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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Anthropologische Fragen

den einzelnen Menschen ändert, und denken wir uns eine bestimmte Art von
Lebensverhältnissen einige hundert Jahre lang ans ein ganzes Volk einwirkend,
so muß notwendigerweise ein andres Volk daraus entstehen. Mit den Lebens-
verhältnissen meinen wir Klima, geographische Lage des Wohnorts, Nahrung,
Beschäftigung, gesellschaftliche Verhältnisse, Art und Hohe der Kultur. Selbst¬
verständlich verbinden sich mit den Wirkungen dieser Mächte auch die Ver¬
erbung mehr oder weniger beharrlicher Nasseneigenschaftcn und die Mischung
solcher Eigenschaften durch die Heiraten von Individuen verschiedner Ab¬
stammung. Aber die Verschiedenheit der Nasse kann selbst wieder auf keine
andre Weise entstanden sein als durch jahrhundertelange Einwirkung ver¬
schiedner Lebensverhältnisse. Wer Gelegenheit hat, oft Handwerker in größerer
Zahl beifammen zu sehen, der wird bemerken, daß unter den Zimmerleuten
die schlanken, großen, unter den Schmieden die kleinen, breiten Gestalten häufig
sind. Die Schlosser sind durchschnittlich schlanker als die Schmiede, aber
breiter als die Zimmerleute. Das kann nicht daher rühren, daß die Eltern
grundsätzlich den langen Jungen zum Zimmermann und den dicken zum
Schmied in die Lehre gebe", denn nach dem vierzehnten Jahre bereitet das
Wachstum oft noch die größten Überraschungen. Manche sind mit vierzehn
Jahren groß wie die Männer, bleiben aber von da ab stehen; andre sind mit
siebzehn Jahren noch Knirpse und schießen dann plötzlich in die Höhe. Die
cirmern Eltern lassen sich bei der Entscheidung für dieses oder jenes Handwerk
meistens nur durch den Umstand bestimmen, daß gerade bei diesem Meister,
mag es ein Schuster oder ein Schmied sein, eine Lehrlingsstelle offen ist.
Höchstens nehmen sie ans die Kräfte des Sohnes Rücksicht, und oft genug sind
sie unverständig genug, nicht einmal diese Rücksicht zu nehmen, sondern einen
schwächlichen Jungen zum Schlosser zu geben, einen starken zum Nechtsanwcilt
zu schicken, wo er zeitlebens schreiben wird. Wenn der Schmied klein bleibt
und breit wird, so ist der schwere Hammer schuld, den er in der Zeit der
Entwicklung täglich stundenlang zu heben und zu schwingen hat, der das
Knochengerüst zusammendrückt und die Muskeln heraustreibt, und wenn der
Zimmermann schlank wird, so kommt das daher, daß seine Beschäftigung die
Anlage zum Wachstum, die allerdings schon vorhanden sein mußte, auf keine
Weise hindert. Schon die Alten haben solche Unterschiede bemerkt; Hephaistos
hinkt (Schmiede sind häufig lahm), und Regln (Mime) ist ein Zwerg. Behält nun
eine Familie durch mehrere Geschlechter dieselbe Beschäftigung bei, so werden
sich diese Einflüsse summiren und wir werden dort ein Geschlecht hochgewachsener,
hier eines von kleinen aber sehr starken Menschen bekommen. Wenn eine ganze
Bevölkerung auf eine Beschäftigung angewiesen ist, die nur einen geringen
Grad von Knochenfestigkeit und Muskelkraft erfordert, so werden bei ihr diese
beiden Eigenschaften auch nnr in geringem Grade vorhanden sein, in einem
um so geringern, je schlechter zugleich die Ernährung ist. Beschäftigung und


Grenzboten IV 1397 00
Anthropologische Fragen

den einzelnen Menschen ändert, und denken wir uns eine bestimmte Art von
Lebensverhältnissen einige hundert Jahre lang ans ein ganzes Volk einwirkend,
so muß notwendigerweise ein andres Volk daraus entstehen. Mit den Lebens-
verhältnissen meinen wir Klima, geographische Lage des Wohnorts, Nahrung,
Beschäftigung, gesellschaftliche Verhältnisse, Art und Hohe der Kultur. Selbst¬
verständlich verbinden sich mit den Wirkungen dieser Mächte auch die Ver¬
erbung mehr oder weniger beharrlicher Nasseneigenschaftcn und die Mischung
solcher Eigenschaften durch die Heiraten von Individuen verschiedner Ab¬
stammung. Aber die Verschiedenheit der Nasse kann selbst wieder auf keine
andre Weise entstanden sein als durch jahrhundertelange Einwirkung ver¬
schiedner Lebensverhältnisse. Wer Gelegenheit hat, oft Handwerker in größerer
Zahl beifammen zu sehen, der wird bemerken, daß unter den Zimmerleuten
die schlanken, großen, unter den Schmieden die kleinen, breiten Gestalten häufig
sind. Die Schlosser sind durchschnittlich schlanker als die Schmiede, aber
breiter als die Zimmerleute. Das kann nicht daher rühren, daß die Eltern
grundsätzlich den langen Jungen zum Zimmermann und den dicken zum
Schmied in die Lehre gebe», denn nach dem vierzehnten Jahre bereitet das
Wachstum oft noch die größten Überraschungen. Manche sind mit vierzehn
Jahren groß wie die Männer, bleiben aber von da ab stehen; andre sind mit
siebzehn Jahren noch Knirpse und schießen dann plötzlich in die Höhe. Die
cirmern Eltern lassen sich bei der Entscheidung für dieses oder jenes Handwerk
meistens nur durch den Umstand bestimmen, daß gerade bei diesem Meister,
mag es ein Schuster oder ein Schmied sein, eine Lehrlingsstelle offen ist.
Höchstens nehmen sie ans die Kräfte des Sohnes Rücksicht, und oft genug sind
sie unverständig genug, nicht einmal diese Rücksicht zu nehmen, sondern einen
schwächlichen Jungen zum Schlosser zu geben, einen starken zum Nechtsanwcilt
zu schicken, wo er zeitlebens schreiben wird. Wenn der Schmied klein bleibt
und breit wird, so ist der schwere Hammer schuld, den er in der Zeit der
Entwicklung täglich stundenlang zu heben und zu schwingen hat, der das
Knochengerüst zusammendrückt und die Muskeln heraustreibt, und wenn der
Zimmermann schlank wird, so kommt das daher, daß seine Beschäftigung die
Anlage zum Wachstum, die allerdings schon vorhanden sein mußte, auf keine
Weise hindert. Schon die Alten haben solche Unterschiede bemerkt; Hephaistos
hinkt (Schmiede sind häufig lahm), und Regln (Mime) ist ein Zwerg. Behält nun
eine Familie durch mehrere Geschlechter dieselbe Beschäftigung bei, so werden
sich diese Einflüsse summiren und wir werden dort ein Geschlecht hochgewachsener,
hier eines von kleinen aber sehr starken Menschen bekommen. Wenn eine ganze
Bevölkerung auf eine Beschäftigung angewiesen ist, die nur einen geringen
Grad von Knochenfestigkeit und Muskelkraft erfordert, so werden bei ihr diese
beiden Eigenschaften auch nnr in geringem Grade vorhanden sein, in einem
um so geringern, je schlechter zugleich die Ernährung ist. Beschäftigung und


Grenzboten IV 1397 00
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[0483] Anthropologische Fragen den einzelnen Menschen ändert, und denken wir uns eine bestimmte Art von Lebensverhältnissen einige hundert Jahre lang ans ein ganzes Volk einwirkend, so muß notwendigerweise ein andres Volk daraus entstehen. Mit den Lebens- verhältnissen meinen wir Klima, geographische Lage des Wohnorts, Nahrung, Beschäftigung, gesellschaftliche Verhältnisse, Art und Hohe der Kultur. Selbst¬ verständlich verbinden sich mit den Wirkungen dieser Mächte auch die Ver¬ erbung mehr oder weniger beharrlicher Nasseneigenschaftcn und die Mischung solcher Eigenschaften durch die Heiraten von Individuen verschiedner Ab¬ stammung. Aber die Verschiedenheit der Nasse kann selbst wieder auf keine andre Weise entstanden sein als durch jahrhundertelange Einwirkung ver¬ schiedner Lebensverhältnisse. Wer Gelegenheit hat, oft Handwerker in größerer Zahl beifammen zu sehen, der wird bemerken, daß unter den Zimmerleuten die schlanken, großen, unter den Schmieden die kleinen, breiten Gestalten häufig sind. Die Schlosser sind durchschnittlich schlanker als die Schmiede, aber breiter als die Zimmerleute. Das kann nicht daher rühren, daß die Eltern grundsätzlich den langen Jungen zum Zimmermann und den dicken zum Schmied in die Lehre gebe», denn nach dem vierzehnten Jahre bereitet das Wachstum oft noch die größten Überraschungen. Manche sind mit vierzehn Jahren groß wie die Männer, bleiben aber von da ab stehen; andre sind mit siebzehn Jahren noch Knirpse und schießen dann plötzlich in die Höhe. Die cirmern Eltern lassen sich bei der Entscheidung für dieses oder jenes Handwerk meistens nur durch den Umstand bestimmen, daß gerade bei diesem Meister, mag es ein Schuster oder ein Schmied sein, eine Lehrlingsstelle offen ist. Höchstens nehmen sie ans die Kräfte des Sohnes Rücksicht, und oft genug sind sie unverständig genug, nicht einmal diese Rücksicht zu nehmen, sondern einen schwächlichen Jungen zum Schlosser zu geben, einen starken zum Nechtsanwcilt zu schicken, wo er zeitlebens schreiben wird. Wenn der Schmied klein bleibt und breit wird, so ist der schwere Hammer schuld, den er in der Zeit der Entwicklung täglich stundenlang zu heben und zu schwingen hat, der das Knochengerüst zusammendrückt und die Muskeln heraustreibt, und wenn der Zimmermann schlank wird, so kommt das daher, daß seine Beschäftigung die Anlage zum Wachstum, die allerdings schon vorhanden sein mußte, auf keine Weise hindert. Schon die Alten haben solche Unterschiede bemerkt; Hephaistos hinkt (Schmiede sind häufig lahm), und Regln (Mime) ist ein Zwerg. Behält nun eine Familie durch mehrere Geschlechter dieselbe Beschäftigung bei, so werden sich diese Einflüsse summiren und wir werden dort ein Geschlecht hochgewachsener, hier eines von kleinen aber sehr starken Menschen bekommen. Wenn eine ganze Bevölkerung auf eine Beschäftigung angewiesen ist, die nur einen geringen Grad von Knochenfestigkeit und Muskelkraft erfordert, so werden bei ihr diese beiden Eigenschaften auch nnr in geringem Grade vorhanden sein, in einem um so geringern, je schlechter zugleich die Ernährung ist. Beschäftigung und Grenzboten IV 1397 00

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/483>, abgerufen am 26.06.2024.