Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Anthropologische Fragen Also die zweite Frage, wie Rassen und Völker entstehen, läßt sich be¬ Anthropologische Fragen Also die zweite Frage, wie Rassen und Völker entstehen, läßt sich be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0488" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226718"/> <fw type="header" place="top"> Anthropologische Fragen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1197" next="#ID_1198"> Also die zweite Frage, wie Rassen und Völker entstehen, läßt sich be¬<lb/> antworten; sehen wir doch heute vor unsern Augen, in Nordamerika, ein neues<lb/> Volk entstehen, das sich von seinen englischen und deutschen Stammvätern<lb/> durch körperliche und geistige Eigentümlichkeiten deutlich unterscheidet. Bei der<lb/> dritten Frage, welches das Ziel der Entwicklung sei, bleibt die Wissenschaft<lb/> wieder auf Vermutungen angewiesen. Wir unserseits vermuten, daß das Ziel<lb/> gar nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart jedes einzelnen Geschlechts,<lb/> jedes einzelnen Menschen liegt. Jeder einzelne lebt, um seine eigentümlichen<lb/> Anlagen zu entfalten und seines Lebens froh zu werdeu, und da menschliches<lb/> Leben nur in der Wechselwirkung von Menschen möglich ist, so lebt jeder zu¬<lb/> gleich auch, um den andern Menschen menschliches Leben zu ermöglichen.<lb/> Volkstum ist eine der Formen, in denen sich die Fülle der menschlichen An¬<lb/> lagen entfaltet und geordnetes Zusammenwirken von Menschen möglich wird,<lb/> daher müssen im Laufe der Geschichte durch Zerstreuung und Wiedervereinigung<lb/> in mannichfachen Mischungen, durch Wechsel des Wohnplatzes und der Lebens¬<lb/> bedingungen nach und nach alle Nationalitäten hervorgetrieben werden, die in der<lb/> Gesamtanlage der Menschheit enthalten sind; und damit die spätern entstehen<lb/> können, müssen die frühern vergehen. In den Aufsätzen über Vererbung haben<lb/> wir bemerkt, die Entstehung neuer Arten aus alten durch Variabilität und<lb/> Vererbung sei nur denkbar, wenn eine zwecksetzende Intelligenz den Entwick¬<lb/> lungsprozeß leite, und diese Leitung müsse unter anderen auch dafür sorgen,<lb/> daß abwechselnd die eine und die andre von jenen beiden merkwürdigen Fähig¬<lb/> keiten der organischen Wesen überwiege. Soll eine neue Varietät entstehen,<lb/> so muß eben die Anpassungsfähigkeit überwiegen. Ist der neue Typus fertig,<lb/> so muß er ein Dauertypus sein und als solcher den auf ihn einstürmenden<lb/> Einflüssen einen gewissen Widerstand entgegensetzen. Keinen unbegrenzten,<lb/> denn abgesehen von Naturgewalten, die stark genug sind, ein ganzes Geschlecht<lb/> zu vernichten, ist auch der festeste Dauertypus nicht ganz unveränderlich, wird<lb/> z. B. auch der Weißeste Germane mit der Zeit braun, wenn seine Haut uur<lb/> lange genug heißen Sonnenstrahlen ausgesetzt ist. Der Dauertypus wird nun<lb/> seinerseits zu einem Element neuer Bildungen, indem er bei Vermischung mit<lb/> andern Typen neue Varietäten erzeugt. Selbstverständlich wirken bei alledem<lb/> auch Ausleseprozesse der mannichfachsten Art mit. Aber geradezu komisch ist<lb/> es, wie Ammon überall da, wo er auf abändernde Einflüsse zu sprechen kommt,<lb/> die Veränderung nicht eben unmittelbar auf den Einfluß, sondern auf die<lb/> unter seiner Mitwirkung zu stände kommende Auslese zurückführt. Wenn die<lb/> mongolischen Reitervvlker kurze Beine haben, so kommt das nicht etwa daher,<lb/> daß Leute, die den ganzen Tag auf dem Pferde zubringen, ihre Beine wenig<lb/> zum Gehen brauchen, und daß Glieder, die wenig gebraucht werden, mit der<lb/> Zeit verkümmern, sondern von einer Auslese der Angepaßtesten, d. h. in diesem<lb/> Falle der Kurzbeinigen. Und die arische Rasse soll ein Produkt der Eiszeit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0488]
Anthropologische Fragen
Also die zweite Frage, wie Rassen und Völker entstehen, läßt sich be¬
antworten; sehen wir doch heute vor unsern Augen, in Nordamerika, ein neues
Volk entstehen, das sich von seinen englischen und deutschen Stammvätern
durch körperliche und geistige Eigentümlichkeiten deutlich unterscheidet. Bei der
dritten Frage, welches das Ziel der Entwicklung sei, bleibt die Wissenschaft
wieder auf Vermutungen angewiesen. Wir unserseits vermuten, daß das Ziel
gar nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart jedes einzelnen Geschlechts,
jedes einzelnen Menschen liegt. Jeder einzelne lebt, um seine eigentümlichen
Anlagen zu entfalten und seines Lebens froh zu werdeu, und da menschliches
Leben nur in der Wechselwirkung von Menschen möglich ist, so lebt jeder zu¬
gleich auch, um den andern Menschen menschliches Leben zu ermöglichen.
Volkstum ist eine der Formen, in denen sich die Fülle der menschlichen An¬
lagen entfaltet und geordnetes Zusammenwirken von Menschen möglich wird,
daher müssen im Laufe der Geschichte durch Zerstreuung und Wiedervereinigung
in mannichfachen Mischungen, durch Wechsel des Wohnplatzes und der Lebens¬
bedingungen nach und nach alle Nationalitäten hervorgetrieben werden, die in der
Gesamtanlage der Menschheit enthalten sind; und damit die spätern entstehen
können, müssen die frühern vergehen. In den Aufsätzen über Vererbung haben
wir bemerkt, die Entstehung neuer Arten aus alten durch Variabilität und
Vererbung sei nur denkbar, wenn eine zwecksetzende Intelligenz den Entwick¬
lungsprozeß leite, und diese Leitung müsse unter anderen auch dafür sorgen,
daß abwechselnd die eine und die andre von jenen beiden merkwürdigen Fähig¬
keiten der organischen Wesen überwiege. Soll eine neue Varietät entstehen,
so muß eben die Anpassungsfähigkeit überwiegen. Ist der neue Typus fertig,
so muß er ein Dauertypus sein und als solcher den auf ihn einstürmenden
Einflüssen einen gewissen Widerstand entgegensetzen. Keinen unbegrenzten,
denn abgesehen von Naturgewalten, die stark genug sind, ein ganzes Geschlecht
zu vernichten, ist auch der festeste Dauertypus nicht ganz unveränderlich, wird
z. B. auch der Weißeste Germane mit der Zeit braun, wenn seine Haut uur
lange genug heißen Sonnenstrahlen ausgesetzt ist. Der Dauertypus wird nun
seinerseits zu einem Element neuer Bildungen, indem er bei Vermischung mit
andern Typen neue Varietäten erzeugt. Selbstverständlich wirken bei alledem
auch Ausleseprozesse der mannichfachsten Art mit. Aber geradezu komisch ist
es, wie Ammon überall da, wo er auf abändernde Einflüsse zu sprechen kommt,
die Veränderung nicht eben unmittelbar auf den Einfluß, sondern auf die
unter seiner Mitwirkung zu stände kommende Auslese zurückführt. Wenn die
mongolischen Reitervvlker kurze Beine haben, so kommt das nicht etwa daher,
daß Leute, die den ganzen Tag auf dem Pferde zubringen, ihre Beine wenig
zum Gehen brauchen, und daß Glieder, die wenig gebraucht werden, mit der
Zeit verkümmern, sondern von einer Auslese der Angepaßtesten, d. h. in diesem
Falle der Kurzbeinigen. Und die arische Rasse soll ein Produkt der Eiszeit
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