungusen usw. all wemgsten Einfluß auf die Lebensgewohnheiten geübt."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/489
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/489>, abgerufen am 26.06.2024.