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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

Völker. In Übereinstimmung mit zahlreichen Ethnologen, die das Leben der
Naturvölker beobachtet haben, spricht es Ratzel bei vielen Anlässen aus, daß
auch den am tiefsten stehenden keine wesentliche Geistesanlage fehlt, und daß
ihr tiefer Kulturstand nicht aus einem Mangel von Anlagen, sondern aus be¬
sonders ungünstigen Lebensbedingungen zu erklären ist. So liegt denn die
Versuchung nahe, den gläubigen Christen beizupflichten, die deu Menschen voll¬
kommen erschaffen sein lassen und den Zustand der sogenannten Wilden als
Entartung erklären. So weit zu gehen, verbietet jedoch eine andre Erwägung.
Was wir menschliche Vollkommenheit nennen, das setzt ein reiches Geistesleben
voraus (wie wäre ein geistvolles Gesicht denkbar ohne einen reichen Geist?).
Ein reiches Geistesleben aber ist nur in einer zivilisirten Gesellschaft möglich,
also in einer Gesellschaft, die schon eine längere Geschichte hinter sich hat.
Daher kann ein vollkommner Mensch am Anfang der Geschichte, noch dazu
als einziges Wesen seiner Art oder höchstens als ein einzelnes Menschenpaar
nicht gedacht werden. Man kann daher das christliche Dogma vom Urzustande
nur als Symbol der Thatsache gelten lassen, daß allerdings der Jdealmensch
insofern der Urmensch war, als er in der Idee Gottes vorhanden sein mußte,
ehe er auf Erden verwirklicht werden konnte. Das wären die beiden Grenzen,
Als dritte wäre dann vielleicht noch zu bezeichnen, daß jede Hypothese abzu¬
weisen ist, die die Einheit des Menschengeschlechts leugnet. Mit der Aner¬
kennung der Einheit ist nicht gesagt, daß alle Menschen unbedingt von einem
einzigen Paare abstammen müssen, sondern nur, daß auch der dümmste Feuer¬
länder so unzweifelhaft ein Mensch ist, wie das Pony unzweifelhaft ein Pferd
ist. Wie Ammon darüber denkt, sagt er nicht; die Tiefe der Kluft, die er sich
zwischen den weißen Langschädeln und den schwarzen Rundschädeln, zwischen
den europäischen Ariern und den asiatischen Turaniern denkt, läßt vermuten,
daß er dazu neigt, die zwei*) Urrassen auf verschiedne Anfänge zurückzuführen.
Doch scheint die Zeit vorüber zu sein, wo es zur wissenschaftlichen Ortho¬
doxie gehörte, die Menschenrassen sür gruudverschiedne Gattungen von Tieren
zu erklären; damals verspottete Heinrich Reusch die dahin abzielenden Beweis¬
führungen mit der Bemerkung: Herr Vogt erkennt die Schwarzen nicht als
seine Brüder an, nicht aus Haß gegen die Schwarzen, sondern nur aus Haß
gegen die Bibel; dafür erkennt er die Affen als seine Brüder an, nicht aus
Liebe zu den Affen, sondern wiederum nur aus Haß gegen die Bibel.

Die zweite Frage ist durchaus nicht so unlösbar wie die erste, denn wir
sehen bestündig neue Variationen des Menschengeschlechts entstehen, und wir
vermögen in den meisten Fällen die Ursachen der Abänderungen wenigstens
zum Teil zu erkennen. Selbstverständlich sind es die Lebensverhältnisse, was



Oder dre^ denn er findet in Baden Spuren, wenn auch nur schwache, einer dritten,
der "Mittelmeerrnssc," die "mittelgroß, braun und lanaköpfia, gewesen sein soll."
Anthropologische Fragen

Völker. In Übereinstimmung mit zahlreichen Ethnologen, die das Leben der
Naturvölker beobachtet haben, spricht es Ratzel bei vielen Anlässen aus, daß
auch den am tiefsten stehenden keine wesentliche Geistesanlage fehlt, und daß
ihr tiefer Kulturstand nicht aus einem Mangel von Anlagen, sondern aus be¬
sonders ungünstigen Lebensbedingungen zu erklären ist. So liegt denn die
Versuchung nahe, den gläubigen Christen beizupflichten, die deu Menschen voll¬
kommen erschaffen sein lassen und den Zustand der sogenannten Wilden als
Entartung erklären. So weit zu gehen, verbietet jedoch eine andre Erwägung.
Was wir menschliche Vollkommenheit nennen, das setzt ein reiches Geistesleben
voraus (wie wäre ein geistvolles Gesicht denkbar ohne einen reichen Geist?).
Ein reiches Geistesleben aber ist nur in einer zivilisirten Gesellschaft möglich,
also in einer Gesellschaft, die schon eine längere Geschichte hinter sich hat.
Daher kann ein vollkommner Mensch am Anfang der Geschichte, noch dazu
als einziges Wesen seiner Art oder höchstens als ein einzelnes Menschenpaar
nicht gedacht werden. Man kann daher das christliche Dogma vom Urzustande
nur als Symbol der Thatsache gelten lassen, daß allerdings der Jdealmensch
insofern der Urmensch war, als er in der Idee Gottes vorhanden sein mußte,
ehe er auf Erden verwirklicht werden konnte. Das wären die beiden Grenzen,
Als dritte wäre dann vielleicht noch zu bezeichnen, daß jede Hypothese abzu¬
weisen ist, die die Einheit des Menschengeschlechts leugnet. Mit der Aner¬
kennung der Einheit ist nicht gesagt, daß alle Menschen unbedingt von einem
einzigen Paare abstammen müssen, sondern nur, daß auch der dümmste Feuer¬
länder so unzweifelhaft ein Mensch ist, wie das Pony unzweifelhaft ein Pferd
ist. Wie Ammon darüber denkt, sagt er nicht; die Tiefe der Kluft, die er sich
zwischen den weißen Langschädeln und den schwarzen Rundschädeln, zwischen
den europäischen Ariern und den asiatischen Turaniern denkt, läßt vermuten,
daß er dazu neigt, die zwei*) Urrassen auf verschiedne Anfänge zurückzuführen.
Doch scheint die Zeit vorüber zu sein, wo es zur wissenschaftlichen Ortho¬
doxie gehörte, die Menschenrassen sür gruudverschiedne Gattungen von Tieren
zu erklären; damals verspottete Heinrich Reusch die dahin abzielenden Beweis¬
führungen mit der Bemerkung: Herr Vogt erkennt die Schwarzen nicht als
seine Brüder an, nicht aus Haß gegen die Schwarzen, sondern nur aus Haß
gegen die Bibel; dafür erkennt er die Affen als seine Brüder an, nicht aus
Liebe zu den Affen, sondern wiederum nur aus Haß gegen die Bibel.

Die zweite Frage ist durchaus nicht so unlösbar wie die erste, denn wir
sehen bestündig neue Variationen des Menschengeschlechts entstehen, und wir
vermögen in den meisten Fällen die Ursachen der Abänderungen wenigstens
zum Teil zu erkennen. Selbstverständlich sind es die Lebensverhältnisse, was



Oder dre^ denn er findet in Baden Spuren, wenn auch nur schwache, einer dritten,
der „Mittelmeerrnssc," die „mittelgroß, braun und lanaköpfia, gewesen sein soll."
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[0482] Anthropologische Fragen Völker. In Übereinstimmung mit zahlreichen Ethnologen, die das Leben der Naturvölker beobachtet haben, spricht es Ratzel bei vielen Anlässen aus, daß auch den am tiefsten stehenden keine wesentliche Geistesanlage fehlt, und daß ihr tiefer Kulturstand nicht aus einem Mangel von Anlagen, sondern aus be¬ sonders ungünstigen Lebensbedingungen zu erklären ist. So liegt denn die Versuchung nahe, den gläubigen Christen beizupflichten, die deu Menschen voll¬ kommen erschaffen sein lassen und den Zustand der sogenannten Wilden als Entartung erklären. So weit zu gehen, verbietet jedoch eine andre Erwägung. Was wir menschliche Vollkommenheit nennen, das setzt ein reiches Geistesleben voraus (wie wäre ein geistvolles Gesicht denkbar ohne einen reichen Geist?). Ein reiches Geistesleben aber ist nur in einer zivilisirten Gesellschaft möglich, also in einer Gesellschaft, die schon eine längere Geschichte hinter sich hat. Daher kann ein vollkommner Mensch am Anfang der Geschichte, noch dazu als einziges Wesen seiner Art oder höchstens als ein einzelnes Menschenpaar nicht gedacht werden. Man kann daher das christliche Dogma vom Urzustande nur als Symbol der Thatsache gelten lassen, daß allerdings der Jdealmensch insofern der Urmensch war, als er in der Idee Gottes vorhanden sein mußte, ehe er auf Erden verwirklicht werden konnte. Das wären die beiden Grenzen, Als dritte wäre dann vielleicht noch zu bezeichnen, daß jede Hypothese abzu¬ weisen ist, die die Einheit des Menschengeschlechts leugnet. Mit der Aner¬ kennung der Einheit ist nicht gesagt, daß alle Menschen unbedingt von einem einzigen Paare abstammen müssen, sondern nur, daß auch der dümmste Feuer¬ länder so unzweifelhaft ein Mensch ist, wie das Pony unzweifelhaft ein Pferd ist. Wie Ammon darüber denkt, sagt er nicht; die Tiefe der Kluft, die er sich zwischen den weißen Langschädeln und den schwarzen Rundschädeln, zwischen den europäischen Ariern und den asiatischen Turaniern denkt, läßt vermuten, daß er dazu neigt, die zwei*) Urrassen auf verschiedne Anfänge zurückzuführen. Doch scheint die Zeit vorüber zu sein, wo es zur wissenschaftlichen Ortho¬ doxie gehörte, die Menschenrassen sür gruudverschiedne Gattungen von Tieren zu erklären; damals verspottete Heinrich Reusch die dahin abzielenden Beweis¬ führungen mit der Bemerkung: Herr Vogt erkennt die Schwarzen nicht als seine Brüder an, nicht aus Haß gegen die Schwarzen, sondern nur aus Haß gegen die Bibel; dafür erkennt er die Affen als seine Brüder an, nicht aus Liebe zu den Affen, sondern wiederum nur aus Haß gegen die Bibel. Die zweite Frage ist durchaus nicht so unlösbar wie die erste, denn wir sehen bestündig neue Variationen des Menschengeschlechts entstehen, und wir vermögen in den meisten Fällen die Ursachen der Abänderungen wenigstens zum Teil zu erkennen. Selbstverständlich sind es die Lebensverhältnisse, was Oder dre^ denn er findet in Baden Spuren, wenn auch nur schwache, einer dritten, der „Mittelmeerrnssc," die „mittelgroß, braun und lanaköpfia, gewesen sein soll."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/482>, abgerufen am 26.06.2024.