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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

Menschen von reichem geistigem Inhalt. Deshalb finden wir auch den schönen
Gesichtsschnitt, durch den sich einige Völker, wie die Italiener, auszeichnen,
mehr beim Volke") als bei den Vornehmen. Bei diesen werden die einfachen
Linien des typischen Schnitts durch die geistige Bewegung durchbrochen, und
an die Stelle der klassischen Schönheit tritt die charakteristische. In der so
erzeugten großen Verschiedenheit liegt aber zugleich eine Übereinstimmung.
Eine Sammlung von Porträts hoher Staatsmänner oder großer Gelehrten
und Künstler aus allen europäischen Ländern überzeugt uns, daß keiner der
Männer ein nationales Gepräge trägt, während alle sofort als Kulturmenschen
erkennbar sind. Sie sind allesamt Kaukasier, d. h. sie sind weder schwarz noch
mit Prognathie behaftet und erscheinen als individuell verschiedne Exemplare
der Spezies Iiowv lZurc>x"en8. Schopenhauer hat daher einmal bemerkt, die
Vornehmen gehörten gar nicht zum Volke, denn sie wären in der ganzen Welt
einander gleich. Allerdings unterliegt man bei oberflächlicher Betrachtung
mancherlei Täuschungen. Das Nationalkostüm läßt den Volkstypus schärfer
hervortreten, und sollte dieses überall schwinden und der modern europäischen
Tracht weichen, so würde es in vielen Gegenden schwierig werden, den Volks-
typns herauszufinden. Auch der Bartschnitt führt irre. Man kleide alle
deutschen und französischen Männer gleich und lasse sie gleiche Bärte tragen,
entweder lauter Vollbärte oder lauter Henri "M-M-ö, und dann suche man die
Nationalität jedes einzelnen festzustellen! Bei solchen sehr großen und starken
Leuten, die zugleich blond und blauäugig sind, wird man nicht fehl gehen,
wenn man sie als Deutsche bezeichnet, aber bei der großen Mehrzahl wird
man falsch raten oder ratlos dastehen.

Also das materielle und geistige Milieu verändert den Einzelnen und
daher auch ein ganzes Volk, das ja nur aus vielen Einzelnen besteht, und
aus Veränderungen des Milieu ist die Entstehung der Rassen und Völker
zu erklären. Soweit das Milieu aus Beschäftigung, Ernährung, geographischer
Lage und Kultur besteht, ist uns seine Wirkungsweise durchsichtig. Vor der
Hand uoch unerforscht ist ein andrer Bestandteil des Milieu, der gerade die
auffälligsten Rassenunterschiede hervorzubringen scheint, die chemische Einwirkung
von Luft und Boden. Daß eine solche stattfindet, kann niemand leugnen, der
erwägt, welchen Einfluß diese beiden Kräfte auf die Farbe der Blumen, auf
den Geschmack des Weines, auf die Größe, Gestalt und Behaarung der Tiere
üben. So gut das eine Land die Haustiere hochbeinig, das andre sie lang¬
gestreckt, ein drittes sie klein und ruppig macht, so gut muß das Land aus
die Größe, die Haut- und Haarfarbe des Menschen Einfluß haben. Daß in
manchen Gebirgsgegenden die Kretins und die Kröpfe häufig sind, weiß jeder¬
mann; warum sollten Luft, chemische Zusammensetzung des Bodens und die



*) Soweit dieses nicht im Elend entartet.
Anthropologische Fragen

Menschen von reichem geistigem Inhalt. Deshalb finden wir auch den schönen
Gesichtsschnitt, durch den sich einige Völker, wie die Italiener, auszeichnen,
mehr beim Volke") als bei den Vornehmen. Bei diesen werden die einfachen
Linien des typischen Schnitts durch die geistige Bewegung durchbrochen, und
an die Stelle der klassischen Schönheit tritt die charakteristische. In der so
erzeugten großen Verschiedenheit liegt aber zugleich eine Übereinstimmung.
Eine Sammlung von Porträts hoher Staatsmänner oder großer Gelehrten
und Künstler aus allen europäischen Ländern überzeugt uns, daß keiner der
Männer ein nationales Gepräge trägt, während alle sofort als Kulturmenschen
erkennbar sind. Sie sind allesamt Kaukasier, d. h. sie sind weder schwarz noch
mit Prognathie behaftet und erscheinen als individuell verschiedne Exemplare
der Spezies Iiowv lZurc>x»en8. Schopenhauer hat daher einmal bemerkt, die
Vornehmen gehörten gar nicht zum Volke, denn sie wären in der ganzen Welt
einander gleich. Allerdings unterliegt man bei oberflächlicher Betrachtung
mancherlei Täuschungen. Das Nationalkostüm läßt den Volkstypus schärfer
hervortreten, und sollte dieses überall schwinden und der modern europäischen
Tracht weichen, so würde es in vielen Gegenden schwierig werden, den Volks-
typns herauszufinden. Auch der Bartschnitt führt irre. Man kleide alle
deutschen und französischen Männer gleich und lasse sie gleiche Bärte tragen,
entweder lauter Vollbärte oder lauter Henri «M-M-ö, und dann suche man die
Nationalität jedes einzelnen festzustellen! Bei solchen sehr großen und starken
Leuten, die zugleich blond und blauäugig sind, wird man nicht fehl gehen,
wenn man sie als Deutsche bezeichnet, aber bei der großen Mehrzahl wird
man falsch raten oder ratlos dastehen.

Also das materielle und geistige Milieu verändert den Einzelnen und
daher auch ein ganzes Volk, das ja nur aus vielen Einzelnen besteht, und
aus Veränderungen des Milieu ist die Entstehung der Rassen und Völker
zu erklären. Soweit das Milieu aus Beschäftigung, Ernährung, geographischer
Lage und Kultur besteht, ist uns seine Wirkungsweise durchsichtig. Vor der
Hand uoch unerforscht ist ein andrer Bestandteil des Milieu, der gerade die
auffälligsten Rassenunterschiede hervorzubringen scheint, die chemische Einwirkung
von Luft und Boden. Daß eine solche stattfindet, kann niemand leugnen, der
erwägt, welchen Einfluß diese beiden Kräfte auf die Farbe der Blumen, auf
den Geschmack des Weines, auf die Größe, Gestalt und Behaarung der Tiere
üben. So gut das eine Land die Haustiere hochbeinig, das andre sie lang¬
gestreckt, ein drittes sie klein und ruppig macht, so gut muß das Land aus
die Größe, die Haut- und Haarfarbe des Menschen Einfluß haben. Daß in
manchen Gebirgsgegenden die Kretins und die Kröpfe häufig sind, weiß jeder¬
mann; warum sollten Luft, chemische Zusammensetzung des Bodens und die



*) Soweit dieses nicht im Elend entartet.
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[0486] Anthropologische Fragen Menschen von reichem geistigem Inhalt. Deshalb finden wir auch den schönen Gesichtsschnitt, durch den sich einige Völker, wie die Italiener, auszeichnen, mehr beim Volke") als bei den Vornehmen. Bei diesen werden die einfachen Linien des typischen Schnitts durch die geistige Bewegung durchbrochen, und an die Stelle der klassischen Schönheit tritt die charakteristische. In der so erzeugten großen Verschiedenheit liegt aber zugleich eine Übereinstimmung. Eine Sammlung von Porträts hoher Staatsmänner oder großer Gelehrten und Künstler aus allen europäischen Ländern überzeugt uns, daß keiner der Männer ein nationales Gepräge trägt, während alle sofort als Kulturmenschen erkennbar sind. Sie sind allesamt Kaukasier, d. h. sie sind weder schwarz noch mit Prognathie behaftet und erscheinen als individuell verschiedne Exemplare der Spezies Iiowv lZurc>x»en8. Schopenhauer hat daher einmal bemerkt, die Vornehmen gehörten gar nicht zum Volke, denn sie wären in der ganzen Welt einander gleich. Allerdings unterliegt man bei oberflächlicher Betrachtung mancherlei Täuschungen. Das Nationalkostüm läßt den Volkstypus schärfer hervortreten, und sollte dieses überall schwinden und der modern europäischen Tracht weichen, so würde es in vielen Gegenden schwierig werden, den Volks- typns herauszufinden. Auch der Bartschnitt führt irre. Man kleide alle deutschen und französischen Männer gleich und lasse sie gleiche Bärte tragen, entweder lauter Vollbärte oder lauter Henri «M-M-ö, und dann suche man die Nationalität jedes einzelnen festzustellen! Bei solchen sehr großen und starken Leuten, die zugleich blond und blauäugig sind, wird man nicht fehl gehen, wenn man sie als Deutsche bezeichnet, aber bei der großen Mehrzahl wird man falsch raten oder ratlos dastehen. Also das materielle und geistige Milieu verändert den Einzelnen und daher auch ein ganzes Volk, das ja nur aus vielen Einzelnen besteht, und aus Veränderungen des Milieu ist die Entstehung der Rassen und Völker zu erklären. Soweit das Milieu aus Beschäftigung, Ernährung, geographischer Lage und Kultur besteht, ist uns seine Wirkungsweise durchsichtig. Vor der Hand uoch unerforscht ist ein andrer Bestandteil des Milieu, der gerade die auffälligsten Rassenunterschiede hervorzubringen scheint, die chemische Einwirkung von Luft und Boden. Daß eine solche stattfindet, kann niemand leugnen, der erwägt, welchen Einfluß diese beiden Kräfte auf die Farbe der Blumen, auf den Geschmack des Weines, auf die Größe, Gestalt und Behaarung der Tiere üben. So gut das eine Land die Haustiere hochbeinig, das andre sie lang¬ gestreckt, ein drittes sie klein und ruppig macht, so gut muß das Land aus die Größe, die Haut- und Haarfarbe des Menschen Einfluß haben. Daß in manchen Gebirgsgegenden die Kretins und die Kröpfe häufig sind, weiß jeder¬ mann; warum sollten Luft, chemische Zusammensetzung des Bodens und die *) Soweit dieses nicht im Elend entartet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/486>, abgerufen am 26.06.2024.