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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

macht, und in solcher Armut muß der Geist einer Verödung verfallen, die sich
am Leibe zunächst durch den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck bemerkbar macht.
Vereinzelung hat also notwendig Entartung zur Folge. Es komme" dann
noch die Wehrlosigkeit des ungebildeten Menschen gegen die feindlichen Natur-
gewalten und die Unbändigkeit der durch keine ausgebildete Vernunft gezügelten
Naturtriebe hinzu, um durch Entbehrungen und Ausschweifungen auch den
Leib in die Verderbnis hineinzuziehen. Übrigens kann man häufig bemerken,
daß sich Völker und Stämme von edlerer Geistesanlage auch durch edlere
Gestalt auszeichnen, während die niedriger stehenden plumpere oder unharmo¬
nische Formen zeigen, sodaß es scheint, als ob der Geist nicht allein das
Antlitz und den Schädel, sondern das ganze Skelett baute. Ratzel findet,
Apollvgestalten kämen nur bei Kulturvölkern, nicht bei Naturvölkern vor.

Also die äußern Einflüsse sind es, die nicht bloß aus den einzelnen
Menschen, sondern anch aus deu Völkern das gemacht haben, was sie jetzt
sind. Deshalb ist, wie schon bemerkt wurde, aus dem niedrigen Kulturstande
eines Volks nicht ohne weiteres auf schlechte Naturanlage zu schließen, seine
Vorfahren können hoch begabt gewesen sein; den Nachkommen ist nur dasselbe
begegnet, was bei uns manchmal auch einem hochbegabten Geistlichen oder
Arzte begegnet, der, ans ein Hinterdorf verschlagen, dort verbauert. Jetzt,
im Zeitalter der Eisenbahn und des Telegraphen, der wohlfeilen Zeitungen
und Zeitschriften und des Touristenverkehrs, kann das freilich nicht mehr so
leicht vorkommen wie noch vor dreißig, vierzig Jahren. Da die Naturvölker
jetzt eben erst in die Kulturentwicklung hineingezogen werden, so kann über
ihre Anlage noch nicht abgesprochen werden. Daß die Negerknaben gut begabt
sind, davon hat sich der deutsche Schulmeister schon überzeugt. Die bekannte
Eigentümlichkeit begabter Farbigen, beim Lernen und Arbeiten nicht auszuhalten
und bei erster bester Gelegenheit zigeunerhaft in die alte Wildheit zurück¬
zuspringen, kann sich mit der Zeit verlieren. Die Germanen sind auch uicht
an einem Tage geduldige Stubenhocker und Aktenschreiber geworden. Unter
den nordamerikanischen Negern giebt es Geistliche und Lehrer, die es mit ihren
weißen Kollegen schon aufnehmen können. Vor etwa zehn Jahren haben wir
einen schwarzen Violinvirtuosen gehört, der die Musikkenncr befriedigte; wer
aber die Stücke unsrer Komponisten mit dem richtigen Ausdruck vortragen
kann, der empfindet wie ein moderner Kulturmensch, ist also selbst einer. Von
der Ansicht, daß alle Schwarzen einander zum Verwechseln ähnlich sähen, ist
man längst zurückgekommen; man weiß heute, daß sie individuell gestaltete
Gesichtszüge, also auch ein individuelles Seelenleben haben. Und was die
Häßlichkeit vieler von ihnen anlangt, so giebt es unter den Europäern genug,
die es darin mit ihnen aufnehmen, und denen zum Neger, Papua oder Feuer¬
länder nur die Farbe fehlt. Aber richtig ist es allerdings, daß geistig wenig
entwickelte Meuschen desselben Stammes einander mehr ähnlich sehen als


Anthropologische Fragen

macht, und in solcher Armut muß der Geist einer Verödung verfallen, die sich
am Leibe zunächst durch den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck bemerkbar macht.
Vereinzelung hat also notwendig Entartung zur Folge. Es komme» dann
noch die Wehrlosigkeit des ungebildeten Menschen gegen die feindlichen Natur-
gewalten und die Unbändigkeit der durch keine ausgebildete Vernunft gezügelten
Naturtriebe hinzu, um durch Entbehrungen und Ausschweifungen auch den
Leib in die Verderbnis hineinzuziehen. Übrigens kann man häufig bemerken,
daß sich Völker und Stämme von edlerer Geistesanlage auch durch edlere
Gestalt auszeichnen, während die niedriger stehenden plumpere oder unharmo¬
nische Formen zeigen, sodaß es scheint, als ob der Geist nicht allein das
Antlitz und den Schädel, sondern das ganze Skelett baute. Ratzel findet,
Apollvgestalten kämen nur bei Kulturvölkern, nicht bei Naturvölkern vor.

Also die äußern Einflüsse sind es, die nicht bloß aus den einzelnen
Menschen, sondern anch aus deu Völkern das gemacht haben, was sie jetzt
sind. Deshalb ist, wie schon bemerkt wurde, aus dem niedrigen Kulturstande
eines Volks nicht ohne weiteres auf schlechte Naturanlage zu schließen, seine
Vorfahren können hoch begabt gewesen sein; den Nachkommen ist nur dasselbe
begegnet, was bei uns manchmal auch einem hochbegabten Geistlichen oder
Arzte begegnet, der, ans ein Hinterdorf verschlagen, dort verbauert. Jetzt,
im Zeitalter der Eisenbahn und des Telegraphen, der wohlfeilen Zeitungen
und Zeitschriften und des Touristenverkehrs, kann das freilich nicht mehr so
leicht vorkommen wie noch vor dreißig, vierzig Jahren. Da die Naturvölker
jetzt eben erst in die Kulturentwicklung hineingezogen werden, so kann über
ihre Anlage noch nicht abgesprochen werden. Daß die Negerknaben gut begabt
sind, davon hat sich der deutsche Schulmeister schon überzeugt. Die bekannte
Eigentümlichkeit begabter Farbigen, beim Lernen und Arbeiten nicht auszuhalten
und bei erster bester Gelegenheit zigeunerhaft in die alte Wildheit zurück¬
zuspringen, kann sich mit der Zeit verlieren. Die Germanen sind auch uicht
an einem Tage geduldige Stubenhocker und Aktenschreiber geworden. Unter
den nordamerikanischen Negern giebt es Geistliche und Lehrer, die es mit ihren
weißen Kollegen schon aufnehmen können. Vor etwa zehn Jahren haben wir
einen schwarzen Violinvirtuosen gehört, der die Musikkenncr befriedigte; wer
aber die Stücke unsrer Komponisten mit dem richtigen Ausdruck vortragen
kann, der empfindet wie ein moderner Kulturmensch, ist also selbst einer. Von
der Ansicht, daß alle Schwarzen einander zum Verwechseln ähnlich sähen, ist
man längst zurückgekommen; man weiß heute, daß sie individuell gestaltete
Gesichtszüge, also auch ein individuelles Seelenleben haben. Und was die
Häßlichkeit vieler von ihnen anlangt, so giebt es unter den Europäern genug,
die es darin mit ihnen aufnehmen, und denen zum Neger, Papua oder Feuer¬
länder nur die Farbe fehlt. Aber richtig ist es allerdings, daß geistig wenig
entwickelte Meuschen desselben Stammes einander mehr ähnlich sehen als


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[0485] Anthropologische Fragen macht, und in solcher Armut muß der Geist einer Verödung verfallen, die sich am Leibe zunächst durch den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck bemerkbar macht. Vereinzelung hat also notwendig Entartung zur Folge. Es komme» dann noch die Wehrlosigkeit des ungebildeten Menschen gegen die feindlichen Natur- gewalten und die Unbändigkeit der durch keine ausgebildete Vernunft gezügelten Naturtriebe hinzu, um durch Entbehrungen und Ausschweifungen auch den Leib in die Verderbnis hineinzuziehen. Übrigens kann man häufig bemerken, daß sich Völker und Stämme von edlerer Geistesanlage auch durch edlere Gestalt auszeichnen, während die niedriger stehenden plumpere oder unharmo¬ nische Formen zeigen, sodaß es scheint, als ob der Geist nicht allein das Antlitz und den Schädel, sondern das ganze Skelett baute. Ratzel findet, Apollvgestalten kämen nur bei Kulturvölkern, nicht bei Naturvölkern vor. Also die äußern Einflüsse sind es, die nicht bloß aus den einzelnen Menschen, sondern anch aus deu Völkern das gemacht haben, was sie jetzt sind. Deshalb ist, wie schon bemerkt wurde, aus dem niedrigen Kulturstande eines Volks nicht ohne weiteres auf schlechte Naturanlage zu schließen, seine Vorfahren können hoch begabt gewesen sein; den Nachkommen ist nur dasselbe begegnet, was bei uns manchmal auch einem hochbegabten Geistlichen oder Arzte begegnet, der, ans ein Hinterdorf verschlagen, dort verbauert. Jetzt, im Zeitalter der Eisenbahn und des Telegraphen, der wohlfeilen Zeitungen und Zeitschriften und des Touristenverkehrs, kann das freilich nicht mehr so leicht vorkommen wie noch vor dreißig, vierzig Jahren. Da die Naturvölker jetzt eben erst in die Kulturentwicklung hineingezogen werden, so kann über ihre Anlage noch nicht abgesprochen werden. Daß die Negerknaben gut begabt sind, davon hat sich der deutsche Schulmeister schon überzeugt. Die bekannte Eigentümlichkeit begabter Farbigen, beim Lernen und Arbeiten nicht auszuhalten und bei erster bester Gelegenheit zigeunerhaft in die alte Wildheit zurück¬ zuspringen, kann sich mit der Zeit verlieren. Die Germanen sind auch uicht an einem Tage geduldige Stubenhocker und Aktenschreiber geworden. Unter den nordamerikanischen Negern giebt es Geistliche und Lehrer, die es mit ihren weißen Kollegen schon aufnehmen können. Vor etwa zehn Jahren haben wir einen schwarzen Violinvirtuosen gehört, der die Musikkenncr befriedigte; wer aber die Stücke unsrer Komponisten mit dem richtigen Ausdruck vortragen kann, der empfindet wie ein moderner Kulturmensch, ist also selbst einer. Von der Ansicht, daß alle Schwarzen einander zum Verwechseln ähnlich sähen, ist man längst zurückgekommen; man weiß heute, daß sie individuell gestaltete Gesichtszüge, also auch ein individuelles Seelenleben haben. Und was die Häßlichkeit vieler von ihnen anlangt, so giebt es unter den Europäern genug, die es darin mit ihnen aufnehmen, und denen zum Neger, Papua oder Feuer¬ länder nur die Farbe fehlt. Aber richtig ist es allerdings, daß geistig wenig entwickelte Meuschen desselben Stammes einander mehr ähnlich sehen als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/485>, abgerufen am 26.06.2024.